HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 870
Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß
Zitiervorschlag: BGH, 6 BGs 19/21, Beschluss v. 29.04.2021, HRRS 2021 Nr. 870
Gemäß § 101 Abs. 6 Satz 1 i.V.m. § 101 Abs. 5 Satz 1 StPO wird - unter Zurückweisung des Antrags im Übrigen - der weiteren Zurückstellung der Benachrichtigung des Beschuldigten und sonstiger Betroffener über die folgenden durch den Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs auf Grundlage von § 100a StPO angeordneten Maßnahmen zugestimmt und gemäß § 101 Abs. 6 Satz 2 StPO die Dauer der weiteren Zurückstellung auf fünf Monaten bestimmt:
Der Generalbundesanwalt führt gegen den Beschuldigten K. ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Verbrechens der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. §129b Abs. 1 Satz 1 StGB.
1. Ihm liegt hiermit im Einzelnen zur Last, seit Juni 2016 ... in Erscheinung getreten zu sein.
2. Hinsichtlich der Einzelheiten der verdachtsbegründenden Umstände zum Bestand der terroristischen Vereinigung im Ausland, zur mitgliedschaftlichen Beteiligung des Beschuldigten daran sowie zur Verfolgungsermächtigung wird auf den Beschluss vom 12. Dezember 2019 - 6 BGs ... - Bezug genommen.
3. Die Benachrichtigungen der von den vom 12. Dezember 2019 bis 9. April 2020 durchgeführten und in der Beschlussformel benannten Ermittlungsmaßnahmen betroffenen Personen wurden durch den Generalbundesanwalt zurückgestellt, weil diese während des noch laufenden Ermittlungsverfahrens den Untersuchungszweck gefährdet hätten. In der Folgezeit wurde das Verfahren nicht weiter gefördert; der zuständige Sachbearbeiter war von seinem Dienstvorgesetzten - ohne erkennbare Rücksprache mit dem Generalbundesanwalt - von diesem Verfahren abgezogen und anderen Verfahren zugewiesen worden.
4. Unter dem 12. April 2021 beantragte der Generalbundesanwalt, gemäß § 101 Abs. 6 Satz 1 i.V.m. § 101 Abs. 5 Satz 1 StPO die weitere Zurückstellung der Benachrichtigung des Beschuldigten und sonstiger Betroffener über die in der Beschlussformel benannten Maßnahmen wegen fortbestehender Gefährdung des Untersuchungszwecks. Weiter führte er aus:
„Dass das Verfahren aus Kapazitätsgründen der ermittelnden Polizeibehörde für geraume Zeit nicht gefördert werden konnte, steht der weiteren Zurückstellung nicht entgegen. Der Zeitablauf seit Einleitung des Ermittlungsverfahrens am 15. Oktober 2019 hält sich noch im üblichen Rahmen. Die Auswertung der erlangten Daten wurde wieder aufgenommen. Dabei erweist sich insbesondere die Übersetzung der ausgeleiteten (über 1.600) E Mails als zeitaufwendig.“
Die Voraussetzungen für eine Zustimmung zur weiteren Zurückstellung der Benachrichtigung liegen in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen zeitlichen Umfang vor (§ 101 Abs. 6 Satz 1 StPO). Die notwendige Gefährdung des Untersuchungszwecks nach § 101 Abs. 5 Satz 1 StPO besteht jedenfalls insoweit.
1. Eine Gefährdung des Untersuchungszwecks (§ 101 Abs. 5 StPO) ist ab dem grundsätzlich maßgeblichen Zeitpunkt nach Beendigung der verdeckt geführten Ermittlungsmaßnahme (vgl. BT-Drucks 16/5846, S. 61) so lange gegeben, wie die begründete Erwartung besteht, dass durch die verdeckte Ermittlungsführung weitere beweiserhebliche Erkenntnisse gewonnen werden können.
