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Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 613/99, Beschluss v. 06.07.2000, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 5 StR 613/99 - Beschluß v. 6. Juli 2000 (LG Frankfurt/Oder)

Scheinverhandlung entgegen § 229 StPO; Konzentrationsmaxime; Sachverhandlung; Beruhen; Entscheidungserheblichkeit; Körperverletzung im Amt

§ 229 Abs. 1 StPO; § 132 GVG; § 337 StPO; § 340 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine ausreichende Sachverhandlung iSd § 229 StPO liegt stets vor, wenn die Verhandlung den Fortgang der Urteilsfindung dienenden Sachverhaltsaufklärung betrifft. Die Entgegennahme hierauf bezogener Verteidigeranträge - insbesondere von Beweisanträgen - ist fraglos Sachverhandlung. Nicht anders beurteilt der Senat den Fall, daß die Hemmung einer als erforderlich angesehenen Sachverhaltsaufklärung festzustellen und über die Reaktion hierauf zu verhandeln ist; auch die Verhandlung über das Ausbleiben eines geladenen Zeugen ist mithin als Sachverhandlung anzusehen (anders - nicht tragend BGHR StPO § 229 Abs. 1 - Sachverhandlung 2 m.w.N.).

2. Der Senat ist der Auffassung, daß sich derartige (die Annahme einer Scheinverhandlung betreffende) Erwägungen bei nicht gänzlich fehlendem Sachbezug des Gegenstandes eines Sitzungstages für das Revisionsgericht grundlegend verbieten.

3. Einzelfall der Körperverletzung im Amt an tatverdächtigen Ausländern durch Polizeibeamte auf einer Wache (Aufhebung des Gesamtstrafenausspruches wegen zu niedriger Einzelstrafenbemessung).

Entscheidungstenor

1. Auf die Revisionen der Angeklagten R und S wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 4. Mai 1998 nach § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben

a) in den Einzelstrafaussprüchen zu Fall 8, betreffend R, und zu Fall 9, betreffend S

b) in den Gesamtstrafaussprüchen gegen diese Angeklagten.

2. Die weitergehenden Revisionen dieser Angeklagten so wie die Revisionen der Angeklagten G und D gegen das genannte Urteil werden nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.

3. Die sofortigen Beschwerden der Angeklagten G und S gegen die sie betreffenden Kostenentscheidungen in dem genannten Urteil werden auf deren Kosten als unbegründet verworfen.

Die Angeklagten G und D haben die Kosten ihrer Revisionen zu tragen.

Der Angeklagte G hat die den Nebenklägern T V H, T T D, Q M N, D K N, L A D und D U N im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen, der Angeklagte R diejenigen der Nebenkläger L T, H V L, H T und D K N, der Angeklagte S diejenige der Nebenkläger T V H und T Q T sowie der Angeklagte D diejenigen des Nebenklägers L A D.

4. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbleibenden Kosten der Revisionen der Angeklagten R und S, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagten, die zu den Tatzeiten zwischen Februar 1993 und Juni 1994 als Polizeibeamte in Bernau tätig waren, wegen insgesamt zwölf Fällen auf der dortigen Wache (oder bei der Zuführung dorthin) verübter Mißhandlungen für schuldig befunden. Opfer der Taten waren vorläufig festgenommene Ausländer, zumeist Vietnamesen, die im Verdacht illegalen Zigarettenhandels standen. Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils wegen Körperverletzung im Amt verurteilt: die Angeklagten G, R und S zu - jeweils zur Bewährung ausgesetzten - Gesamtfreiheitsstrafen von zwei Jahren gegen G (neun Fälle), einem Jahr gegen R (drei Fälle) und zehn Monaten gegen S (zwei Fälle), ferner den Angeklagten D (ein Fall) zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 60 DM. Abgesehen von der sachlichrechtlich fehlerhaften Bemessung von je einer Einzelstrafe bei R und S, deren Aufhebung jeweils auch die der Gesamtstrafe nach sich zieht, sind die Revisionen der Angeklagten unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Zu den Verfahrensrügen merkt der Senat im Anschluß an die Ausführungen des Generalbundesanwalts lediglich an:

