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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 337

Bearbeiter: Karsten Gaede/Sina Aaron Moslehi

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 431/21, Beschluss v. 11.01.2022, HRRS 2022 Nr. 337


BGH 6 StR 431/21 - Beschluss vom 11. Januar 2022 (LG Stendal)

Versuchter Mord (Rücktritt vom Versuch: beendeter Versuch, unbeendeter Versuch; Erreichen des außertatbestandsmäßigen Handlungsziels; Vorstellungsbild des Täters).

§ 211 Abs. 1, Abs. 2 StGB; § 22 StGB; § 23 Abs. 1 StGB; § 24 Abs. 1 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Ein strafbefreiender Rücktritt vom unbeendeten Versuch ist auch dann möglich, wenn der Täter von weiteren Handlungen allein deshalb absieht, weil er sein außertatbestandsmäßiges Handlungsziel bereits erreicht hat. Auch in diesen Fällen kommt es für die Abgrenzung des unbeendeten vom beendeten Versuch und damit für die Voraussetzungen eines strafbefreienden Rücktritts allein darauf an, ob der Täter nach der letzten von ihm konkret vorgenommenen Ausführungshandlung den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges für möglich hält (st. Rspr.).

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stendal vom 2. Juni 2021 aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zum objektiven und subjektiven Tatgeschehen bestehen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine Jugendkammer des Landgerichts Magdeburg zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von drei Jahren verurteilt sowie ihre Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und die Einziehung des Tatmessers angeordnet. Die auf die Sachrüge gestützte Revision der Angeklagten hat im Umfang der Beschlussformel Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts stach die in belastenden familiären Verhältnissen aufgewachsene Angeklagte am Vortag ihres 15. Geburtstags während des Schulunterrichts dem in der Bankreihe vor ihr sitzenden Mitschüler F. B. ein spitz zulaufendes Messer (Klingenlänge: neun Zentimeter) kräftig zwischen Wirbelsäule und Schulterblatt in den Rücken. Ihr war bewusst, dass der ihr den Rücken zuwendende und in sein Heft schreibende F. nicht mit einem Angriff rechnete und sich deshalb auch nicht zur Wehr setzen konnte. Dies wollte sie sich zunutze machen. Denn sie wusste, dass sie nur dann würde zustechen können, wenn ihr das Opfer nicht in die Augen schauen würde. Sie wollte F., dem gegenüber sie weder positive noch negative Gefühle empfand, durch den Messerstich erheblich verletzen. Dabei war ihr bewusst, dass er an seiner Verletzung sterben könnte. Sie nahm seinen Tod billigend in Kauf, um ihr Ziel zu erreichen, inhaftiert zu werden und auf diesem Weg aus den neuen, konfliktbehafteten Familien ihrer völlig zerstrittenen leiblichen Eltern zu „verschwinden“.

F. hatte den unerwarteten Angriff wie einen Schlag empfunden und äußerte überrascht, er spüre seine Beine nicht mehr. Er „sackte mit dem Oberkörper auf den Tisch“; auf seinem Rücken bildete sich ein größer werdender Blutfleck. Aufgrund dieser von ihr wahrgenommenen Umstände und ihres Wissens um die Intensität ihres Angriffs erkannte die Angeklagte, dass F. schwer verletzt war. „Sie war zufrieden, dass sie ihren seit längerem gehegten Tatplan verwirklicht hatte und ihr Ziel, ins Gefängnis zu kommen, in greifbare Nähe gerückt war.“ Nach der Tat blieb sie teilnahmslos und still vor sich hin lächelnd an ihrem Platz stehen. Auf dessen Aufforderung händigte sie dem Lehrer das Messer unter der ausdrücklichen Bedingung aus, dass er es der Polizei übergeben werde.

F. erlitt Verletzungen im Bereich des Rückenmarks, die unter anderem zu Lähmungserscheinungen in den Beinen führten. Er wurde zwei Monate lang stationär behandelt. Im Zeitpunkt der Hauptverhandlung konnte er kürzere Strecken ohne Hilfsmittel leicht hinkend laufen. Für weitere Strecken benötigte er eine Orthese. Ob dauerhafte Schäden infolge der Tat bleiben werden, war noch nicht abzusehen.

2. Der Schuldspruch wegen versuchten Mordes hält sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.

a) Während die Annahme von bedingtem Tötungsvorsatz sowie des Mordmerkmals der Heimtücke entsprechend den Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts keinen Bedenken begegnen, hat das Landgericht die Ablehnung eines strafbefreienden Rücktritts der Angeklagten vom versuchten Mord rechtsfehlerhaft begründet.

Es hat rechtsirrig einen beendeten Versuch mit der Begründung angenommen, der die schwere Verletzung ihres Mitschülers erkennenden Angeklagten sei bewusst gewesen, „eine derart schwere Straftat begangen zu haben, dass sie ins Gefängnis kommen würde“. Aus ihrer Sicht habe sie damit, „gemessen an ihrem Rücktrittshorizont“, ihr Ziel erreicht.

Damit hat das Landgericht verkannt, dass ein strafbefreiender Rücktritt vom unbeendeten Versuch auch dann möglich ist, wenn der Täter von weiteren Handlungen allein deshalb absieht, weil er sein außertatbestandsmäßiges Handlungsziel bereits erreicht hat (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Mai 1993 - GSSt 1/93, BGHSt 39, 221). Auch in diesen Fällen kommt es für die Abgrenzung des unbeendeten vom beendeten Versuch und damit für die Voraussetzungen eines strafbefreienden Rücktritts allein darauf an, ob der Täter nach der letzten von ihm konkret vorgenommenen Ausführungshandlung den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges für möglich hält (st. Rspr., vgl. BGH, Urteil vom 15. Juli 2020 - 6 StR 43/20, NStZ 2020, 618 mwN). Zu dem hierauf bezogenen Vorstellungsbild der Angeklagten nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung lassen sich dem Urteil keine Feststellungen entnehmen. Derer hätte es jedoch bedurft, zumal die weiterhin hinter F. stehende Angeklagte das Tatmesser sofort nach dem Stich aus dessen Rücken gezogen hatte und es zunächst noch in der Hand hielt.

b) Der dargelegte Rechtsfehler nötigt zur Aufhebung des gesamten Schuldspruchs. Diese erfasst auch die Verurteilung wegen tateinheitlich begangener gefährlicher Körperverletzung (vgl. BGH, Urteile vom 17. Juli 2014 - 4 StR 158/14, NStZ 2014, 569 f. [dort nicht abgedruckt], und vom 20. Februar 1997 - 4 StR 642/96, BGHR StPO § 353 Aufhebung 1), die für sich genommen rechtsfehlerfrei ist. Insbesondere begegnet - ungeachtet missverständlicher, von der Revision und dem Generalbundesanwalt beanstandeter Formulierungen im Urteil (UA S. 47/48)- die Annahme einer lediglich verminderten Schuldfähigkeit der Angeklagten angesichts der längerfristigen Planung der Tat, der bewussten Auswahl des Opfers und des Erkennens der „letzten Chance“ zur Tatbegehung keinen materiell-rechtlichen Bedenken.

2. Die Aufhebung des Schuldspruchs entzieht dem Rechtsfolgenausspruch die Grundlage; jedoch können die von dem Wertungsfehler nicht berührten Feststellungen zum objektiven und subjektiven Tatgeschehen bestehen bleiben.

3. Der Senat macht entsprechend einer Anregung der Verteidigung von der durch § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO eröffneten Möglichkeit Gebrauch, die Sache an ein anderes Landgericht zurückzuverweisen. Im Hinblick auf die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

Sollte das neue Tatgericht angesichts der bislang - entgegen der Auffassung der Revision und des Generalbundesanwalts - rechtsfehlerfrei belegten „schweren anderen seelischen Störung“ (§ 20 StGB) der Angeklagten erneut die Anordnung einer Maßregel nach § 63 StGB in Betracht ziehen, so wird es eingehender als bisher zu prüfen haben, inwieweit sich deren etwaige Gefährlichkeit bereits durch Maßnahmen zur Vermeidung ihrer Rückkehr in einen ihrer elterlichen Haushalte nachhaltig vermindern lässt.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 337

Bearbeiter: Karsten Gaede/Sina Aaron Moslehi