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Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 537/99, Urteil v. 15.12.1999, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 5 StR 537/99 - Urteil v. 15. Dezember 1999 (LG Hamburg)

Beweiswürdigung; Vergewaltigung; Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung

§ 177 Abs. 2 StGB; § 261 StPO; Art 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 63 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Einzelfall überspannter Anforderungen an die Überzeugungsbildung beim Vorwurf der Vergewaltigung.

Entscheidungstenor

Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 23. März 1998 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revisionen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Der Anklage lag der Vorwurf tateinheitlicher Vergewaltigung, sexueller Nötigung, gefährlicher Körperverletzung und Beleidigung zugrunde. Hiervon hat das Landgericht den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Von der Begehung eines Sexualverbrechens zum Nachteil der Nebenklägerin hat sich der Tatrichter nicht sicher zu überzeugen vermocht, lediglich davon, daß der Angeklagte rechtswidrig die tateinheitlich ausgeführten Vergehenstatbestände der vorsätzlichen, teils gefährlichen Körperverletzung und der Beleidigung erfüllt habe. Insoweit war er indes nach Auffassung des Tatrichters nicht ausschließbar schuldunfähig. Maßregeln der Sicherung und Besserung hat das Landgericht gegen den Angeklagten nicht verhängt.

Gegen das Urteil richten sich die jeweils auf die Sachrüge gestützten Revisionen der Staatsanwaltschaft - vertreten vom Generalbundesanwalt und der Nebenklägerin. Die Rechtsmittel haben Erfolg.

1. Die Beweiswürdigung des Landgerichts zum angeklagten Tatgeschehen hält sachlichrechtlicher Überprüfung nicht stand.

Das Landgericht ist der Zeugenaussage der Nebenklägerin zum Tathergang gefolgt. Danach suchte der Angeklagte, ihr früherer Freund, sie am Tattage in ihrer Wohnung auf. Sie wies dabei dessen Annäherungsversuche sofort zurück. Anschließend kam es zu einem mehrstündigen Kampf, der schließlich dadurch beendet wurde, daß die Nebenklägerin die Polizei rief. Im Rahmen des Kampfgeschehens schlug der Angeklagte die Nebenklägerin, zog sie an den Haaren, warf sie zu Boden, zerrte sie ins Schlafzimmer, fixierte sie auf dem Bett und drückte ihr bis zu massiver Luftnot ein Kissen aufs Gesicht, beleidigte sie ferner. Während der Zeit vollzog der Angeklagte mit ihr den Beischlaf und nahm sexuelle Manipulationen an ihr vor. Diese Feststellungen auf der Grundlage der insoweit als glaubhaft angesehenen Zeugenaussage der Nebenklägerin stehen weitgehend im Widerspruch zur eigenen Einlassung des Angeklagten zum Tatgeschehen (UA S. 22 ff.).

Bei dieser Sachlage ist die Berechtigung von Zweifeln des Landgerichts an der Bekundung der Nebenklägerin, der Angeklagte habe die festgestellten - von ihm weitgehend bestrittenen - sexuellen Handlungen gewaltsam durchgesetzt, kaum nachvollziehbar. Die in diesem Zusammenhang vorgenommene Beweiswürdigung steht in Widerspruch zur sonstigen Bewertung der Aussage der Nebenklägerin. Die Aussage war nämlich auch insoweit von Anfang an im wesentlichen konstant; die Nebenklägerin hat sie - wie vom Landgericht festgestellt - vor der Polizei sofort in erkennbar aufgelöstem Zustand und ohne für das Landgericht ersichtliches Falschbelastungsmotiv abgegeben. Vom Landgericht aufgezeigte Widersprüche zu Randdetails und einzelne - durchweg unschwer erklärbare - möglicherweise unwahre Angaben der Nebenklägerin zu Ereignissen vor der Tat sind nicht geeignet, Zweifel an ihren Bekundungen zum Tatgeschehen verständlich zu machen. Die vom Landgericht erwogene Alternative, die Nebenklägerin könne ungeachtet des Kampfgeschehens währenddessen sexuelle Befriedigung durch den Angeklagten gesucht und durchgesetzt haben, erscheint neben der sonstigen tatrichterlichen Beurteilung der Beweislage außerordentlich fernliegend. Angesichts der vom Landgericht selbst im Urteil aufgelisteten zahlreichen Gegenargumente gegen die Annahme einer Falschbelastung des Angeklagten durch die Nebenklägerin (UA S. 28 ff.), die, zumal in ihrer Gesamtheit, nicht hinreichend ausgeräumt werden, können die hier zur Nichtverurteilung herangezogenen tatrichterlichen Zweifel - abgesehen von der Widersprüchlichkeit der Beurteilung - nur als Überspannung der zur Verurteilung erforderlichen Überzeugungsbildung (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 16 m.w.N.) bewertet werden.

2. Die Ablehnung der Voraussetzungen des § 63 StGB wegen fehlender Wiederholungsgefahr hält sachlichrechtlicher Überprüfung ebenfalls nicht stand. Die tatricherliche Entscheidung steht im Gegensatz zu der Bewertung durch den psychiatrischen Sachverständigen, ohne daß das Landgericht irgendwelche näher begründeten Zweifel an dessen Beurteilung aufgezeigt hätte. Es hat ihr vielmehr lediglich eine ersichtlich gänzlich unzulängliche, eigene tatrichterliche Wertung entgegengesetzt (UA S. 34). Es kommt hinzu, daß es in diesem Zusammenhang an jeglicher - hier unerläßlicher - Erörterung des festgestellten wiederholten überaus auffälligen Vortatverhaltens des Angeklagten gegenüber anderen Personen (UA S. 8 ff., 12 f.) fehlt.

3. Das Urteil unterliegt daher insgesamt der Aufhebung. Da der Angeklagte es trotz der Feststellung der Begehung einer rechtswidrigen Tat im Zustand nicht auszuschließender Schuldunfähigkeit (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 1, § 32 Abs. 3 Nr. 3 BZRG) nicht hätte anfechten können (BGHSt 16, 374; a.A. Kuckein in KK 4. Aufl. § 337 Rdn. 41 m.w.N.), scheidet die Möglichkeit, ihn belastende Feststellungen zum äußeren Tathergang teilweise aufrechtzuerhalten, von vornherein aus (Kuckein aaO § 353 Rdn. 24). Die Sache bedarf daher umfassender neuer tatrichterlicher Überprüfung und Entscheidung.

Sollte dabei wiederum rechtswidriges Verhalten des Angeklagten festgestellt werden und - was ungeachtet der insoweit freilich rechtsfehlerfreien bisherigen gegenteiligen Beurteilung nicht gänzlich unmöglich erscheint Schuldunfähigkeit des Angeklagten ausschließbar sein, wird der neue Tatrichter bei dessen Bestrafung die im Revisionsverfahren eingetretene gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK verstoßende Verfahrensverzögerung zu berücksichtigen haben, welche der Generalstaatsanwalt bei dem Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg, bei dem die Akten über ein Jahr unerledigt liegen geblieben sind, zu verantworten hat (vgl. BGH, Beschluß vom 23. November 1999 - 5 StR 536/99 - m.w.N.).

Bearbeiter: Karsten Gaede