a) Es bedarf keiner Entscheidung, ob und inwieweit mit den Revisionen die Grundlagen für Vereidigungsverbote nach § 60 Nr. 2 StPO hinreichend dargestellt worden sind, die als Zeugen vernommene, vereidigte Polizeiangehörige betrafen, die ausgesagt hatten, sie hätten nichts von Mißhandlungen vorläufig festgenommener Personen auf der Polizeidienststelle bemerkt. Mit dem Generalbundesanwalt ist nämlich sicher auszuschließen, daß das angefochtene Urteil auf entsprechenden Verstößen - die in der Sache nicht fernliegen - beruhen kann. Das Landgericht hat den Zeugen ungeachtet ihrer Vereidigung keinen Glauben geschenkt. Nach der Darstellung der Beweiswürdigung im Urteil und der Gesamtheit des Revisionsvorbringens läßt sich ausschließen, daß die Verteidigung eines der Angeklagten in der mehr als zwei Jahre andauernden Hauptverhandlung sich nicht der Gefahr bewußt gewesen wäre, daß das Gericht die entsprechenden Angaben der Polizeikollegen der Angeklagten weitgehend als entlastende Falschaussagen bewerten würde. Daher läßt sich auch aus dem - zweifelhaften (vgl. BGH StV 1986, 89) - Gesichtspunkt einer Desinformation der Verteidigung hier kein Beruhen des Urteils auf den geltend gemachten Verstößen unzulässiger Vereidigung ableiten.

b) Auch die auf Verletzung des § 229 StPO gestützten Rügen können keinen Erfolg haben. Inwieweit sie bereits wegen Verwirkung unzulässig sind, weil die beanstandete karge Verfahrensgestaltung an einem Verhandlungstag gerade auf Wunsch eines Verteidigers und mit Rücksicht auf dessen Terminsschwierigkeiten erfolgte (vgl. BGHR StPO § 338 Nr. 5 - Verteidiger 3; BGH NStZ 1997, 451; BGH, Beschluß vom 25. Februar 2000 - 2 StR 514/99 -), bedarf keiner näheren Klärung; denn es ist in keinem Fall dargetan, daß es an einer ausreichenden Sachverhandlung gefehlt hätte.

Eine solche liegt stets vor, wenn die Verhandlung den Fortgang der Urteilsfindung dienenden Sachverhaltsaufklärung betrifft. Die Entgegennahme hierauf bezogener Verteidigeranträge - insbesondere von Beweisanträgen - ist daher fraglos Sachverhandlung (die von der Revision zitierte abweichende Kommentierung von Julius in HK-StPO 2, Aufl. § 229 Rdn. 10 - unter Bezugnahme auf eine zu ganz anderer Fallgestaltung ergangene Entscheidung - ist ersichtlich unzutreffend). Nicht anders beurteilt der Senat den Fall, daß die Hemmung einer als erforderlich angesehenen Sachverhaltsaufklärung festzustellen und über die Reaktion hierauf zu verhandeln ist; auch die Verhandlung über das Ausbleiben eines geladenen Zeugen ist mithin als Sachverhandlung anzusehen (anders - nicht tragend BGHR StPO § 229 Abs. 1 - Sachverhandlung 2 m.w.N.). Die gerichtliche Reaktion hierauf, der Erlaß eines Ordnungsmittel- und Kostenbeschlusses wie die Entschließung über etwaige Zwangsmaßnahmen (§ 51 StPO), hat sich nämlich maßgeblich am Fortgang der Sachaufklärung zu orientieren. Abgesehen davon wird mit einer entsprechenden Kostenentscheidung die spätere umfassende Kostenentscheidung vorab partiell modifiziert. Danach liegt in der nach gerichtlicher Beratung erfolgenden Verkündung einer solchen Entscheidung regelmäßig eine Sachförderung im Sinne einer Sachverhandlung. Dies kann grundsätzlich nicht von der nachträglich im Revisionsverfahren nur schwer zu beurteilenden Frage abhängen, ob die Entscheidung im Einzelfall von diffizilen Überlegungen abhing oder ohne weiteres schnell zu treffen war. Besondere Indizien, die ausreichen könnten, hier gleichwohl eine gezielte "Scheinverhandlung" zu belegen (vgl. BGHR StPO § 229 Abs. 1 - Sachverhandlung 3), vermag der Senat - nicht anders als der Generalbundesanwalt - dem Revisionsvorbringen nicht zu entnehmen.

Abgesehen davon ist der Senat der Auffassung, daß sich derartige Erwägungen bei nicht gänzlich fehlendem Sachbezug des Gegenstandes eines Sitzungstages für das Revisionsgericht grundlegend verbieten. Mangels Entscheidungserheblichkeit dieses von Entscheidungen des 4. Strafsenats (BGHR StPO § 229 Abs. 1 - Sachverhandlung 2; BGH StV 1998, 359; 1999, 635) möglicherweise divergierenden Standpunktes für den vorliegenden Fall kommt eine entsprechende Anfrage nach § 132 GVG jedoch nicht in Betracht. Letztlich würden die Rügen zudem hier auch aus den vom Generalbundesanwalt angestellten Erwägungen scheitern, weil das nach mehr als zweijähriger Hauptverhandlung ergangene Urteil auf dem geltend gemachten Verstoß nicht beruhen kann (vgl. BGHSt 23, 224, 225).

c) Gegen die Vollständigkeit des Vortrags zu der auf § 338 Nr. 3 StPO gestützten Verfahrensrüge des Angeklagten G, die sich auf Anregungen des Strafkammervorsitzenden zur Anwendung des § 154 StPO bezieht, bestehen zwar entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts keine Bedenken. Die Rüge hat indes aus den zutreffenden Gründen der Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs durch das Landgericht in der Sache keinen Erfolg.

d) Die auf Verletzung des § 261 StPO gestützten Verfahrensrügen des Angeklagten S könnten auch in der Sache keinen Erfolg haben. Abgesehen von der unbedenklichen Anwendung des Selbstleseverfahrens ist in keinem Fall ersichtlich, weshalb die gewonnenen Erkenntnisse nicht auch durch zulässigen, nicht protokollierungspflichtigen Urkundenvorhalt zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht worden sein sollten. Entgegen dem Revisionsvorbringen ist das Landgericht im Fall 2 nicht davon ausgegangen, daß der Angeklagte S ein Sicherstellungsprotokoll selbst unterzeichnet hätte.

2. Die Sachrügen der Angeklagten G und D bleiben insgesamt, die der Angeklagten R und S weitgehend erfolglos.

a) Die Nachprüfung der auf rechtsfehlerfreier Beweiswürdigung basierenden Schuldsprüche läßt keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten erkennen. Dies gilt auch für die gesamten Rechtsfolgenaussprüche bei den Angeklagten G und D. Daß die Sanktionen gegen diese Angeklagten im Ergebnis noch milder ausfallen könnten, wenn zusätzlich die unvertretbare Verfahrensverzögerung im Revisionsverfahren in Rechnung gestellt würde, ist auszuschließen. Bei den Angeklagten R und S wird dieser Gesichtspunkt bei den neu festzusetzenden Gesamtstrafen ergänzend mitzuberücksichtigen sein.

b) Bei dem Angeklagten R hat die Einsatzstrafe von zehn Monaten Freiheitsstrafe im Fall 6 - Körperverletzungen zum Nachteil von drei Personen betreffend, welche der Tatrichter kaum vertretbar, indes ohne den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler zu einer Tat zusammengefaßt sah - Bestand, ebenso die Einzelstrafe von vier Monaten Freiheitsstrafe im Fall 7, in dem die - unterbliebene - Erörterung besonderer Umstände im Sinne des § 47 StGB angesichts der Mitwirkung des Angeklagten an Mißhandlungen von insgesamt fünf vorläufig festgenommenen Personen an einem Tag ausnahmsweise entbehrlich war. Nicht verständlich bleibt jedoch die Verhängung einer Einzelstrafe von neun Monaten Freiheitsstrafe im Fall 8, mit der ein Unterlassen geahndet wurde. Die Höhe dieser Strafe, die aus dem nach § 13 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmen des § 340 Abs. 1 Satz 1 StGB gebildet wurde, ist im Blick auf die Verhängung einer Einzelstrafe von nur sechs Monaten Freiheitsstrafe gegen den in diesem Fall aktiven Täter G unverständlich. Möglicherweise hat das Landgericht in den Urteilsgründen bei der Strafzumessung die Fälle 7 und 8 verwechselt, sicher klären läßt sich dies indes angesichts des eindeutig abweichenden Wortlauts nicht. Eine Auswirkung des Rechtsfehlers auch auf die Bemessung der Gesamtfreiheitsstrafe - deren Festsetzung auf nur elf Monate bei niedrigerer Einzelstrafbemessung angesichts des ausgesprochen engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhanges der Taten nicht auszuschließen ist - bleibt möglich, so daß der Senat die Neufestsetzung der aufzuhebenden Einzelstrafe wie der Gesamtstrafe einem neuen Tatrichter überläßt.

Hierfür bedarf es allerdings nicht der Aufhebung von Feststellungen. Der neue Tatrichter wird neben sämtlichen maßgeblichen Feststellungen aus dem angefochtenen Urteil noch die nach Erlaß des ersten Urteils eingetretene Verfahrensverzögerung, gegebenenfalls auch neue widerspruchsfreie Feststellungen zur persönlichen Entwicklung des Angeklagten R zu berücksichtigen haben.

c) Bei dem Angeklagten S hat die Einsatzstrafe von acht Monaten Freiheitsstrafe im Fall 9 - einem Unterlassungsfall - keinen Bestand, weil der Tatrichter nicht mitteilt, ob er ebenso wie bei allen anderen Unterlassungsfällen, in denen er dies jeweils hinreichend zum Ausdruck gebracht hat, von der Milderungsmöglichkeit nach § 13 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB Gebrauch gemacht hat. Aus der Höhe der Einzelstrafe, die mehrere in Fällen aktiven Tuns verhängte Einzelstrafen übersteigt, geht nicht hervor, daß der Tatrichter von der Strafrahmenverschiebung Gebrauch gemacht hat. Freilich mag eine Versagung der Strafrahmenverschiebung öder auch die Höhe der verhängten Einzelstrafe trotz erfolgter Strafrahmenverschiebung aus dem Gewicht der konkreten Mißhandlung erklärbar sein, dies versteht sich indes ohne entsprechende tatrichterliche Wertung nicht von selbst.

Die gebotene Aufhebung der Einsatzstrafe zieht auch die Aufhebung der Gesamtstrafe - nicht anders als bei R unter Aufrechterhaltung sämtlicher Feststellungen - nach sich. Hingegen besteht kein Anlaß, auch die weitere ersichtlich rechtsfehlerfrei bemessene Einzelstrafe von sechs Monaten Freiheitsstrafe im Fall 2 mitaufzuheben.

3. Nach § 473 Abs. 1 Satz 2 StPO ist die Anordnung der Erstattung der - teils gesamtschuldnerisch zu tragenden (§ 472 Abs. 4, § 471 Abs. 4 Satz 2 StPO) - Nebenklägerauslagen für die Revisionen sämtlicher Angeklagten - auch derjenigen, bei denen ein geringer Teilerfolg möglich bleibt, der indes insoweit keinesfalls einen Nachlaß nach § 473 Abs. 4 Satz 2 StPO zuließe - bereits entscheidungsreif.

Die Kostenbeschwerden der teilweise freigesprochenen Angeklagten G und S sind offensichtlich unbegründet: Die Beschwerdeführer haben offenbar übersehen, daß der Tatrichter die erforderliche Teilentscheidung nach § 467 Abs. 1 StPO im Urteil jeweils getroffen hat.

Externe Fundstellen: NStZ 2000, 606; StV 2001, 386

Bearbeiter: Karsten Gaede