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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 585

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 128/21, Beschluss v. 07.04.2021, HRRS 2021 Nr. 585


BGH 6 StR 128/21 - Beschluss vom 7. April 2021 (LG Stendal)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus; Rücktritt vom Versuch (Urteilsfeststellungen zum Vorstellungsbild; Rücktrittshorizont).

§ 24 Abs. 1 StGB; § 63 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist nur zulässig, wenn eine Bestrafung wegen der rechtswidrigen Tat allein an der mangelnden Schuldfähigkeit des Täters scheitert, nicht jedoch, wenn er mit strafbefreiender Wirkung vom Versuch zurückgetreten ist. Das Tatgericht muss zu dem insoweit maßgeblichen Vorstellungsbild des Angeklagten nach dem jeweiligen Abschluss der letzten von ihm vorgenommenen Ausführungshandlung (sog. Rücktrittshorizont) Feststellungen treffen.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stendal vom 30. Oktober 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten freigesprochen, die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

1. Nach den Feststellungen hatte der an paranoider Schizophrenie leidende Angeklagte die wahnhafte Vorstellung entwickelt, dass sich seine Nachbarn, insbesondere die Eheleute B. und J. T. gegen ihn verschworen hätten. Im Zustand krankheitsbedingter Schuldunfähigkeit beging er folgende Taten:

Um insbesondere B. T. zum Auszug aus ihrem Haus zu bewegen, schrieb er die Worte „Geile T. verpiß Dich hier Muh! Muh!“ auf ein Stück Papier, umwickelte damit ein Ziegelsteinstück und warf dieses am 29. Januar 2020 auf das Grundstück der Eheleute T., die darauf aber nicht reagierten (Fall 1 der Urteilsgründe). Am 31. Januar 2020 warf er einen 12 x 24 x 7 cm großen Ziegelstein nach B. T., als diese durch die Terrassentür ins Haus gehen wollte. Als sie gerade das Wohnzimmer betreten hatte, durchschlug der Stein das über der Terrasse befindliche Pavillondach; die Glasplatte eines darunter stehenden Tisches zerbarst. Als B. T. daraufhin von der Wohnzimmertür zu dem Angeklagten blickte, warf er einen zweiten Ziegelstein in ihre Richtung, der 20 cm von der Tür entfernt landete und eine Bodenfliese beschädigte (Fall 2 der Urteilsgründe). Am 17. März 2020 warf er vormittags nacheinander drei 8 x 8 cm große Betonstücke in Richtung von B. und J. T. sowie abends erneut einen Ziegelstein nach B. T., die ihr Ziel jeweils verfehlten (Fälle 3 und 4 der Urteilsgründe). Am 23. März 2020 hatte der Angeklagte die irrige Vorstellung, dass seine Nachbarin E., die er für eine „Ehebrecherin“ hielt, seit Stunden sein Grundstück observiere. Um sie zu vertreiben, richtete er ein nicht geladenes Luftdruckgewehr auf sie, ließ die Waffe klicken und schrie ihr zu: „Verschwinde! Hau ab, oder ich brenn´ dir eine über!“, woraufhin E. sich aus Angst vor dem Angeklagten unverzüglich entfernte (Fall 5 der Urteilsgründe). Am 9. April 2020 warf der Angeklagte nacheinander zwei Pflastersteine in Richtung von J. T., von denen einer das Pavillondach durchschlug, J. T. aber nicht traf. Nachdem dieser den Pavillon in Richtung des Gartens durchquert hatte und seine Frau zu ihm geeilt war, warf der Angeklagte einen tiefgefrorenen „Geflügelfleischkäse“ nach ihnen, der beide aber knapp verfehlte (Fall 6 der Urteilsgründe). Am 3. Juni 2020 wollte der Angeklagte die Zeugin K. vertreiben, die auf dem Grundstück der Eheleute T. Gartenarbeiten erledigte. Er „angelte“ eine von mehreren Hartplastikflaschen, welche die Eheleute T. zur Dekoration ihres Gartens in den Bäumen - auch an der Grenze zum Grundstück des Angeklagten - aufgehängt hatten, aus einem Baum und warf sie nach ihr, verfehlte sie jedoch knapp. Anschließend änderte sich seine Stimmung abrupt. Er ignorierte K. und wandte sich von ihr ab (Fall 7 der Urteilsgründe).

2. Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) hält rechtlicher Prüfung nicht stand.

a) Das Landgericht hat die Taten des Angeklagten zwar rechtsfehlerfrei als versuchte gefährliche Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2, § 22 StGB) in fünf Fällen (Fälle 2, 3, 4, 6 und 7), davon in zwei Fällen (Fälle 2 und 6) in Tateinheit mit Sachbeschädigung (§ 303 Abs. 1 StGB) und als Nötigung (§ 240 Abs. 1 StGB, Fall 5) gewertet; demgegenüber bestehen gegen die Annahme einer versuchten Nötigung im Fall 1 die in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts aufgezeigten Bedenken. Es ist auch ohne Rechtsfehler zu der Überzeugung gelangt, dass der Angeklagte jeweils krankheitsbedingt unfähig war, das Unrecht seiner Tat einzusehen (§ 20 StGB). Auf durchgreifende rechtliche Bedenken stößt aber, dass das Landgericht in den Fällen 2, 3, 4, 6 und 7 nicht geprüft hat, ob der Angeklagte mit strafbefreiender Wirkung vom Versuch der gefährlichen Körperverletzung zurückgetreten ist (§ 24 Abs. 1 Satz 1 StGB).

Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist nur zulässig, wenn eine Bestrafung wegen der rechtswidrigen Tat allein an der mangelnden Schuldfähigkeit des Täters scheitert, nicht jedoch, wenn er mit strafbefreiender Wirkung vom Versuch zurückgetreten ist (vgl. BGH, Urteil vom 28. Oktober 1982 - 4 StR 472/82, BGHSt 31, 132, 135; Beschluss vom 8. August 2002 - 3 StR 239/02 Rn. 2, NStZ 2003, 101). Hier fehlen Feststellungen zu dem insoweit maßgeblichen Vorstellungsbild des Angeklagten nach dem jeweiligen Abschluss der letzten von ihm vorgenommenen Ausführungshandlung (vgl. zum „Rücktrittshorizont“ etwa BGH, Beschluss vom 19. Mai 1993 - GSSt 1/93, BGHSt 39, 221, 227 f.).

Insbesondere im Fall 7 liegt es nahe, dass der Angeklagte freiwillig von der weiteren Tatausführung absah, indem er sich nach dem erfolglosen Wurf mit der Hartplastikflasche von der Zeugin K. abwandte, obwohl es ihm möglich gewesen wäre, eine weitere in den Bäumen aufgehängte Flasche an sich zu bringen und damit nochmals nach ihr zu werfen. Entsprechendes gilt in den Fällen 2, 3, 4 und 6. Es fehlt an Feststellungen dazu, warum der Angeklagte nach den erfolglosen Versuchen, die Eheleute T. zu treffen, nicht erneut mit einem Gegenstand nach ihnen warf. Den Urteilsgründen ist insbesondere nicht zu entnehmen, dass der Angeklagte keine Möglichkeit mehr sah, seine Nachbarn zu verletzen, etwa mangels weiterer verfügbarer Gegenstände oder weil sie sich zwischenzeitlich in Sicherheit gebracht hatten.

b) Die Sache bedarf deshalb neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Nötigung im Fall 5 und die Sachbeschädigungen in den Fällen 2 und 6 vermögen die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus für sich genommen nicht zu tragen.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 585

Externe Fundstellen: StV 2022, 292

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede