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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 342

Bearbeiter: Karsten Gaede/Sina Aaron Moslehi

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 573/21, Beschluss v. 11.01.2022, HRRS 2022 Nr. 342


BGH 6 StR 573/21 - Beschluss vom 11. Januar 2022 (LG Potsdam)

Versuchter schwerer sexueller Missbrauch von Kindern (Versuchsbeginn: unmittelbares Ansetzen; straflose Vorbereitungshandlung: Aufforderung an das Kind, mit dem Täter an einen bestimmten Ort zu gehen); Revisionsbeschränkung (Entfallen der Bindung des Revisionsgerichts hieran).

§ 176a Abs. 1 StGB a.F.; § 176 Abs. 2 Nr. 1 StGB a. F.; § 22 StGB; § 344 Abs. 1 StPO

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Potsdam vom 8. Juli 2021 aufgehoben

a) soweit der Angeklagte wegen versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit versuchter Nötigung und Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht verurteilt worden ist (Tat 1 der Urteilsgründe); die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen bleiben aufrechterhalten;

b) im Gesamtstrafenausspruch.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird verworfen

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit Vergewaltigung, Körperverletzung und Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht (Tat 2: Freiheitsstrafe acht Jahre) sowie wegen versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit versuchter Nötigung und Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht (Tat 1: Freiheitsstrafe drei Jahre sechs Monate) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt, seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und Adhäsionsentscheidungen getroffen. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten, mit der er sich ausdrücklich nur gegen den Strafausspruch und die Höhe des ausgeurteilten Schmerzensgeldes wendet, hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO). Im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Nach den Feststellungen zur Tat 1 sprach der Angeklagte den zehnjährigen T. auf der Straße an. Er hatte den Plan gefasst, den Jungen sexuell zu missbrauchen, und forderte ihn zu diesem Zweck auf, durch eine Zaunlücke ein verlassenes Fabrikgelände zu betreten. Da T. sich weigerte, hielt der Angeklagte ihn fest und drohte, jemanden loszuschicken, der seiner Familie etwas „antue“. T. gelang es, sich dem Zugriff des Angeklagten zu entziehen und zu einem in der Nähe haltenden Polizeifahrzeug zu laufen.

Die Strafkammer hat eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern bejaht. In ihrer rechtlichen Würdigung hat sie ausgeführt, der Angeklagte habe spätestens, als er T. eindringlich aufgefordert habe, sich durch die Zaunlücke auf das Grundstück zu begeben, unmittelbar zu dem beabsichtigten schweren sexuellen Missbrauch des Jungen angesetzt.

2. Diese Wertung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Der Generalbundesanwalt hat in seiner Antragsschrift dazu ausgeführt:

„Der Angeklagte hat sich zu seiner Tatplanung nicht eingelassen. Er äußerte lediglich, dass „die Sache“ auch zutreffe (UA S. 19). Fest steht jedoch, dass er den Zeugen T. zunächst dazu bewegen musste, das Fabrikgelände über ein Loch im Zaun zu betreten. Im Hinblick auf den von § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB aF vorausgesetzten Grundtatbestand gemäß § 176 Abs. 1 StGB aF ist jedoch die Aufforderung an das Kind, mit dem Täter an einen bestimmten Ort zu gehen, eine bloße Vorbereitungshandlung (vgl. Sch/Sch/Eisele, StGB, 30. Aufl. 2019, § 176 Rdnr. 24 mwN). Über diese ist das Tatgeschehen vorliegend nicht hinausgelangt. Unter Berücksichtigung der zu Fall II. 2. der Urteilsgründe festgestellten Vorgehensweise ist ferner nicht auszuschließen, dass der Angeklagte mit dem Zeugen zunächst die weitläufige Ruine vollständig erkundet hätte (UA S. 14), sodass in dieser Hinsicht auch das bloße Betreten des Fabrikgeländes noch nicht ohne wesentliche Zwischenakte in die konkrete Tatausführung gemündet hätte.“ Dem schließt sich der Senat an. Die Aufhebung der Verurteilung wegen versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern erfasst den an sich rechtsfehlerfrei getroffenen tateinheitlichen Schuldspruch wegen versuchter Nötigung in Tateinheit mit Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht.

b) Der Senat hat die fehlerhafte Annahme eines unmittelbaren Ansetzens zu einem schweren sexuellen Missbrauch eines Kindes ohne Rücksicht auf die Revisionsbeschränkung zu überprüfen, weil diese insoweit unwirksam ist.

Die Bindung des Revisionsgerichts an eine Revisionsbeschränkung auf den Strafausspruch entfällt, wenn Schuldspruch und Strafzumessung so miteinander verknüpft sind, dass eine getrennte Überprüfung des angefochtenen Urteils nicht möglich wäre, ohne den nicht angefochtenen Teil mit zu berühren (st. Rspr.: vgl. BGH, Urteile vom 5. November 1984 - AnwSt [R] 11/84, BGHSt 33, 59; vom 13. Juli 1989 - 4 StR 297/89, BGHR StPO § 344 Abs. 1 Beschränkung 2 Wirksamkeit; vom 2. März 1995 - 1 StR 595/94). Ein solcher Fall liegt auch vor, wenn ein fehlerfreier Schuldspruch den angefochtenen Strafausspruch nicht zu begründen vermöchte (vgl. BGH, Urteile vom 14. Mai 1996 - 1 StR 51/96, insoweit nicht abgedruckt in BGHSt 42, 158; vom 21. Juni 2016 - 5 StR 183/16).

So verhält es sich hier. Denn bei einem Schuldspruch wegen eines Vergehens der versuchten Nötigung (§ 240 Abs. 1, 2, 3, § 22 StGB) in Tateinheit mit Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht (§ 145a StGB) würde die verhängte Strafe von drei Jahren und sechs Monaten die Strafrahmen dieser Delikte überschreiten.

3. Die Aufhebung des Schuldspruchs im Fall 1 entzieht zugleich der Gesamtstrafe die Grundlage. Die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen können bestehen bleiben, weil sie von dem Wertungsfehler nicht berührt werden (§ 353 Abs. 2 StPO). Bestehen bleibt auch die Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB. Sie wird von dem rechtskräftigen Schuldspruch im Fall 2 getragen.

4. Der Senat hält die Entschädigungsentscheidung der Strafkammer insgesamt aufrecht. Er kann ungeachtet der - auf Änderung des Zinszeitpunktes und teilweise Aufhebung des Feststellungsausspruchs gerichteten - Anträge des Generalbundesanwalts durch Beschluss entscheiden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 5. Januar 1999 - 3 StR 602/98; vom 8. Juli 2009 - 2 StR 239/09; vom 22.Oktober 2013 - 4 StR 368/13).

a) Der Antrag des Adhäsionsklägers ist am 21. Juni 2021 beim Landgericht eingegangen, so dass ein Anspruch auf die geltend gemachten Zinsen ab dem folgenden Tag besteht (vgl. § 404 Abs. 2 Satz 2 StPO; BGH, Beschluss vom 20. März 2018 - 5 StR 52/18). Die Zustellung des Antrags an den Gegner (§ 404 Abs. 1 Satz 3 StPO) ist zwar eine Zulässigkeitsvoraussetzung für den Adhäsionsantrag, wenn dieser außerhalb der Hauptverhandlung gestellt wird (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. Juli 2004 - 2 StR 37/04; vom 22. Januar 2015 - 2 StR 390/14). Sie hat aber keinen Einfluss auf den Zinszeitpunkt.

b) Der Ausspruch über die Feststellung, dass der Angeklagte verpflichtet ist, dem Adhäsionskläger neben den zukünftigen materiellen auch die immateriellen Schäden aus der Tat 2 zu ersetzen, begegnet im Hinblick auf die Feststellung zur Ersatzpflicht betreffend nicht absehbarer Spätfolgen (UA S. 41) keinen rechtlichen Bedenken. Besteht die Möglichkeit eines weiteren Schadenseintritts, der zum Zeitpunkt der Entscheidung objektiv nicht prognostizierbar war und somit bei der Bemessung des Schmerzensgeldes nicht berücksichtigt werden konnte (vgl. zum Grundsatz der Einheitlichkeit des Schmerzensgeldes BGH, Urteile vom 14. Februar 2006 - VI ZR 322/04; vom 10. Juli 2018 - VI ZR 259/15, NJW-RR 2018, 1426, 1427), so genügt dies für das nach § 256 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse (vgl. BGH, Urteil vom 20. März 2001 - VI ZR 325/99; Beschluss vom 9. Januar 2007 - VI ZR 133/06).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 342

Bearbeiter: Karsten Gaede/Sina Aaron Moslehi