hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 336

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 448/22, Beschluss v. 11.01.2023, HRRS 2023 Nr. 336


BGH 6 StR 448/22 - Beschluss vom 11. Januar 2023 (LG Lüneburg)

„Aussage-gegen-Aussage“-Konstellation (Urteilsgründe; lückenhafte Beweiswürdigung: Fehlende Erörterung von Entstehung und Entwicklung der Aussage der Geschädigten); Vergewaltigung.

§ 267 StPO; § 177 Abs. 6 StGB

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 30. Juni 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt und eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Die auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

1. Dem Urteil liegen im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen zugrunde:

a) Der Angeklagte nahm mit der Nebenklägerin Kontakt auf, nachdem sie in einer Kleinanzeige angegeben hatte, 17 Jahre alt zu sein, noch zur Schule zu gehen und sich durch Hilfen im Haushalt etwas hinzuverdienen zu wollen. Er bot ihr an, einen von ihm genutzten Büroraum aufzuräumen, was sie akzeptierte, nachdem er ihr auf Nachfrage ausdrücklich versichert hatte, dass es „wirklich nur ums Aufräumen gehe, nicht um Erotik oder sowas“. Tatsächlich beabsichtigte der Angeklagte, notfalls auch gegen ihren Willen sexuelle Handlungen an ihr vorzunehmen. Nachdem sie die Reinigungsarbeiten beendet hatte, küsste er die Nebenklägerin auf Mund und Bauch, obwohl sie versuchte, ihn wegzustoßen und mehrfach sagte, dass er aufhören solle. Er drängte sie in einen angrenzenden Schlafraum, stieß sie aufs Bett, öffnete ihren BH, massierte ihren Rücken und Po mit Baby-Öl und biss in ihre Brüste. Sie versuchte, ihn abzuhalten, der Angeklagte drückte ihre Hände aber beiseite. Im weiteren Verlauf massierte er ihre Oberschenkel mit dem Baby-Öl. Dann griff er in ihre Unterhose und führte zumindest einen Finger in ihre Vagina ein. Obwohl die Nebenklägerin sagte, dass ihr das wehtue, machte er jedenfalls für einen kurzen Zeitraum weiter. Während des gesamten Geschehens sagte die Nebenklägerin immer wieder, dass er sie in Ruhe lassen solle, und versuchte, sich seinem Zugriff zu entziehen und aufzustehen, was ihr aufgrund der Stärke des Angeklagten aber nicht gelang. Dieser ließ erst von ihr ab, nachdem sie ihm versprochen und aus seiner Sicht überzeugend durch einen Schwur bekräftigt hatte, dass sie am nächsten Tag zu ihm zurückkehren werde und sie die sexuellen Handlungen dann fortsetzen könnten.

b) Der Angeklagte hat die Tat in Abrede gestellt. Er hat zwar eingeräumt, die Nebenklägerin an Schultern, Beinen und Bauch massiert und geküsst zu haben, sie sei damit aber einverstanden gewesen. Die Nebenklägerin habe ihm angeboten, sie zu massieren, weil sie den vereinbarten Monatslohn im Voraus habe erhalten wollen. Mehr sei nicht passiert, insbesondere sei er nicht mit dem Finger in ihre Vagina eingedrungen. Die Feststellungen beruhen auf den entsprechenden Angaben der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung, die das Landgericht insbesondere wegen ihrer Konstanz für glaubhaft erachtet hat.

2. Die dem Schuldspruch zugrundeliegende Beweiswürdigung hält - auch eingedenk des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 6. August 2020 - 1 StR 178/20, NStZ 2021, 184, 185 mwN) - rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Sie wird den besonderen Anforderungen nicht gerecht, die bestehen, wenn das Tatgericht - wie hier - seine den Tatvorwurf tragenden Feststellungen allein auf die Angaben der Geschädigten stützt. In einer solchen Konstellation, in der die Entscheidung im Wesentlichen davon abhängt, ob das Gericht den Angaben des einzigen Belastungszeugen folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, die seine Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (vgl. BGH aaO; zu den Anforderungen im Einzelnen LR/Sander, StPO, 27. Aufl., § 261 Rn. 107; KK-StPO/Tiemann, 9. Aufl., § 261 Rn. 100 ff., 112, jeweils mwN). Insbesondere ist es in solchen Fällen regelmäßig erforderlich, die Entstehung und Entwicklung der betreffenden Aussage im Urteil zu erörtern (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Januar 2018 - 4 StR 284/17, NStZ-RR 2018, 188,189 mwN).

Daran fehlt es hier, so dass sich die Beweiswürdigung insoweit als lückenhaft erweist. Den Urteilsgründen lässt sich nicht entnehmen, wem gegenüber die Nebenklägerin sich wann offenbarte, wie es zur Einleitung des Strafverfahrens kam, ob und gegebenenfalls wie oft sie im Ermittlungsverfahren vernommen wurde und welche Angaben sie bei früheren Vernehmungen machte. Deshalb lässt sich auch nicht überprüfen, ob das Landgericht die Angaben der Nebenklägerin zu Recht als konstant und deshalb als glaubhaft angesehen hat.

3. Im Hinblick auf die neue Verhandlung weist der Senat darauf hin, dass auch die vom Landgericht angenommenen Tatfolgen nicht hinreichend beweiswürdigend belegt sind. Hinsichtlich des im Adhäsionsverfahren geltend gemachten Anspruchs, die Ersatzpflicht des Angeklagten für künftige immaterielle Schäden der Nebenklägerin festzustellen, wird im Falle eines erneuten Schuldspruchs zu beachten sein, dass nach dem Grundsatz der Einheitlichkeit des Schmerzensgeldes für einen entsprechenden Feststellungsausspruch nur Raum ist, wenn der Eintritt weiterer immaterieller Schäden zumindest möglich erscheint (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 2. August 2021 - 1 StR 135/21, NStZ-RR 2021, 347; vom 11. Januar 2022 - 6 StR 573/21 Rn. 11); das wird durch die Urteilsgründe nicht belegt.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 336

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede