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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 409

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 374/22, Urteil v. 08.03.2023, HRRS 2023 Nr. 409


BGH 6 StR 374/22 - Urteil vom 8. März 2023 (LG Magdeburg)

Sexueller Missbrauch von Kindern; schwerer sexueller Missbrauch von Kindern; Lückenhafte Beweiswürdigung (mangelnde Darstellung der Aussagen der Geschädigten); Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (mangelnde Gesamtschau der Beweisergebnisse, Vorliegen mehrerer Beweisanzeichen).

§ 176 StGB; § 176c StGB; § 261 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Liegen mehrere Beweisanzeichen vor, so genügt es nicht, diese jeweils einzeln abzuhandeln. Das einzelne Beweisanzeichen ist vielmehr mit allen anderen Indizien in eine Gesamtwürdigung einzustellen. Auch wenn keine der Indiztatsachen für sich allein zum Nachweis der Täterschaft des Angeklagten ausreichen würde, besteht die Möglichkeit, dass sie in ihrer Gesamtheit dem Tatgericht die entsprechende Überzeugung vermitteln können.

Entscheidungstenor

Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 14. März 2022 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

- Von Rechts wegen -

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit versuchtem sexuellen Missbrauch von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und ihn vom Vorwurf eines schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern freigesprochen. Gegen den Freispruch richten sich die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte, vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft und die auf eine Verfahrensbeanstandung sowie die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Nebenklägerin. Die Rechtsmittel haben jeweils mit der Sachrüge Erfolg.

1. Die zugelassene Anklage legt dem Angeklagten zur Last, am 7. August 2018 die Unterhose der damals 12-jährigen Nebenklägerin - der Tochter seiner Lebensgefährtin - beiseitegeschoben und mit zwei Fingern in der Vagina des Kindes manipuliert zu haben. Dieses Geschehen habe er mit seinem Mobiltelefon gefilmt.

2. Die Strafkammer hat sich nicht davon zu überzeugen vermocht, dass sich das Geschehen wie angeklagt ereignet hat, und den Angeklagten von diesem Tatvorwurf freigesprochen. Seine Einlassung, die auf seinem Mobiltelefon gespeicherten Videos zeigten seine Hand und die Vagina seiner Lebensgefährtin, könne „nicht widerlegt“ werden. Weder durch eine Inaugenscheinnahme der Videos noch aufgrund der Bekundungen der Nebenklägerin noch durch die Angaben der Ermittlungsbeamtin habe sich sicher feststellen lassen, um welche weibliche Person es sich auf den Videos handele.

3. Der Freispruch hat keinen Bestand. Die ihm zugrundeliegende Beweiswürdigung hält - auch eingedenk des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs - rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Sie ist in mehrfacher Hinsicht lückenhaft.

a) Es fehlt bereits an einer ausreichenden Darstellung und Würdigung der Angaben der Nebenklägerin zu diesem Tatvorwurf.

aa) Das Urteil teilt insoweit lediglich mit, die Nebenklägerin habe - nach Inaugenscheinnahme eines Screenshots aus dem Video, das die Manipulation mit zwei Fingern in einer Vagina zeigt - erklärt, dass das Foto sie und die Hand des Angeklagten zeige. Das Landgericht hat hierzu ausgeführt, diese Bekundung der Nebenklägerin sei nicht ausreichend, um die Richtigkeit ihrer Angaben zu belegen; so habe die von der Strafkammer gehörte aussagepsychologische Sachverständige eine Überprüfung der Richtigkeit dieser Aussage der Nebenklägerin für nicht möglich erachtet, weil die Nebenklägerin ihr - der Sachverständigen - gegenüber keine weiteren Angaben zu diesem Geschehen gemacht habe.

bb) Diese Erwägungen erweisen sich als lückenhaft. Es wird schon nicht hinreichend deutlich, was die Nebenklägerin in der Hauptverhandlung oder im Ermittlungsverfahren darüber hinaus zu diesem Anklagevorwurf ausgesagt hat. Insbesondere bleibt unklar, aufgrund welcher Umstände sie sich auf dem Bild wiedererkannte und wie sie sich zu etwaigen Nachfragen verhalten hat.

Des Weiteren erörtert die Jugendkammer nicht, wie sie selbst das Aussageverhalten der Nebenklägerin bewertet hat und warum sie ihr in diesem Punkt nicht glaubt. Eine solche Erörterung drängte sich nicht nur wegen der erheblichen Bedeutung dieser Aussage für einen Tatnachweis auf, sondern auch deshalb, weil das Landgericht im Übrigen keine Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin erkennen lässt; so hat es in der Beweiswürdigung bezüglich der abgeurteilten weiteren Tat - einem sexuellen Missbrauch von Kindern durch die Aufforderung des Angeklagten an die Nebenklägerin, ein Foto ihrer entblößten Vagina anzufertigen und ihm zu schicken - ausdrücklich auch auf die diesbezüglichen Angaben der Nebenklägerin verwiesen.

b) Lückenhaft ist die Beweiswürdigung auch im Hinblick auf die Aussagen der Mutter und der Schwester der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung. Aus dem Urteil geht nicht hervor, ob und mit welchem Inhalt sich die beiden Zeuginnen, die zur Tatzeit mit der Nebenklägerin in häuslicher Gemeinschaft lebten, zu der Tat geäußert haben, die Gegenstand des Freispruchs ist. Insbesondere bleibt unklar, ob durch die Angaben der Mutter der Nebenklägerin die Einlassung des Angeklagten dazu, wessen Geschlechtsorgan auf dem Video abgebildet ist, bestätigt oder widerlegt worden ist.

c) Überdies lässt die Beweiswürdigung des Landgerichts die erforderliche Gesamtschau der Beweisergebnisse vermissen.

aa) Liegen mehrere Beweisanzeichen vor, so genügt es nicht, diese jeweils einzeln abzuhandeln. Das einzelne Beweisanzeichen ist vielmehr mit allen anderen Indizien in eine Gesamtwürdigung einzustellen. Auch wenn keine der Indiztatsachen für sich allein zum Nachweis der Täterschaft des Angeklagten ausreichen würde, besteht die Möglichkeit, dass sie in ihrer Gesamtheit dem Tatgericht die entsprechende Überzeugung vermitteln können (vgl. BGH, Urteile vom 15. Juli 2008 - 1 StR 231/08; vom 30. März 2004 - 1 StR 354/03, NStZ-RR 2004, 238, 239).

bb) Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Ihm ist nicht zu entnehmen, dass die Umstände, die für eine Täterschaft des Angeklagten sprechen, im Zusammenhang gewürdigt worden sind.

Eine solche Gesamtschau fehlt schon für die von der Jugendkammer erwähnten Umstände, namentlich auf den Videos erkennbare Kleidungsstücke, zu denen die Mutter der Nebenklägerin bekundet hat, diese seien von ihren Töchtern getragen worden, zudem die Angabe der Nebenklägerin, sie sei auf dem Video zu sehen, sowie die Aussage der Polizeibeamtin I., es handele sich dort augenscheinlich um ein kindlich-jugendliches Genital, es seien weder Schambehaarung noch ein Leberfleck - wie ihn die Mutter der Nebenklägerin am Bein habe - zu erkennen und auf den Videos abgebildete Gegenstände entsprächen der Einrichtung der von der Familie der Nebenklägerin bewohnten Wohnung.

Hinzu kommt, dass das Landgericht weitere Umstände, die naheliegend in eine Gesamtschau einzubeziehen gewesen wären, außer Betracht gelassen hat. Dies gilt zum einen für die abgeurteilte weitere Tat, aus der ein sexualisiertes Verhalten des Angeklagten gegenüber der Nebenklägerin ersichtlich ist. Zum anderen gilt dies für die im Zusammenhang mit der abgeurteilten Tat mitgeteilten Angaben der Mutter der Nebenklägerin, sie habe damals befürchtet, dass es zwischen dem Angeklagten und ihrer Tochter „eine Liebesbeziehung“ gebe, und das Kind „als Rivalin um die Liebe des Angeklagten betrachtet“.

4. Die Sache bedarf daher im Hinblick auf die Tat, die Gegenstand des Freispruchs ist, neuer tatgerichtlicher Verhandlung und Entscheidung. Eine Aufrechterhaltung von Feststellungen scheidet aus.

Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass es für die Nämlichkeit der Tat (§ 264 StPO) nicht darauf ankommt, ob sich das genaue Datum der Videoaufzeichnung ermitteln lässt, sofern feststeht, dass das Video in jedem Fall vor dem 14. Geburtstag der Nebenklägerin angefertigt wurde. Zudem wird das neue Tatgericht zu beachten haben, dass es einen Rechtsfehler darstellt, wenn an die für eine Verurteilung erforderliche Überzeugung überspannte Anforderungen gestellt werden (vgl. BGH, Urteile vom 11. Januar 2005 - 1 StR 478/04, NStZ-RR 2005, 147, 148; vom 26. Juni 2003 - 1 StR 269/02, NStZ 2004, 35, 36).

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 409

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede