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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 848

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 125/22, Beschluss v. 31.05.2022, HRRS 2022 Nr. 848


BGH 6 StR 125/22 - Beschluss vom 31. Mai 2022 (LG Weiden i.d. OPf.)

Sicherungsverfahren; Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Wahnsymptome: Fehlende Erörterung möglicherweise realer Hintergründe [hier: Gewalttätigkeiten und Todesdrohungen des Ehepartners]); Schutz von Opfern häuslicher Gewalt (Angabe der Anschrift eines Frauenhauses in den Urteilsgründen).

§ 413 StPO; 63 StGB; Art. 3 lit. b Istanbul-Konvention; Art. 23 lit. b Istanbul-Konvention

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Weiden i.d. OPf. vom 17. Dezember 2021 aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufrechterhalten.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen wendet sich die Beschuldigte mit ihrer auf die Sachrüge sowie Verfahrensbeanstandungen gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist es unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:

a) Die Beschuldigte reiste aus Syrien kommend im Jahr 2018 ein. Gemeinsam mit ihrem Ehemann bezog sie eine Wohnung. Dieser forderte sie im März 2021 auf, mit ihm und den vier gemeinsamen Kindern nach Syrien zurückzukehren, anderenfalls werde er sie töten.

Am 3. April 2021 um 2:20 Uhr verständigte die Beschuldigte die örtliche Polizeistation und teilte mit, dass sie von ihrem Ehemann geschlagen worden sei und er ihr mit einer Rasierklinge Schnitte am Hals zugefügt habe. Tatsächlich hielt sich ihr Ehemann zu diesem Zeitpunkt aber in München auf. Als auf einen weiteren Notruf vom selben Tage Polizeibeamte in der Wohnung der Beschuldigten erschienen, war diese „völlig hysterisch“ und ein Gespräch mit ihr unmöglich. Ihr zehnjähriger Sohn teilte den Beamten mit, dass „nachts Papa komme“. Am Folgetag erklärte sie den von ihr abermals verständigten Polizeikräften, dass ihr Ehemann ihr eine Spritze ins Bein und - als eine Einstichstelle nicht aufgefunden werden konnte - dass er ihr Tabletten gegeben habe. Die Polizeibeamten forderten ihren Ehemann daraufhin auf anzureisen, sprachen ihm gegenüber ein Kontaktverbot aus und nahmen seinen Wohnungsschlüssel in Gewahrsam. Kurze Zeit später wurde ihr Ehemann festgenommen, nachdem er sich gewaltsam Zutritt zur gemeinsamen Wohnung verschafft und hierbei seinen Sohn verletzt hatte. Die Beschuldigte hatte sich zum Schutz vor ihrem Ehemann mit den Kindern im Schlafzimmer eingesperrt.

Die Beschuldigte wurde am 6. April 2021 mit ihren Kindern in einem Frauenhaus aufgenommen. Hier erwies sich die Beschuldigte als „misstrauisch“ gegenüber Mitarbeiterinnen und Bewohnerinnen, wähnte von diesen beigebrachtes Gift in ihrem Essen und warf regelmäßig benutztes Geschirr, Töpfe und Pfannen im „gelben Sack weg“. Hierauf angesprochen erklärte sie, dass ihr eine Verhaltensänderung nicht möglich sei und sie ausziehen und sich eine Wohnung suchen werde. Am 27. April 2021 reiste sie - ohne Geld und Fahrkarte - mit ihren Kindern sowie gepackten Koffern nach Regensburg und gab gegenüber den sie aufgreifenden Polizeibeamten an, ihre Mutter in der Türkei besuchen zu wollen. Ihre Mutter lebt allerdings „nach wie vor in Syrien“. Die Schlüssel zum Frauenhaus wurden ihr abgenommen und sie dorthin zurückgebracht. Die Leitung des Frauenhauses beschloss, die Beschuldigte in einem Bezirkskrankenhaus untersuchen zu lassen, und vereinbarte mit der Polizei den Transport der Beschuldigten für 16:30 Uhr des 29. April 2021. Die Beschuldigte sollte hierüber zuvor nicht informiert werden.

Am Vormittag des 29. April 2021 zerstörte die Beschuldigte mittels eines Hammers ihr Mobiltelefon; sie „bildete sich ein“, dass Angehörige ihres Ehemannes sie hierüber überwachen könnten. Als sie ins Bezirkskrankenhaus verbracht werden sollte, hatte sie ihre Zimmertür verbarrikadiert und fasste den Entschluss, dass sie und ihre drei jüngeren Kinder nicht weiterleben, sondern aus dem geöffneten Fenster etwa fünf Meter tief auf den gepflasteten Bürgersteig „stürzen sollten“. Dabei meinte sie, „dass der Teufel mit ihr spreche, erkannte keinen Ausweg für sich und ihre Kinder als den Tod, um ihnen vermeintlich ein besseres Leben nach dem Tod zu ermöglichen“. Sie ergriff ihre knapp zwei Jahre alte Tochter M. „und beförderte sie über die Fensterbank hinweg nach draußen“. Das Mädchen überlebte, zog sich allerdings Prellungen und Hämatome zu.