a) Werden in demselben Ermittlungsverfahren mehrere verdeckte Untersuchungshandlungen nach § 101 Abs. 1 StPO parallel oder sukzessive durchgeführt, so kann auch nach Beendigung einer Maßnahme deren Bekanntgabe zunächst unterbleiben, weil eine entsprechende Mitteilung die weitere Erforschung des Sachverhalts im Hinblick auf eine andere, noch verdeckt geführte Maßnahme gefährden könnte (§ 101 Abs. 6 Satz 4 StPO; vgl. MüKo-StPO/Günther, § 101 Rn. 56 mwN.; KMR/Bär, 99. Lfg., § 101 Rn. 27).
b) Tragfähige Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Untersuchungszwecks durch die Benachrichtigung des Beschuldigten von einer gegen ihn durchgeführten verdeckten Maßnahme können auch in Belangen eines anderen Ermittlungsverfahrens erblickt werden. Ist dort die Auswertung der Erkenntnisse noch nicht abgeschlossen und belegt die bisherige Verdachtslage die - über bloße Vermutungen hinausgehende - Annahme, dass zwischen den Beteiligten zur Tatzeit etwa persönliche Beziehungen bestanden, namentlich ein Nachrichtenaustausch auch über Nachrichtenmittler erfolgte, kann dies eine vorläufige weitere Zurückstellung zum Schutze des Untersuchungszwecks gebieten. Stützt die Staatsanwaltschaft ihren Antrag auf solche Erkenntnisse aus einem Bezugsverfahren, ist der allgemeine Hinweis auf noch ausstehende Auswertungen allerdings unzureichend. Erforderlich ist eine nachvollziehbare substantiierte, tatsachengestützte Darlegung der Gefährdung des Untersuchungszwecks anhand der konkreten Erkenntnis- und Verdachtslage sowie die Vorlage der vollständigen Ermittlungsakten, auch des in Bezug genommenen Verfahrens, um eine eigenverantwortliche gerichtliche Nachprüfung zu ermöglichen (vgl. bereits BGH [ER]. Beschlüsse vom 20. Oktober 2020 - 6 BGs ... und vom 3. Februar 2021 - 6 BGs ...).
c) Der Gesetzgeber hat bewusst keinen noch näheren Zeitpunkt für die Unterrichtung bestimmt, fordert stattdessen aber eine Abwägung zwischen den genannten Belangen einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege einerseits und den Rechtsschutzinteressen des Betroffenen anderseits (LR/Hauck, 27. Aufl., § 101 Rn. 37; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. § 101 Rn. 19). Dabei kommt der in Zeitabständen wiederkehrenden eigenverantwortlichen und nicht auf eine Plausibilitätsprüfung, etwa anhand eines Aktenvermerks nach § 101 Abs. 5 Satz 2 StPO, beschränkten gerichtlichen Kontrolle die Bedeutung zu, die Zurückstellung der an sich zu veranlassenden Benachrichtigung in zeitlicher Hinsicht auf das „unbedingt Erforderliche“ zu begrenzen (BVerfG, Beschluss vom 12. Oktober 2011 - 2 BvR 236, 237, 422/08, BVerfGE 129, 208, 257; BVerfG, Beschluss vom 3. März 2004 - 1 BvR 2378/98, 1084/99, BVerfGE 109, 279, 364 ff.; LR/Hauck, a.a.O., 38).
aa) Von Bedeutung für die gebotene Abwägung zwischen den - auch von Verfassungs wegen zu beachtenden - Belangen einer effektiven Strafverfolgung und den Rechtsschutzinteressen der Betroffenen sind zunächst die Bedeutung des Tatvorwurfs, Umfang und Komplexität des Ermittlungsverfahrens sowie das Gewicht des durch die Ermittlungen dokumentierten Tatverdachts. Zu berücksichtigen ist ferner, ob mit der noch nicht bekannt gewordenen Maßnahme beweiserhebliche Erkenntnisse erlangt werden könnten (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 101 Rn. 19; LR/Hauck, a.a.O., Rn. 39; SK-StPO/Wolter/Jäger, 5. Aufl., § 101 Rn. 29), etwa durch an die Auswertung zeitlich und inhaltlich anschließenden Folgemaßnahmen. Weiter ist hier rechtlich von Bedeutung, ob Belange des Beschuldigten, solche eines Nachrichtenmittlers oder aber sonstigen Drittbetroffenen in Rede stehen. Dass solche Belange - auch von Drittbetroffenen - im Einzelfall sogar vollständig hinter den Bedürfnissen der funktionstüchtigen Strafrechtspflege zurücktreten können, erhellt aus § 101 Abs. 6 Satz 3 StPO, wonach ein endgültiges Absehen von der Benachrichtigung im Ausnahmefall möglich ist. Schließlich ist in die gebotene Abwägung auch die Art und Weise der Verfahrensführung einzustellen. Insoweit gilt im Einzelnen:
(1) Nach Abschluss sämtlicher verdeckt geführter Maßnahmen sind die gewonnenen Beweismittel - dem strafprozessualen Zügigkeitsgebot entsprechend - zeitnah auszuwerten, um auf dieser Grundlage die Entscheidung zu ermöglichen, ob weitere Folgemaßnahmen eingedenk dessen erforderlich sind.
(2) Wird dem Ermittlungsverfahren zeitweise oder gar längerfristig ohne einen durch die Verfahrensakten dokumentierten Sachgrund nicht der notwendige zügige Fortgang eingegeben, ist auch dieser Aspekt zu bewerten. Zwar bringt ein Antrag auf Zurückstellung durch die Staatsanwaltschaft regelmäßig zum Ausdruck, dass das Verfahren weiter gefördert werden soll. Ein gleichwohl durch die Verfahrensakten belegter sachgrundloser längerer Verfahrensstillstand kann aber auf ein im Einzelfall nur noch sehr begrenztes Strafverfolgungsinteresse schließen lassen (vgl. hierzu bereits BGH [ER]. Beschluss vom 3. Februar 2021 - 6 BGs ...). Anhaltspunkte für die Verfahrensführung geben etwa Aktenvermerke über Art und Umfang erfolgter Auswertungsarbeiten (vgl. bereits BGH [ER], Beschluss vom 7. Dezember 2020 - 6 BGs ...).
(3) Überdies gewinnen die Belange des Betroffenen mit zunehmender Dauer der Zurückstellung an Gewicht. Denn für die Strafverfolgungsbehörden besteht - im Rahmen strafprozessualer Verwendungsregelungen - für die Dauer der Zurückstellung die Möglichkeit, die mit der Ermittlungsmaßnahme erhobenen Daten - ohne Kenntnis des Betroffenen - noch weiterer, auch verfahrensübergreifender Auswertung und Verwendung zuzuführen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Juli 1999 - 1 BvR 2226/94, 2420, 2437/95, BVerfGE 100, 313, 398). Schon vor diesem Hintergrund erwiese sich die gegenteilige Annahme, das Benachrichtigungsinteresse nehme mit der Dauer des Verfahrens ab und sei am größten unmittelbar im Nachgang zur staatlichen Datenerhebung, als Fehlschluss. Diese Annahme wäre überdies unvereinbar mit dem normativen Gewicht des rechtlich geschützten Anspruchs eines Grundrechtsträgers auf spätere Kenntnisnahme von staatlichen Ermittlungsmaßnahmen, die in seine Rechtsposition eingreifen oder eingegriffen haben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. März 2004 - 1 BvR 2378/98, 1084/99, BVerfGE 109, 279, 367). Jede Zurückstellung der Benachrichtigung verzögert nämlich die Rechtsschutzmöglichkeiten der - vor Erlass der ermittlungsrichterlichen Anordnung nicht angehörten (§ 33 Abs. 4 StPO) - Betroffenen. Denn ohne eine Kenntnis von der Ermittlungsmaßnahme können diese weder die Unrechtmäßigkeit der Informationsgewinnung noch etwaige Rechte auf Löschung der Aufzeichnungen geltend machen (Art. 19 Abs. 4 GG). Schließlich nimmt mit zunehmendem zeitlichen Abstand zu der angeordneten Maßnahme die Effektivität des Rechtsschutzes ab (vgl. BVerfGE, a.a.O., S. 364). Vor diesem Hintergrund erweist sich jede „Eingrenzung der Mitteilungspflicht“ als weiterer Eingriff in die durch die bislang verdeckte geführte Ermittlungsmaße betroffenen Rechtsgüter (vgl. BVerfGE, a.a.O., S. 364).
d) Die Zurückstellung der Benachrichtigung wegen einer Gefährdung des Untersuchungszwecks hat schließlich auch den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit zu genügen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. März 2004 - 1 BvR 2378/98, 1084/99, BVerfGE 109, 279, 364 ff.). Hier sind gerade auch die Dauer der Zurückstellung, die Verfahrenskomplexität, die Bemühungen um einen zügigen Verfahrensabschluss sowie auch die Art und Tiefe erfolgter Eingriffe in Rechtspositionen des Betroffenen einzustellen.
2. Gemessen an diesen rechtlichen Maßgaben liegen die gesetzlichen Voraussetzungen für eine gerichtliche Zustimmung zur Zurückstellung in dem in der Beschlussformel ausgewiesenen zeitlichen Umfang noch vor. Die weitere Zurückstellung ist erforderlich, da die Benachrichtigungen des Beschuldigten und sonstiger gemäß § 101 Abs. 4 StPO von den Maßnahmen betroffener Personen den Untersuchungszweck gefährden würden. Außer dem Beschuldigten wären nach derzeitigem Stand möglicherweise mehrere Angehörige des Beschuldigten sowie weitere Personen zu benachrichtigen (vgl. Vermerk des Bundeskriminalamtes vom 9. April 2021). Die bislang gewonnenen Erkenntnisse konnten noch nicht vollständig ausgewertet werden. Der Generalbundesanwalt erwägt, nach Abschluss der Auswertungen, weitere verdeckte oder aber offene Ermittlungsmaßnahmen durchzuführen. Der Erfolg dieser Maßnahmen wäre gefährdet, wenn die vorgenannten Personen Kenntnis von den bislang verdeckt geführten Ermittlungen im Zuge einer Benachrichtigung erhielten. Dies gilt es mit Blick auf das Gewicht des Tatvorwurfs und vor dem Hintergrund der Vielzahl durch die verdeckt geführten Maßnahmen ermittelter Nachrichten und Telefonate (...) durch die zeitlich verhältnismäßige Zurückstellung zu vermeiden.
3. Dem Antrag konnte in zeitlicher Hinsicht hingegen auch eingedenk des Gewichts des Tatvorwurfs und der Komplexität der Ermittlungen nicht vollen Umfangs entsprochen werden. Eine antragsgemäße Bestimmung der Zurückstellung auf ein weiteres Jahr nach Abschluss der verdeckten geführten Maßnahmen erwiese sich gegenwärtig gemessen an den vorstehend dargestellten rechtlichen Maßgaben als unverhältnismäßig.
a) Der Generalbundesanwalt hat nach Einleitung des Ermittlungsverfahrens gegen den Beschuldigten mit der Durchführung der polizeilichen Ermittlungen das Bundeskriminalamt beauftragt. Kriminalbeamte dieser Behörde haben sodann die Ermittlungen aufgenommen und ermittlungsrichterliche Beschlüsse umgesetzt. Unter dem 24. März 2020 vermerkte das Bundeskriminalamt unter dem Betreff „Unterbrechung der polizeilichen Sachbearbeitung“:
„Dem Ermittlungsverfahren wurde KOK H. als Sachbearbeiter zugewiesen. Aufgrund einer Haftsache in einem weiteren dem KOK H. zugeordneten Ermittlungsverfahren (Az. ST22…), notwendiger Unterstützungstätigkeiten in einem sachfremden Bereich (Az. ST16…) sowie dienstliche Einschränkungen zur Verlangsamung der Ausbreitung des Corona-Virus konnte das Ermittlungsverfahren gegen K. wegen fehlender personeller Kapazitäten seit Januar 2020 nicht aktiv bearbeitet werden. Bis zur Wiederaufnahme der Sachbearbeitung wird das Ermittlungsverfahren soweit möglich durch das Referat verwaltet. Der Vermerk wird zu den Akten genommen.“ (...)
Eine dieser Entscheidung vorangehende Rücksprache oder sonstige Abstimmung mit dem Generalbundesanwalt ist den vorgelegten Aktenteilen nicht zu entnehmen. Seither wurden in den vorgelegten Stehordnern keine Ermittlungshandlungen dokumentiert. Erst einem Vermerk vom 9. April ist der - nicht nähere - Hinweis zu entnehmen, dass die Auswertung der durch die in der Beschlussformel benannten Ermittlungsmaßnahmen gewonnenen Erkenntnisse noch andauere. Da polizeiliche Vermerke zu zwischenzeitlich etwa bereits erfolgten Ermittlungs- und Auswertungshandlungen fehlen, belegt der Inhalt der vorgelegten Aktenteile für die Zeit von Januar 2020 bis April 2021 einen faktischen Verfahrensstillstand.
b) Eingedenk dessen ist eine Zustimmung zu einer über den in der Beschlussformel benannten Zeitraum hinausgehende Zurückstellung derzeit unverhältnismäßig. Zwar kann aus Gründen fehlender Ressourcen eine Priorisierung unter den zeitgleich von der Staatsanwaltschaft geführten Ermittlungsverfahren geboten und eine hierdurch eintretende Verzögerung in der Sachbehandlung einzelner, aus Sicht der Staatsanwaltschaft weniger bedeutsamer oder weniger dringender Verfahren erforderlich sein. Gerade auch um eine - etwa im Zuge von Entscheidungen nach § 101 Abs. 6 StPO veranlasste - gerichtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung zu ermöglichen, sind aber diese staatsanwaltschaftliche Entschließung einerseits und sind die ihr zugrunde liegenden Erwägungen andererseits, namentlich Gegenstand und Gewicht der mit dem zurückgestellten Verfahren konkurrierenden weiteren Verfahren sowie ein tragfähiger Anhalt für Ursache und Dauer fehlender Ressourcen und unternommener Vermeidungsbemühungen, aktenkundig zu machen. Dem kann - die hier, soweit ersichtlich, allein vorliegende - polizeiliche Disposition indes nicht genügen. Denn die Staatsanwaltschaft leitet das Ermittlungsverfahren und trägt die Gesamtverantwortung für eine rechtsstaatliche, faire und ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens, auch soweit es durch die Polizei geführt wird.
Auf Grund dieser umfassenden Verantwortung steht der Staatsanwaltschaft gegenüber den von ihr mit den konkreten Ermittlungen betrauten Ermittlungspersonen, verstanden als Organe der Staatsanwaltschaft, ein uneingeschränktes Weisungsrecht in Bezug auf ihre auf die Sachverhaltserforschung gerichtete strafverfolgende Tätigkeit (vgl. § 161 Abs. 1 Satz 2, § 163 StPO; § 152 GVG; vgl. ferner BGH, Beschluss vom 27. Mai 2009 - 1 StR 99/09, NJW 2009, 2612, 2613; SK-StPO/Wohlers, 5. Aufl., § 152 GVG Rn. 21, 24) sowie in diesem Rahmen das Weisungsrecht eines Dienstvorgesetzten zu (vgl. Frister in Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 6. Aufl., Teil F Rn. 18). Dabei können konkrete Einzelweisungen zu Art und Durchführung einzelner Ermittlungshandlungen erteilt (vgl. Nr. 3 Abs. 2, 11 RiStBV) oder die Leitungsbefugnis im Rahmen der Aufklärung von Straftaten unabhängig vom Einzelfall durch allgemeine Weisungen im Voraus in Anspruch genommen werden (vgl. BGH, a.a.O.). Selbständig handeln die Beamten der Polizei im Rahmen ihrer repressiven Tätigkeit nur dann, wenn ihnen durch das Gesetz ausnahmsweise entsprechende Befugnisse eingeräumt sind (vgl. § 163 Abs. 1 Satz 1, 127 Abs. 1 Satz 2, § 163b, § 164 StPO; hierzu SK-StPO/Wohlers, 5. Aufl., § 152 GVG Rn. 3). Weisungen des polizeilichen Dienstvorgesetzen, etwa eines Polizeipräsidenten, sind unzulässig, wenn sie in Konkurrenz mit Anordnungen der zuständigen Staatsanwaltschaft treten (SK/Wohlers, a.a.O. Rn. 21 f.).
Solange die Staatsanwaltschaft ihren Ermittlungsauftrag - etwa mit Blick auf eine beabsichtigte Verfahrenseinstellung - nicht widerruft, haben die Ermittlungspersonen den ihnen erteilten Ermittlungsauftrag mit der im Strafverfahren gebotenen Zügigkeit umzusetzen (§ 161 Abs. 1 Satz 2 StPO; Nr. 11 RiStBV). Eine eigenmächtige Entscheidung darüber, ein Ermittlungsverfahren durch vollständigen Abzug der Ermittlungspersonen zugunsten anderer anhängiger Ermittlungsverfahren faktisch auf Dauer einzustellen, steht weder den Ermittlungspersonen noch dem jeweiligen Polizeipräsidenten zu. In Fällen einer Verhinderung des polizeilichen Sachbearbeiters ist deshalb regelmäßig zunächst dessen Vertretung zu organisieren.
Sind indes die Ressourcen der beauftragten Polizeidienststelle für die Erfüllung sämtlicher bei ihr anhängiger Ermittlungsverfahren unzureichend, haben die Ermittlungspersonen dies der Staatsanwaltschaft unverzüglich anzuzeigen; aus § 163 Abs. 2 StPO ist ohne Weiteres zu schließen, dass auch eine durch den polizeilichen Dienstvorgesetzten veranlasste Organisationshandlung ohne schuldhaftes Zögern mitzuteilen ist, wenn diese - insbesondere in Haftsachen - eine mehrmonatige Verfahrensverzögerung oder gar einen dauerhaften Verfahrensstillstand zu verursachen geeignet ist (zum bestimmenden Weisungsrecht der Staatsanwaltschaft in diesen Fällen etwa LR/Franke, 26. Aufl., § 152 GVG Rn. 34; ferner Schmidbauer/Steiner, PAG, 5. Aufl., Art. 2 Rn. 69). Allein der Staatsanwaltschaft ist als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“ die dann möglicherweise erforderliche Priorisierung zwischen ihren verschiedenen Verfahren, insbesondere zugunsten von Haftsachen oder von solchen Fällen, denen sie besondere Bedeutung zuschreibt, überantwortet. Wurden der Polizei Ermittlungsaufgaben durch unterschiedliche Staatsanwaltschaften übertragen, kann eine solche Priorisierung nur im Wege der Abstimmung sämtlicher betroffener Staatsanwaltschaften erfolgen. Eine Dispositionsmöglichkeit allein der Ermittlungspersonen darüber, welche Ermittlungsverfahren zu priorisieren sind, sieht das geltende Recht hingegen nicht vor.
aa) Dem genügt die polizeiliche Sachbehandlung hier nicht.
(1) Für eine Absprache des mit den Ermittlungen betrauten Bundeskriminalamts (§ 4 Abs. 1 Nr. 3a, Absatz 2 BKAG) mit dem Generalbundesanwalt vor Anordnung des längerfristigen Abzugs des polizeilichen Sachbearbeiters gibt es weder in den vorgelegten Aktenteilen einen Anhalt, noch hat hierauf der Sachbearbeiter des Generalbundesanwalts im Rahmen der nach Antragseingang erfolgten fernmündlichen Rücksprache mit dem Gericht hingewiesen.
(2) Die vorgelegten Aktenteile dokumentieren vielmehr allein eine polizeiliche Anordnung. Hiernach wurde der Sachbearbeiter zur Förderung anderer vom Bundeskriminalamt - möglicherweise ebenfalls im Auftrag des Generalbundesanwalts - geführter Ermittlungsverfahren abgezogen. Schon im März 2020 war ausweislich des Vermerks erkannt worden, dass das Verfahren fortan nicht mehr „aktiv“ wird gefördert werden können. Da die Sachbearbeiter zugewiesenen Verfahren - soweit erkennbar - ebenfalls den Bereich repressiver Aufgabenerfüllung des Bundeskriminalamts betrafen, kann dahin stehen, ob stets - losgelöst von Absprachen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft - von einem Vorrang präventiver Polizeiarbeit ausgegangen werden kann (zw. MüKo-GVG/Brocke, § 152 Rn. 20; SK/Wohlers, 5. Aufl., § 152 Rn. 4 f. m.w.N.).
(3) Allein in den ausgebliebenen Verlängerungsanträgen an den Ermittlungsrichter kann kein tragfähiger Anhalt für eine konkludente Billigung der allein polizeilichen Priorisierung zwischen den Ermittlungsverfahren durch den Generalbundesanwalt oder gar für eine zeitweilige Suspendierung des initialen Ermittlungsauftrags erblickt werden.
bb) Diese Sachbehandlung durch das Bundeskriminalamt hat die Staatsanwaltschaft als „Wächterin des Verfahrens“ (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Juli 2016 - 2 BvR 2474/14, StV 2017, 361, 362 f.; BGH, Beschluss vom 26. April 2017 - 2 StR 247/16, NJW 2017, 3173; Dallmeyer in FS v. Heintschel-Heinegg [2015], S. 87, 89) zu vertreten.
cc) Vorliegend ist es zu einer Einstellung sämtlicher Ermittlungsarbeiten durch die Polizei und nicht nur zu einer kurzzeitig verzögerten Verfahrensführung gekommen. Diese hat sich im Rahmen der gebotenen Abwägung der widerstreitenden Interessen besonders auszuwirken und steht - auch eingedenk des Gewichts von Tatvorwurf und Tatverdacht - einer Zustimmung zu einer weitergehenden Zurückstellung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit entgegen. Der Aktendokumentation ist schließlich auch nicht zu entnehmen, dass das Bundeskriminalamt die von ihm zu verantwortende Verfahrensverzögerung nach Wegfall ihrer Ursachen durch besonders zügige Ermittlungs- und Auswertungsarbeit zu kompensieren versucht hat.
4. Sollte nach Ablauf der vorgenannten Zurückstellungsfrist eine weitere Zurückstellung bei Gericht beantragt werden, wird dem Antrag notwendigerweise die gesamte - den rechtlichen Anforderungen an die Dokumentation des Ermittlungsverfahrens genügende (vgl. etwa BGH [ER], Beschlüsse vom 12. Mai 2020 - 2 BGs 254-259/20 ... und zuletzt vom 14. April 2021 - ...) - Ermittlungsakte sowie in Bezug genommene gesondert geführte Verfahren nachvollziehbar beizuschließen sein. Aus der Ermittlungsakte hat sich - soweit hier von Belang - insbesondere zu ergeben, welche Ermittlungshandlungen vorgenommen worden sind, wann diese erfolgt sind und welche Ergebnisse diese erbracht haben (vgl. zur Aktenkundigkeit von Ermittlungshandlungen BGH, Beschluss vom 13. April 2021 - AK 29/21, BeckRS 2021, 7983, Rn. 13). Daran fehlt es derzeit; dies gilt gleichermaßen für die nachvollziehbare Angaben dazu, inwieweit Nachrichtenmittler oder sonstige Drittbetroffene von den Maßnahmen berührt sind. Schließlich sei angemerkt, dass der polizeiliche Hinweis auf „dienstliche Einschränkungen zur Verlangsamung der Ausbreitung des Corona-Virus“ in seiner Pauschalität ungeeignet erscheint, eine über mehr als ein Jahr ausgebliebene Übersetzung und Auswertung erlangter Erkenntnisse aus der Telefonüberwachung - auch etwa im Homeoffice - und damit einen faktischen Verfahrensstillstand zu begründen.
HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 870
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 287
Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß