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Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 629/99, Urteil v. 06.07.2000, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 5 StR 629/99 - Urteil v. 6. Juli 2000 (LG Berlin)

Mord; Heimtücke (bei Erschießung eines DDR-Grenzposten im Rahmen eines Fluchtversuchs); Notwehr; Überragende Bedeutung des Rechtsgutes Leben; Entschuldigender Notstand; Strafrahmenverschiebung nach § 35 Abs. 1 Satz 2 zweiter Halbsatz, § 49 Abs. 1 StGB; Rechtsfolgenlösung

§ 211 StGB; § 32 Abs. 1 StGB; § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB; § 35 Abs. 1 Satz 2 zweiter Halbsatz, § 49 Abs. 1 StGB

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Nebenklägers wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 22. April 1999 dahin abgeändert, daß der Angeklagte des Mordes schuldig ist.

Die Revision des Angeklagten wird verworfen.

Der Angeklagte hat die Kosten des Revisionsverfahrens und die dem Nebenkläger insoweit entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Schwurgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Die Revision des Nebenklägers hat mit der Sachrüge Erfolg; der Schuldspruch ist dahin zu ändern, daß der Angeklagte des Mordes schuldig ist. Die Schuldspruchänderung läßt den Strafausspruch unberührt. Die Revision des Angeklagten, der eine offensichtlich unbegründete Verfahrensrüge und die Sachrüge erhebt, hat keinen Erfolg.

Am 18. Juni 1962 erschoß der Angeklagte den Bruder des Nebenklägers, der in Berlin (Ost) als Grenzposten an der Berliner Mauer eingesetzt war. Der unmittelbar vor dem Mauerbau aus Berlin (Ost) ohne seine Familie geflüchtete Angeklagte hatte von Berlin (West) aus einen Tunnel zu einem unmittelbar hinter der Mauer gelegenen Haus gegraben, um auf diesem Weg Familienangehörige, insbesondere seine Ehefrau und seine beiden Söhne, in den Westteil der Stadt zu schleusen. Am Tattag begab sich der Angeklagte durch den fertiggestellten Tunnel in den Ostteil Berlins. Als sich die Fluchtwilligen unter seiner Führung anschickten, das Haus, zu dem der Tunnel führte, zu betreten, forderte der in dem Grenzabschnitt eingesetzte bewaffnete Grenzposten sie auf, stehenzubleiben und sich auszuweisen. Er bestand auf die Kontrolle, obgleich der Angeklagte ihn mit dem Vorwand, sie wollten einen Geburtstagsbesuch machen, davon abzuhalten suchte. Da der Angeklagte ein Scheitern der Flucht und eine Festnahme der Beteiligten verhindern wollte, erschoß er in dieser Situation den ahnungslosen Grenzposten mit einer einsatzbereit mitgeführten Schußwaffe. Anschließend gelang ihm und seinen Begleitern die Flucht durch den Tunnel.

1. Auf der Grundlage der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum Tathergang hat das Schwurgericht mit im Ergebnis zutreffenden Erwägungen eine Rechtfertigung oder Entschuldigung des Angeklagten verneint. Für jene Beurteilung ist insbesondere die überragende Bedeutung des Rechtsgutes des menschlichen Lebens (vgl. dazu in anderem Zusammenhang BGHSt 39, 1, 20 ff.) von maßgeblicher Bedeutung.

a) Die Tötung des Grenzpostens war nicht durch Notwehr geboten (§ 32 Abs. 1 StGB). Bei seinem konkreten Einsatz handelte der getötete Grenzposten gemäß einer für ihn verbindlichen Befehlslage. Diese beruhte auf der Grenzregelung der DDR, die - ungeachtet ihrer Menschenrechtswidrigkeit - nicht insgesamt als ungültig - anzusehen ist (vgl. nur die Rechtsprechungsnachweise bei Willnow JR 1997, 221, 223; 265, 267, 271). Der Grenzposten hatte zudem nicht etwa bereits zur Anwendung seiner Schußwaffe gegen die Fluchtwilligen angesetzt.

b) Auch die Voraussetzungen eines entschuldigenden Notstandes (§ 35 Abs. 1 Satz 1 StGB) liegen nicht vor. Freilich bestand in der Tatsituation gegenwärtige Gefahr für die Freiheit des Angeklagten und für die seiner Familie. Es war ihm aber trotz der schwer erträglichen Trennungssituation für seine Familie und vor dem Hintergrund menschenrechtswidriger Versagung von Ausreisefreiheit gleichwohl zuzumuten, die Gefahr im Blick auf die Bedeutung des Lebensrechts des betroffenen Grenzpostens insoweit hinzunehmen, als er sie nicht durch dessen vorsätzliche Tötung abwenden durfte (§ 35 Abs. 1 Satz 2 StGB). Von einer solchen Tötung mußte er Abstand nehmen, nachdem er sich mit schußbereiter Waffe in Kenntnis aller Risiken in die vorhergesehene Konfliktsituation mit einem bewaffneten Grenzposten begeben hatte.

2. Mit Recht hat das Schwurgericht in der konkreten Tatsituation der von dem Grenzposten allein vorgenommenen Kontrolle die objektiven Voraussetzungen des Mordmerkmals der Heimtücke bejaht (vgl. nur BGHSt 39, 353, 368; 41, 72, 78 f.; Jähnke in LK 10. Aufl. § 211 Rdn. 44). Angesichts der Feststellungen zur Vorbereitung und Durchführung der komplizierten Fluchtaktion fehlt es allerdings für die Annahme des Schwurgerichts, der uneingeschränkt einsichts- und steuerungsfähige Angeklagte habe in der Tatsituation aufgrund affektiver Anspannung die das Mordmerkmal bestimmenden Merkmale nicht erfaßt, an einer tragfähigen Tatsachengrundlage. Dies gilt insbesondere im Blick auf die festgestellte verharmlosende Äußerung des Angeklagten gegenüber seinem Opfer vor Abgabe der tödlichen Schüsse. Weitere Mordmerkmale liegen offensichtlich nicht vor (vgl. zur Ermöglichungs- oder Verdeckungsabsicht nur Jähnke aaO § 211 Rdn. 10, 20).

Der Senat kann den Schuldspruch von sich aus ändern. Danach stellt sich die Verjährungsfrage nicht (§ 78 Abs. 2 StGB; vgl. dazu Albrecht GA 2000, 123).

3. Der Strafausspruch bleibt von der Schuldspruchverschärfung unberührt. Dem Angeklagten ist neben der Strafrahmenverschiebung nach § 17 Satz 2, § 49 Abs. 1 StGB eine weitere Strafrahmenverschiebung nach § 35 Abs. 1 Satz 2 zweiter Halbsatz, § 49 Abs. 1 StGB zuzubilligen; denn er hat zur Abwendung einer ihm und seiner Familie drohenden Gefährdung der Freiheit, mithin in einer - freilich wegen hinzunehmender Gefahr nicht entschuldigenden - Notstandslage gehandelt. Danach ist die Mindeststrafe nicht wesentlich höher als vom Tatrichter angenommen. Angesichts der außergewöhnlichen Umstände dieses nach seinem konkreten Unrechtsgehalt gänzlich untypischen Heimtückemordes (vgl. BGHSt 30, 105) - namentlich bedingt durch die tragische Tatsituation, zudem im Blick auf einen Zeitablauf von fast 40 Jahren seit Tatbegehung (vgl. auch BGHSt 41, 72, 93 f.) - mußte sich die Strafzumessung hier an der Mindeststrafe orientieren. Aus den genannten Gründen ist die vom Schwurgericht verhängte Bewährungsstrafe auch unter Berücksichtigung des erschwerten Schuldspruchs im Ergebnis nicht zu beanstanden (vgl. auch Willnow aaO S. 227 m.N.).

Externe Fundstellen: NJW 2000, 3079

Bearbeiter: Karsten Gaede