Ob auch ihre neunjährige Tochter A. - die ebenfalls das Geschehen leicht verletzt überlebte - durch ihr Einwirken auf den Gehweg stürzte oder aber sprang, „um ihrer Schwester … nahe zu sein“, konnte nicht aufgeklärt werden. Polizeikräfte überwältigten schließlich die auf der Fensterbank sitzende und hysterisch schreiende Beschuldigte; vor ihren Bauch geschnallt trug sie ihren sechs Monate alten Sohn.

b) Das sachverständig beratene Landgericht hat eine Aufhebung der „Einsichts- und Steuerungsfähigkeit“ zur Tatzeit wegen einer „paranoiden Schizophrenie oder auch polymorph-psychotischen Störung“ angenommen. Für die Annahme einer krankhaften seelischen Störung sprächen namentlich die im Vorfeld der Tat gezeigten irrationalen Verhaltensweisen, Verfolgungsängste sowie ihre mehrfachen Schilderungen, den „Teufel gesehen“ zu haben. Es sei auch wahrscheinlich, dass die - bislang unbestrafte - Beschuldigte in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen werde. Diese verfüge über keinen ausreichenden sozialen Empfangsraum, lebe von ihrem Ehemann getrennt und weise keine Krankheits- oder Behandlungseinsicht auf. Namentlich habe sich ihr Zustand in den letzten Wochen vor der Tat „erschreckend dynamisch bis zum Tatgeschehen entwickelt“.

2. Die Unterbringung der Beschuldigten hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand. Bereits die Psychose wird im angefochtenen Urteil nicht rechtsfehlerfrei belegt.

a) Nach den durch das Urteil mitgeteilten Ausführungen des Sachverständigen - die sich das Landgericht zu eigen gemacht hat - stützt sich dessen Diagnose einer „akuten polymorphen Störung mit Symptomen einer Schizophrenie“ im Tatzeitpunkt in erster Linie auf Auffälligkeiten aus der Zeit wenige Wochen und Tage vor der Tat. Diese belegten - jeweils nicht näher beschriebene - „wahnhafte Episoden mit der Wahrnehmung von Fremdbeeinflussung durch die Familie des Ehemannes, negative Einflüsse durch eine Nachbarin“ sowie Denkstörungen und Verwirrtheit. Auch im Zeitpunkt der Exploration „seien noch Symptome einer wahnhaft ausgeprägten Beeinträchtigungssymptomatik“ durch die Beschuldigte berichtet worden, etwa „Wahrnehmungen über die Familie“, Vergiftungswahn und Verfolgungswahn mit Wahrnehmung des „Teufels im Sinne eines religiös gefärbten paranoiden Erlebens“. Allerdings habe die Beschuldigte weder das Hören imperativer Stimmen noch Gedankeneingebungen geschildert. Die Störung habe „letztlich zu einem Verlust der Wahrnehmungsfähigkeit für die Belange der Kinder“ und zur Wahrnehmung einer handlungsrelevanten „akuten Bedrohung durch den Teufel geführt“.

b) Diese beweiswürdigenden Ausführungen zum Vorhandensein von Wahnsymptomen begegnen auch eingedenk des insoweit eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs durchgreifenden Rechtsbedenken.

aa) Bei der im Anschluss an den Sachverständigen vorgenommenen Bewertung des Vortatgeschehens setzt sich das Landgericht unzureichend mit dem sich aufdrängenden Umstand auseinander, dass die „bizarren Verhaltensweisen“ und „irrationalen Verfolgungsängste“ der Beschuldigten einen realen Hintergrund gehabt haben könnten. Es nimmt die festgestellten Gewalttätigkeiten und Todesdrohungen des - wegen Gewalttaten vorbestraften und sich wegen eines nicht näher mitgeteilten Vorwurfs in Untersuchungshaft befindenden - Ehemannes der Beschuldigten nicht in den Blick, die zu ihrer Aufnahme in ein Frauenhaus geführt hatten. Vor diesem Hintergund greift auch die nicht näher erörterte Wertung des Landgerichts zu kurz, die Beschuldigte habe die „Verwandten des Ehemannes in den Verfolgungswahn“ miteinbezogen. Nachdem sich die - ersichtlich im muslimischen Kulturkreis verwurzelte - Beschuldigte von ihrem Ehemann getrennt hatte, war ein Nachstellen durch dessen Verwandtschaft gerade nicht fernliegend.

Dies gilt gleichermaßen für den Versuch der Beschuldigten, mit ihren Kindern in die Republik Türkei auszureisen. Die Urteilsgründe selbst legen nahe, dass auch diesem Vortatgeschehen normalpsychologische Absichten und nicht allein „bizarre und irrationale Verhaltensweisen“ zugrunde gelegen haben könnten. Denn der im Einzelnen dokumentierte Chat-Verkehr der Beschuldigten mit ihrer Mutter lässt erkennen, dass sich beide zuvor verabredet hatten, jeweils in die Türkei zu reisen und sich dort zu treffen; dass die Mutter „nach wie vor in Syrien“ lebt, steht ihrer angekündigten Anreise in die Türkei nicht entgegen. Überdies wird nicht erörtert, dass die Beschuldigte das Frauenhaus schon Tage zuvor verlassen und eine eigene Wohnung beziehen wollte. Hieran sah sie sich - auch eigenen Angaben zufolge - im Tatzeitpunkt gehindert, weil sie für die verriegelte Ausgangstür keinen Schlüssel mehr besaß.

bb) Die Strafkammer nimmt ferner nicht die von Zeugen geschilderten Angaben der Beschuldigten zu ihrer Tatmotivation in den Blick. Hiernach habe sie sich als Muslima etwa gezwungen gefühlt, ihre Kinder im Fach Ethik unterrichten zu lassen. Überdies sind Hinweise auf ein - für den Tatzeitpunkt festgestelltes - wahnhaftes Erscheinen des Teufels oder ein insoweit wahnhaftes Bedrohungserleben weder diesen Zeugenaussagen oder der Einlassung der Beschuldigten noch den mitgeteilten Anknüpfungstatsachen des Sachverständigen zu entnehmen.

cc) Schließlich war angesichts der gestellten Diagnose einer schweren Psychose hier erörterungsbedürftig, dass sich die Beschuldigte - ohne Medikamentengabe - während der seit dem 30. April 2021 andauernden einstweiligen Unterbringung weder auto- noch fremdaggressiv verhalten und nur bis etwa September „bizarre Verhaltensweisen“ gezeigt hat, etwa die „Zähne mit Erdreich geputzt“ und das Zimmer mit Urin und Kot beschmiert hat.

3. Die Sache bedarf nach alledem - naheliegender Weise unter Hinzuziehung eines neuen Sachverständigen - neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen beruhen auf einer mangelfreien Beweiswürdigung und sind von dem aufgezeigten Rechtsfehler nicht betroffen; sie können deshalb bestehen bleiben. Das neue Tatgericht kann insoweit ergänzende Feststellungen treffen, die den bisherigen nicht widersprechen. Auf die erhobenen Verfahrensrügen bedurfte es keines Eingehens, weil diese jedenfalls nicht zu einer Aufhebung in einem noch weiteren Umfang führen konnten.

4. Lediglich ergänzend bemerkt der Senat:

a) Das neue Tatgericht wird - im Falle einer wiederum festgestellten, einem Eingangsmerkmal der §§ 20, 21 StGB unterfallenden schweren Psychose - angesichts der vorstehend beschriebenen Besonderheiten eingehender als bisher zu prüfen haben, ob die Beschuldigte auch bei der Tat zumindest erheblich schuldvermindert war.

b) Nach der gesetzlichen Konzeption kann die Anwendung des § 20 StGB nicht auf beide Varianten gestützt werden. Erst wenn sich ergeben hat, dass der Täter in der konkreten Tatsituation Unrechtseinsicht hatte, kann sich die Frage nach seiner Steuerungsfähigkeit stellen (vgl. BGH, Urteil vom 18. Januar 2006 - 2 StR 394/05, NStZ-RR 2006, 167, 168).

c) Die Angabe der Anschrift eines Frauenhauses in den Urteilsgründen (UA S. 4) ist rechtlich nicht geboten und unvereinbar mit dem gerade auch Gerichten und Strafverfolgungsbehörden obliegenden Schutz von Opfern häuslicher Gewalt (vgl. hierzu Art. 3 lit. b, 23 lit. b des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 11. Mai 2011 [Istanbul-Konvention], umgesetzt in deutsches Recht durch Gesetz zu dem Übereinkommen des Europarates vom 11. Mai 2011 zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt BGBl. 2017 II, S. 1026 ff.; BT-Drucks. 18/12037, S. 47 f., 76 f.).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 848

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi