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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 199

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 243/22, Urteil v. 30.11.2022, HRRS 2023 Nr. 199


BGH 6 StR 243/22 - Urteil vom 30. November 2022 (LG Nürnberg-Fürth)

Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (überspannte Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit; Lückenhaftigkeit: Beweiswert einzelner Indizien, Gesamtwürdigung).

§ 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Überzeugung des Tatgerichts von einem bestimmten Sachverhalt erfordert keine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende Gewissheit. Es genügt vielmehr ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige Zweifel nicht aufkommen lässt (st. Rspr.).

2. Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen oder Tatbestandsvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (st. Rspr.).

3. Der Beweiswert einzelner Indizien ergibt sich regelmäßig erst aus dem Zusammenhang mit anderen Indizien, weshalb deren Gesamtwürdigung besonderes Gewicht zukommt.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 9. Dezember 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

- Von Rechts wegen -

Gründe

Die Staatsanwaltschaft legt dem Angeklagten zur Last, die Nebenklägerin im März 2010 nach Deutschland gebracht und sie unter Einsatz körperlicher Gewalt sowie massiver Drohungen gezwungen zu haben, der Prostitution nachzugehen und ihre Einnahmen vollständig an ihn abzugeben. Durch die wiederholte Tatbegehung habe sich der Angeklagte eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle verschafft. Im Anschluss an ihre Flucht nach Rumänien im Jahr 2015 habe er sie durch Drohungen gegen ihre Familie dazu veranlasst, mit ihm nach Deutschland zurückzukehren, erneut die Prostitution auszuüben und weiterhin ihre Einnahmen an ihn abzugeben. Nach dem Ende der Beziehung zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin habe er im September 2018 von ihr mit der Drohung, andernfalls sie und ihre Angehörigen zu töten, die Zahlung einer „Ablösesumme“ verlangt.

Das Landgericht hat den Angeklagten von sämtlichen Anklagevorwürfen freigesprochen. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revision. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts lernten sich der Angeklagte und die Nebenklägerin 2008 in Rumänien kennen. Im Jahr 2009 folgte sie ihm nach Griechenland, wo sie eine Tätigkeit in einem Massagesalon aufnahm. Wegen der dortigen schlechten wirtschaftlichen Lage verließen sie Griechenland und hielten sich ab etwa Ende Januar 2010 in Amsterdam auf. Nachdem der Verdacht der Prostitution und Zuhälterei aufgekommen war, wurde die Nebenklägerin von der Polizei für eine Woche in ein Frauenhaus gebracht. Dort holte der Angeklagte sie im März 2010 ab und fuhr mit ihr nach Nürnberg, wo sie in der Folgezeit in einem „Laufhaus“ als Prostituierte arbeitete. Später setzte sie diese Tätigkeit in verschiedenen weiteren deutschen Städten fort. Im Februar 2015 freundete sie sich mit dem Zeugen E. an, der sie während eines Aufenthalts des Angeklagten in Rumänien in seiner Wohnung aufnahm. Im April 2015 kehrte sie ohne Einflussnahme des Angeklagten in das „Laufhaus“ nach Nürnberg zurück, wo sie bis Mai 2015 die Prostitution ausübte, bevor sie nach Rumänien zurückkehrte. Dort versöhnte sie sich mit dem Angeklagten, einigte sich mit ihm darauf, dass sie künftig nicht mehr als Prostituierte arbeiten werde, und fand eine Anstellung als Verkäuferin. Aus finanziellen Gründen entschloss sie sich jedoch, nach Deutschland zurückzukehren und erneut der Prostitution nachzugehen, zunächst in Saarlouis und später wieder in Nürnberg. Ende März 2016 trennte sich die Nebenklägerin vom Angeklagten, arbeitete jedoch noch bis Dezember 2016 als Prostituierte.

2. Das Landgericht hat sich nicht davon zu überzeugen vermocht, dass der Angeklagte die Nebenklägerin zur Aufnahme oder Fortsetzung der Prostitution gebracht, sie bedroht oder eine räuberische Erpressung zu ihrem Nachteil versucht habe. Die Angaben der Geschädigten seien über den festgestellten Sachverhalt hinaus im Kernbereich meist pauschal und wenig konstant gewesen sowie in Randbereichen zum Teil widersprüchlich. Zwar würden Indizien auf ein „gewalttätiges Klima“ innerhalb der Beziehung hindeuten, und es sei auch davon auszugehen, dass die Nebenklägerin die „Hauptverdienerin“ in der Beziehung gewesen sei. Zum konkreten Tatvorwurf mangele es jedoch an Beweisen. Die Ergebnisse der Telefonüberwachung, die Finanzermittlungen und die Bekundungen weiterer Zeugen hätten einen von dem Angeklagten auf die Nebenklägerin ausgeübten Zwang zur Ausübung der Prostitution oder einen bestimmenden Einfluss auf ihre Tätigkeit oder auf ihre Ausbeutung nicht belegt. Zudem ergäben sich aus ihrem Verhalten Zweifel an der Richtigkeit ihrer Angaben. Trotz Gelegenheiten zur Flucht, zur Anzeige und Hilfestellung Dritter habe sie aus eigenem Antrieb die Prostitution erneut aufgenommen. Ein mögliches Falschbelastungsmotiv sei es, dass sie sich gegenüber ihren Angehörigen für ihre Tätigkeit habe rechtfertigen wollen. Überdies seien Tathandlungen des Menschenhandels bis einschließlich 14. April 2010 aufgrund des erst am 14. April 2020 mit verjährungsunterbrechender Wirkung erlassenen Haftbefehls verjährt; betreffend den Tatvorwurf der ausbeuterischen und dirigistischen Zuhälterei gelte dies für Taten bis zur Trennung der Nebenklägerin vom Angeklagten im März 2015.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet.

Die Beweiswürdigung der Strafkammer hält - auch eingedenk des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 10. November 2021 - 5 StR 127/21) - rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Sie ist in zweifacher Hinsicht rechtsfehlerhaft.

1. Zum einen besorgt der Senat, dass die Strafkammer an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt hat.

a) Nach dem Inhalt der überwachten Telefongespräche im Jahr 2012 äußerte der Angeklagte gegenüber seinem Gesprächspartner, dass „das Geschäft nirgends gut laufe“ und dass er „mit seiner Frau nirgends mehr Geld verdienen werde“. Ferner wurde hier thematisiert, ob „mit einer anderen Frau mehr Geld zu verdienen wäre“. In einem Gespräch mit der Nebenklägerin verlangte der Angeklagte Rechenschaft über ihre Einnahmen und warf ihr vor, kein Geld zu verdienen. In einem weiteren Gespräch drohte er ihr „Fußtritte in den Mund“ an und dass er ihr „den Mund in zwei Teile zerreißen“ oder „die Zähne ausschlagen“ werde. Überdies erinnerte der Angeklagte die Nebenklägerin an ihr bereits zugefügte „Prügel“.

Das Landgericht hat dazu ausgeführt, dass sich aus den Telefonüberwachungsprotokollen „zwingende Rückschlüsse“ auf eine Täterschaft des Angeklagten im Sinne der Anklage nicht ergeben würden (UA S. 62), und an anderer Stelle, dass hieraus keine „eindeutigen Schlüsse“ auf ein tatbestandliches Verhalten zu ziehen wären (UA S. 81).

Das ist rechtsfehlerhaft. Denn die Überzeugung des Tatgerichts von einem bestimmten Sachverhalt erfordert keine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende Gewissheit. Es genügt vielmehr ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige Zweifel nicht aufkommen lässt (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 1. Juli 2020 - 2 StR 326/19); demgegenüber muss ein Beweisergebnis weder „zwingend“ noch „eindeutig“ sein.

b) Durchgreifenden Bedenken begegnet es auch, dass die Strafkammer dem auf eine Ausnutzung der Nebenklägerin als Prostituierte und die Rolle des Angeklagten als ihr Zuhälter hindeutenden Inhalt der überwachten Telefongespräche jegliche Bedeutung mit der Überlegung abgesprochen hat, es lasse sich nicht ausschließen, dass der Angeklagte sich gegenüber seinem Gesprächspartner nur „aufgespielt“ habe, weil er - nach dem Eindruck der Übersetzerin der Telefonate - gegenüber der Nebenklägerin den „Macho“ und harten Kerl „gespielt“ habe. Denn es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen oder Tatbestandsvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteile vom 10. November 2021 - 5 StR 127/21, Rn. 11, und vom 11. Januar 2005 - 1 StR 478/04, NStZ-RR 2005, 147 f.).

2. Darüber hinaus erweist sich die Beweiswürdigung mit Blick auf die Würdigung der Bekundungen des Zeugen A. als lückenhaft.

a) Dieser hat bekundet, dass der Angeklagte im Jahr 2018 ihm gegenüber massive Gewalt gegen die Nebenklägerin und ihre Angehörigen angedroht und Geld gefordert habe. Der Angeklagte sei davon ausgegangen, dass sich die Nebenklägerin weiterhin prostituiere und er das von ihr erwirtschaftete Geld einnehme; dieses stehe aber ihm - dem Angeklagten - zu, dem die Nebenklägerin nach wie vor „gehöre“ (UA S. 77).

Die Strafkammer hat diese Bekundungen des Zeugen A. nicht näher beweiswürdigend erörtert. Sie hat vielmehr sogar ausdrücklich offengelassen, ob sie die Angaben des Zeugen A. für glaubhaft erachtet, und sich lediglich zu Auffälligkeiten und Abweichungen gegenüber den Schilderungen der Nebenklägerin verhalten. Eine nähere Erörterung dieser Angaben des Zeugen A. drängte sich jedoch auf, um die Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin umfassend beurteilen zu können.

b) Zudem hat die Strafkammer die Bekundungen des Zeugen A. nicht in ihre Gesamtwürdigung eingestellt. Dessen hätte es jedoch bedurft. Denn der Beweiswert einzelner Indizien ergibt sich regelmäßig erst aus dem Zusammenhang mit anderen Indizien, weshalb deren Gesamtwürdigung besonderes Gewicht zukommt (vgl. BGH, Urteil vom 1. Juli 2020 - 2 StR 326/19). Der Zeuge A. hat nämlich auch geschildert, der Angeklagte habe gedroht, ihn, die Nebenklägerin und deren Kind umzubringen, die Nebenklägerin würde nur „anhand von Geräten im Krankenhaus weiterleben können“, und er werde „mit einer Axt kommen, um sie umzubringen“. Diese Äußerungen aus dem Jahr 2018 sind geeignet, die Angaben der Nebenklägerin über das fortdauernde Klima der Einschüchterung durch den Angeklagten zu bestätigen, zumal sie wiederum mit dem Inhalt der überwachten Gespräche aus dem Jahr 2012 im Einklang stehen, in denen der Angeklagte ebenfalls Drohungen mit Gewalt gegen die Nebenklägerin geäußert hatte.

3. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Feststellungen können nicht bestehen bleiben, weil der Angeklagte sie mangels Beschwer nicht mit einem Rechtsmittel angreifen konnte (vgl. BGH, Urteil vom 5. Februar 2020 - 5 StR 390/19, Rn. 12).

4. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

Sollte das neue Tatgericht es nicht für erwiesen erachten, dass der Angeklagte die Nebenklägerin durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt zur Fortsetzung der Prostitution veranlasste, wird es eingehender als bisher geschehen zu prüfen haben, ob für den Zeitraum zwischen dem 15. April 2010 und der Vollendung des 21. Lebensjahres der Nebenklägerin am 24. Januar 2011 gleichwohl eine Strafbarkeit nach § 232 Abs. 1 Satz 2 StGB in der Fassung des Gesetzes vom 11. Februar 2005 (BGBl. I S. 239) in Betracht kommt.

Zwar sind etwaige Tathandlungen vor dem 15. April 2010 verjährt (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 i.V.m. § 78a Satz 1 StGB), weil erst der Erlass des gegen den Angeklagten gerichteten Haftbefehls vom 14. April 2020 nach § 78c Abs. 1 Nr. 5 StGB den Lauf der Verjährungsfrist unterbrochen hat. Nach den Angaben der Nebenklägerin hielt der Angeklagte sie aber nach Aufnahme der Prostitution in Nürnberg im März 2010 trotz ihres entgegenstehenden Willens stets dazu an, die Prostitution weiterhin auszuüben, und schrieb ihr vor, an welchen wechselnden Orten innerhalb Nürnbergs sie zu arbeiten habe. Hiernach hätte der Angeklagte sie in nichtverjährter Zeit vor Vollendung ihres 21. Lebensjahres dazu gebracht, die Prostitution im Sinne des § 232 Abs. 1 Satz 2 Fall 2 StGB aF fortzusetzen, ohne dass es auf das Ausnutzen einer Zwangslage, die auslandsspezifische Hilflosigkeit oder gar eine Nötigung ankäme (vgl. LK-StGB/Kudlich, 12. Aufl., § 232 Rn. 28; Schönke/Schröder/Eisele, StGB, 30. Aufl., § 232a Rn. 8).

Wirkt der Täter zur Fortsetzung der Prostitution weiter auf das Tatopfer ein, macht er sich nach § 232 Abs. 1 Satz 2 StGB aF in der Tatvariante des Bringens zur Fortsetzung der Prostitution strafbar, wenn das Tatopfer den Entschluss gefasst hatte, die Prostitutionsausübung aufzugeben, und der Täter sie gleichwohl zur Fortsetzung bestimmt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. März 2019 - 4 StR 374/18, NStZ-RR 2019, 179, und vom 20. Juni 2001 - 3 StR 135/01, BGHR StGB § 181 Abs. 1 Nr. 1 Konkurrenzen 2). Dabei kann bereits das Schaffen einer neuen Gelegenheit ein Bestimmen zur Fortsetzung der Prostitution sein (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juni 2000 - 3 StR 178/00, NStZ-RR 2001, 170, 171). Hierin läge grundsätzlich eine selbständige Tat, die zu einem vorangegangenen Bestimmen zur Prostitutionsaufnahme in Tatmehrheit stünde (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Juni 2001 - 3 StR 135/01, aaO).

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 199

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi