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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 104

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 70/22, Urteil v. 05.10.2022, HRRS 2023 Nr. 104


BGH 6 StR 70/22 - Urteil vom 5. Oktober 2022 (LG Stendal)

Bandenmäßiges Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Mitglied einer Bande, Bandenabrede: Gesamtwürdigung aller maßgeblichen Umstände); Erweiterte Einziehung von Taterträgen.

§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG; § 30a Abs. 1 BtMG; § 73a Abs. 1 StGB; § 73c StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Ob jemand Mitglied einer Bande ist, bestimmt sich nach der deliktischen Vereinbarung, der sogenannten Bandenabrede, deren Vorliegen aufgrund einer Gesamtwürdigung zu beurteilen ist, bei der alle maßgeblichen Umstände in den Blick zu nehmen und gegeneinander abzuwägen sind. Dem genügt es nicht, wenn wesentliche Indizien unberücksichtigt bleiben, einzelnen Umständen zu Unrecht eine entsprechende Indizwirkung zu- oder aberkannt wird oder einzelne Indizien nur isoliert bewertet werden (st. Rspr.).

Entscheidungstenor

1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Stendal vom 7. September 2021 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben

a) betreffend die Angeklagten R. S. und N. S.

aa) in den Fällen II 1 a) bis d) der Urteilsgründe;

bb) in den jeweiligen Gesamtstrafenaussprüchen;

cc) soweit von einer erweiterten Einziehung von Taterträgen abgesehen worden ist;

b) betreffend den Angeklagten J.

aa) in den Fällen II 1 a) bis c);

bb) im Freispruch zu Fall II 1 d);

cc) im Gesamtstrafenausspruch.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

- Von Rechts wegen -

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten R. S. unter Freisprechung im Übrigen wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen (II 1 a bis d der Urteilsgründe) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt, den Angeklagten N. S. wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen (II 1 a bis d) sowie wegen Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und vier Monaten und den Angeklagten J. unter Freisprechung im Übrigen (II 1 d) wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen (II 1 a bis c) sowie wegen Besitzes von Betäubungsmitteln zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Darüber hinaus hat es gegen die Angeklagten als Gesamtschuldner die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 36.000 Euro angeordnet. Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit ihren jeweils auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revisionen gegen die Nichtannahme bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge aller drei Angeklagten als Mittäter in den Fällen II 1 a) bis d) sowie die unterbliebene Anordnung der erweiterten Einziehung von Taterträgen bei den Angeklagten R. und N. S. Die vom Generalbundesanwalt vertretenen Rechtsmittel haben Erfolg.

I.

1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:

Die Angeklagten R. und N. S. errichteten Ende 2019 im Keller eines zuvor von N. S. als Gaststätte genutzten Gebäudes eine Cannabis-Plantage mit 50 Pflanzen. Mit den Erlösen aus dem Verkauf der Betäubungsmittel wollten sie sich eine laufende Einnahmequelle schaffen. Der Angeklagte J., der sich durch das Verleihen seines - der Zerkleinerung der Blüten und Blätter der Cannabispflanzen dienenden - Grinders und seine Mithilfe am Verkauf der Betäubungsmittel ebenfalls eine laufende Einnahmequelle versprach, vermittelte ihnen einen Abnehmer, der bereit war, Marihuana zum Preis von 4.000 Euro je Kilogramm zu kaufen. Darüber hinaus sollte J. den Transport der Betäubungsmittel zum Abnehmer übernehmen und das Kaufgeld an R. und N. S. überbringen; hierfür sollte er einen Anteil von 25 Prozent des Kaufpreises erhalten. Anfang 2020 ernteten R. und N. S. erstmals die Blüten und Blätter der Pflanzen und zerkleinerten sie mit J. s Grinder. Sodann füllten sie drei Kilogramm Marihuana mit einer Wirkstoffmenge von 169,2 g THC ab. J. brachte diese zu dem von ihm vermittelten Abnehmer, nahm den Kaufpreis (12.000 Euro) entgegen und lieferte ihn bei R. S. ab. Dieser gab J. 3.000 Euro, den Rest behielten R. und N. S. (Fall II 1 a).

Im Anschluss an den ersten Verkauf pflanzten R. und N. S. erneut 50 Pflanzen an und pflegten sie bis zur Erntereife. Im Frühjahr 2020 ernteten sie 3,5 kg Marihuana mit einer Wirkstoffmenge von 197,4 g THC und veräußerten dieses für 4.000 Euro je Kilogramm an den von J. vermittelten Abnehmer. J., der ihnen wiederum seinen Grinder zur Verfügung gestellt und den Transport der Betäubungsmittel sowie des Kaufgelds (14.000 Euro) übernommen hatte, erhielt ein Viertel des Erlöses (Fall II 1 b).

Im August 2020 ernteten R. und N. S. 2,5 kg Marihuana mit einer Wirkstoffmenge von 141 g THC. J. stellte ihnen erneut seinen Grinder zur Verfügung, transportierte das Marihuana zu dem von ihm vermittelten Abnehmer und nahm den Kaufpreis (10.000 Euro) entgegen, von dem er wiederum ein Viertel erhielt (Fall II 1 c).

Anschließend züchteten R. und N. S. 70 Pflanzen und zogen sie bis zu einer Größe von 1,20 bis 1,40 m heran. Kurz vor ihrer Erntereife wurde die Indoor-Plantage entdeckt; die Pflanzen wurden sichergestellt. Der rauchbare Anteil an Blüten und Blättern hatte ein Gewicht von 6,51 kg mit einem Wirkstoffgehalt von 358,2 g THC (Fall II 1 d).

Bei der Durchsuchung des Grundstücks der Angeklagten R. und N. S. wurde in einem Plastikeimer ein Barbetrag von 70.000 Euro vorgefunden. Zudem befanden sich auf dem Grundstück ein Mercedes CLS, ein BMW X5 und ein BMW i8, die in den Jahren 2018 und 2020 von R. S. und dessen Ehefrau gebraucht für insgesamt 102.300 Euro erworben worden waren, wobei jedenfalls der Kaufpreis für den BMW i8 (60.000 Euro) bar bezahlt worden war.

2. Die Strafkammer hat nicht feststellen können, ob sich die drei Angeklagten zu irgendeinem Zeitpunkt zu einer Bande zusammenschlossen und ob der Angeklagte J. auch an der letzten Tat (Fall II 1 d) beteiligt war. Sie hat ebenfalls nicht festzustellen vermocht, dass das sichergestellte Bargeld oder die Kaufpreise für die drei Fahrzeuge aus den verfahrensgegenständlichen Betäubungsmitteltaten oder anderen rechtswidrigen Taten stammten.

II.

1. Die R. und N. S. betreffenden Schuldsprüche in den Fällen II 1 a) bis d), der den Angeklagten J. betreffende Schuldspruch in den Fällen II 1 a) bis c) und der Freispruch des Angeklagten J. im Fall II 1 d) halten sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.

a) Die Erwägungen, mit denen das Landgericht ein bandenmäßiges Handeltreiben der Angeklagten mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (§ 30a Abs. 1 BtMG) verneint hat, begegnen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

aa) Ob jemand Mitglied einer Bande ist, bestimmt sich nach der deliktischen Vereinbarung, der sogenannten Bandenabrede (vgl. BGH, Beschlüsse vom 5. Juni 2019 - 1 StR 223/19 Rn. 3; vom 22. Januar 2019 - 2 StR 212/18 Rn. 21), deren Vorliegen aufgrund einer Gesamtwürdigung zu beurteilen ist, bei der alle maßgeblichen Umstände in den Blick zu nehmen und gegeneinander abzuwägen sind. Dem genügt es nicht, wenn wesentliche Indizien unberücksichtigt bleiben, einzelnen Umständen zu Unrecht eine entsprechende Indizwirkung zu- oder aberkannt wird oder einzelne Indizien nur isoliert bewertet werden (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 22. April 2020 - 1 StR 61/20 Rn. 8; vom 26. September 2013 - 2 StR 256/13 Rn. 8; vom 10. Oktober 2012 - 2 StR 120/12 Rn. 7).

bb) Hieran gemessen erweist sich die vom Landgericht vorgenommene Prüfung einer Bandenabrede zwischen den drei Angeklagten als rechtsfehlerhaft. Sie ist bereits deshalb lückenhaft, weil es an der erforderlichen Gesamtwürdigung fehlt. Die Strafkammer hat im Rahmen ihrer Beweiswürdigung zur Bandenabrede allein darauf abgestellt, N. S. habe angegeben, er habe J. „bei der zweiten oder dritten Ernte“ zum Verkauf des Marihuanas überreden müssen; zudem habe J. seinen Grinder nach jeder Ernte zurückerhalten. Eine Erörterung der für eine Bandenabrede sprechenden Umstände und eine Abwägung mit den hiergegen sprechenden Gesichtspunkten lässt das angefochtene Urteil indes vermissen.

Der Generalbundesanwalt hat hierzu in seiner Antragsschrift zutreffend ausgeführt:

„Die Angeklagten S. hatten zu keinem Zeitpunkt einen eigenen Abnehmer für die Erträge aus ihrer Marihuanaplantage. Sie waren zum Absatz vollständig auf die Kenntnisse des Mitangeklagten J. angewiesen. Dieser erhielt für seine (zwingend notwendigen) Dienste daher auch 25 Prozent der erzielten Erlöse. Vor diesem Hintergrund liegt es auf der Hand, dass die Angeklagten S. auch bei allen folgenden Ernten auf die Hilfe des Mitangeklagten J. angewiesen waren, weil er ihnen den Abnehmer der Betäubungsmittel nach den Feststellungen nicht bekannt gemacht hatte. Angesichts dessen erschließt sich nicht, weshalb die Strafkammer im Rahmen der Beweiswürdigung und rechtlichen Würdigung die Einlassung des Angeklagten N. S., er habe den Angeklagten J. bei der zweiten oder dritten Ernte überreden müssen, die Betäubungsmittel nochmals zu verkaufen, nicht näher gewürdigt hat. Dies gilt umso mehr, als der Angeklagte J. gerade nicht angegeben hat, er sei von den Mitangeklagten bedrängt worden. Angesichts der Wichtigkeit der wesentlichen und notwendigen Mitarbeit des Angeklagten J. für den Betäubungsmittelverkauf war die Frage, ob und wann er den ‚größeren‘ Grinder nach den Ernten zurückerhalten habe, irrelevant und nicht geeignet, bestimmend bei der Würdigung und Prüfung einer möglichen Bandentätigkeit herangezogen zu werden. (…) Die drei Angeklagten standen sich nicht auf Verkäufer- und Erwerberseite selbständig gegenüber, sondern der Angeklagte J. war in den ‚Verkaufsbetrieb‘ der Angeklagten S. als Verkäufer der Betäubungsmittel nach außen hin gleichberechtigt eingebunden. Dass er dabei künftig zur Begehung einer Mehrzahl im Einzelnen noch ungewisser weiterer Absatzdelikte zusammenwirken wollte, wird durch die Überzeugung der Strafkammer zum Willen des Angeklagten, sich durch den Verkauf eine laufende Einnahmequelle zu verschaffen, belegt. Weshalb die Strafkammer zu dieser Feststellung gelangt ist und zugleich einen Bandenzusammenschluss abgelehnt hat, erschließt sich hier nicht. Denn eine Bandenabrede kann auch dadurch zustande kommen, dass sich zwei Personen (hier die S. s) einig sind, künftig im Einzelnen noch ungewisse Straftaten mit zumindest einem dritten Beteiligten (hier dem Mitangeklagten J. als nach außen hin tätiger Verkäufer der Betäubungsmittel) zu begehen, und der von der Absprache informierte Dritte sich dieser Vereinbarung durch schlüssiges Verhalten anschließt (BGH, Urteil vom 23. April 2009 - 3 StR 83/09 Rn. 9 mwN). Nur diese Einordnung des Täterhandelns macht angesichts der Unkenntnis der Angeklagten S. von möglichen Käufern des von ihnen angebauten Marihuanas tatsächlich und rechtlich Sinn und hätte deshalb in einer umfassenden Gesamtwürdigung erörtert werden müssen.“ b) Der Freispruch des Angeklagten J. im Fall II 1 d) unterliegt ebenfalls der Aufhebung. Der Senat kann nicht ausschließen, dass der Strafkammer aufgrund ihrer lückenhaften Prüfung einer Bandenabrede etwaige im Rahmen einer solchen Abrede geleistete Tatbeiträge des Angeklagten J. zu dieser Tat aus dem Blick geraten sind, etwa eine (auch schlüssige) Zusage, für die anstehende Ernte der Cannabispflanzen wiederum seinen Grinder zur Verfügung zu stellen und wie bei den vorangegangenen Taten für den Verkauf und den Transport der Betäubungsmittel Sorge zu tragen.

c) Soweit die Beschwerdeführerin des Weiteren beanstandet, das Landgericht habe den Angeklagten J. zu Unrecht lediglich als Gehilfen und nicht als Mittäter angesehen, kommt es auf diese Frage nicht mehr an, weil der ihn betreffende Schuldspruch in den Fällen II 1 a) bis c) und der Freispruch im Fall II 1 d) bereits wegen der unzureichenden Prüfung einer Bandenabrede keinen Bestand haben. Das neue Tatgericht wird jedoch Gelegenheit haben, eingehender als bislang geschehen und unter Berücksichtigung der diesbezüglichen Erwägungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts zu erörtern, ob J. in einzelnen oder auch sämtlichen Fällen als Mittäter gehandelt hat.

d) Die Aufhebung der Schuldsprüche in den Fällen II 1 a) bis d) zieht den Wegfall der hierfür verhängten Strafen und der Gesamtstrafenaussprüche nach sich.

2. Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet auch die unterbliebene Anordnung der erweiterten Einziehung von Taterträgen (§ 73a Abs. 1 i.V.m. § 73c StGB) gegen die Angeklagten R. und N. S. Das Landgericht hat hierzu lediglich ausgeführt, es habe nicht die hinreichend sichere Überzeugung gewinnen können, dass das sichergestellte Bargeld - über die festgestellten Verkaufserlöse für die ersten drei Taten hinaus - oder das für den Erwerb der Fahrzeuge verwendete Geld aus Straftaten dieser beiden Angeklagten stamme. Eine nachvollziehbare Prüfung, ob die Voraussetzungen für die Anordnung der erweiterten Einziehung von Taterträgen vorliegen, lässt das angefochtene Urteil vermissen.

Hierzu hat der Generalbundeswalt in seiner Antragsschrift das Folgende ausgeführt:

„Die Feststellungen zur Einkommenssituation der Familie S. und der Art und Weise des Betriebs ihrer Gaststätte/Kantine hätten im Rahmen der Ablehnung der erweiterten Einziehung umfassend gewürdigt werden müssen. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Einlassung des Angeklagten R. S., ‚Einkünfte seien nicht vollständig auf Bankkonten eingezahlt worden‘ sowie ‚Das Geld auf dem Boden setze sich aus den restlichen Drogengeldern und Geld aus Lebensversicherungen und Bausparguthaben zusammen‘ und ‚Woher das Geld komme, wolle er nicht sagen‘. Es wird hier als allgemein bekannt vorausgesetzt, dass der Grund für die Nichteinzahlung hoher Bargeldbeträge aus Familienfeiern und Ähnlichem in der Gastronomie durchweg in der Steuerhinterziehung liegt. Das gilt umso mehr, wenn der Betrieb Insolvenz anmelden muss und die Betriebseigentümer gleichwohl ‚in Bargeld schwimmen‘ und nach wie vor in ihrem Eigentum stehende Luxusfahrzeuge besitzen oder erwerben können. Unerklärlich ist auch, weshalb angebliche Bausparguthaben und Lebensversicherungsauszahlungen nicht in die Insolvenzmasse des Einzelunternehmens bzw. des Einzelunternehmers geflossen sind. Einer Aufklärungsrüge insoweit bedurfte es nicht, weil das Landgericht von Amts wegen zur Erläuterung aller vorgenannten Umstände verpflichtet gewesen war. Diese umfassende Gesamterörterung hat es jedoch aus hier nicht erklärbaren Gründen unterlassen. Dass die in § 73a StGB genannten ‚Straftaten‘ mit dem Betäubungsmittelhandel der Angeklagten in Verbindung stehen müssen, setzt das Gesetz gerade nicht voraus.“ Dem schließt sich der Senat an.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 104

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi