Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 190/99, Urteil v. 03.06.1999, HRRS-Datenbank, Rn. X
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 20. Oktober 1998 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Nachdem das Landgericht den Angeklagten vom Vorwurf der Rechtsbeugung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung freigesprochen und der Senat dieses Urteil auf die Revision der Staatsanwaltschaft mit Urteil vom 23. Juni 1998 (BGHR StGB § 339 Staatsanwalt 1 = NJW 1998, 2616) mit den Feststellungen aufgehoben hatte, hat das Landgericht den Angeklagten erneut aus tatsächlichen Gründen freigesprochen.
Die - vom Generalbundesanwalt vertretene - Revision der Staatsanwaltschaft hat mit der Sachrüge Erfolg. Der Freispruch hält sachlichrechtlicher Prüfung wiederum nicht stand. Wegen des unverändert festgestellten Sachverhalts wird auf das erste Senatsurteil Bezug genommen.
1. Der Senat hat bindend festgestellt, daß der Angeklagte - Generalstaatsanwalt von Berlin (Ost) - mit dem Bericht über den Beginn der Ermittlungen an den stellvertretenden Generalstaatsanwalt der DDR konkludent entschieden hat, die Untersuchungshaft gegen die Beschuldigten fortdauern zu lassen, und daß diese Entscheidung angesichts des Vorwurfs gemeinschaftlicher Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit (§ 214 Abs. 1 und 3 StGB-DDR) in einem Fall "schlichter Paßvorlage" ebenso objektiv rechtsbeugerisch gewesen ist wie der später vom Angeklagten gezeichnete Strafvorschlag. Daß der eine der Beschuldigten drei Jahre zuvor versucht hatte, die DDR "illegal" zu verlassen, gab im vorliegenden Fall keinen Anlaß zur abweichenden Beurteilung. Dieser aus DDR-Sicht möglicherweise belastend zu bewertende Umstand war - wie die völlig gleichartige Behandlung des zweiten unbelasteten Beschuldigten erweist - für die Anordnung der Untersuchungshaft und die Strafbemessung hier nicht herangezogen worden.
2. Während der Angeklagte sich in der ersten Hauptverhandlung nicht zur Sache eingelassen hatte, hat er nunmehr eine - schriftlich formulierte Einlassung zu seiner Überzeugung von der tadellosen Arbeit seiner nachgeordneten Staatsanwälte, zu seinen vielfältigen Aufgaben als Behördenleiter zur Tatzeit und zu seiner daraus resultierenden nicht gründlichen Überprüfung abgegeben. Auch diese sehr allgemein gefaßte Erklärung bot dem neuen Tatrichter indes keine tragfähige Grundlage, die Voraussetzungen des erforderlichen direkten Rechtsbeugungsvorsatzes zu verneinen.
a) Es kann dahinstehen, ob ohne nähere konkrete Anhaltspunkte in der Einlassung des Angeklagten oder auch sonst zu seinen Gunsten zu unterstellen war, er habe den von ihm unterzeichneten, auf einen anderen Verfasser nicht hindeutenden Bericht nicht selbst verfaßt und seinen Inhalt bei Unterzeichnung nur flüchtig zur Kenntnis genommen.
Selbst unter diesen tatsächlichen Voraussetzungen ergab der Bericht eindeutig, daß sich das "provozierende Verhalten" der beiden jungen Männer an der Grenzübergangsstelle auf die Äußerung ihres Ausreisewunsches unter Vorlage ihres Personalausweises beschränkt hatte. Irgendwelche Anhaltspunkte für sonstiges provokatives Verhalten oder eine entsprechende Absicht waren dem Bericht nicht zu entnehmen oder danach auch nur zu erwarten. Mit seinen entsprechenden Mutmaßungen (UA S. 23 f. ) vernachlässigt der Tatrichter den Umstand, daß das Verhalten der "schlichten Paßvorlage", wie es den Beschuldigten angelastet wurde, damals eine nicht vereinzelt gebliebene Methode Ausreisewilliger gewesen ist, die damit ihre Verhaftung mit dem Ziel des Freikaufs provozieren wollten. Der Tatrichter mißachtet ferner in diesem Zusammenhang die von ihm selbst festgestellte Tatsache (UA S. 21 f.), daß die "schlichte Paßvorlage" von den Verantwortlichen der DDR-Strafjustiz - in objektiver Überdehnung der Strafnorm - unter den Straftatbestand des § 214 StGB-DDR subsumiert wurde, ferner, daß für dieses Verhalten verbreitet zu vollstreckende Freiheitsstrafe verhängt und daß im Blick darauf auch üblicherweise Untersuchungshaft angeordnet und vollstreckt wurde. Daß diese Sanktionierung eindeutig rechtsbeugerisch war und mindestens insoweit regelmäßig - im Blick auf die Kenntnis vom Bagatellcharakter des sanktionierten Verhaltens - direkter Rechtsbeugungsvorsatz nachweisbar ist, wird durch den Umstand verbreiteter entsprechender Praxis der DDR-Justiz gleichwohl nicht in Frage gestellt (vgl. BGHR StGB § 336 DDR-Recht 27- DDR-Richter 2 - jeweils m.w.N.).
Wie der Senat in seinem ersten Urteil in dieser Sache ausdrücklich entschieden hat, unterscheidet sich der Fall angesichts der Einfachheit und Eindeutigkeit des zugrunde liegenden Sachverhalts "schlichter Paßvorlage" grundlegend von dem vom Senat als deutlich komplexer bewerteten Sachverhalt, der Gegenstand des Senatsurteils vom 15. September 1995 - 5 StR 23/95 - (BGHR StGB § 336 Staatsanwalt 2) war. Die gegenteiligen Erwägungen des Tatrichters vernachlässigen dies.
b) Wenn der Angeklagte, wie seiner Einlassung zu entnehmen gewesen sein mag, bei Unterzeichnung des Strafvorschlages keine gründliche Prüfung des Falles vorgenommen hätte, könnte dies seinen direkten Vorsatz, mit dem Strafvorschlag Beihilfe zu Rechtsbeugung und Freiheitsberaubung zu leisten, nicht in Frage stellen. Dies ist unter der Voraussetzung, daß er vom Gegenstand des Anklagevorwurfs gegebenenfalls auch nur flüchtig Kenntnis genommen hatte, offensichtlich. Für die Unterstellung des Tatrichters, er könne den Zettel mit dem Strafvorschlag ohne Akte und ohne jede Kenntnis von dem Fall unterzeichnet haben, bestand ohne entsprechenden. konkreten Anhalt in der Einlassung des Angeklagten, die gegebenenfalls kritisch zu überprüfen gewesen wäre, keine tragfähige Grundlage. Die weitergehende Unterstellung des Tatrichters, der Angeklagte könne gar von nachgeordneten Staatsanwälten unzutreffend informiert worden sein, erweist sich, zumal im Blick auf die offenkundige verbreitete rechtsbeugerische Praxis der DDR-Strafjustiz in Fällen "schlichter Paßvorlage", als haltlose Vermutung.
3. Nicht anders als beim ersten Senatsurteil kommt eine andere, den Angeklagten weitergehend belastende Entscheidung als umfassende Aufhebung und Zurückverweisung nicht in Betracht, wenngleich nicht abzusehen ist, daß ein neuer Tatrichter bei nicht wesentlich veränderter Beweislage in gebotener strikter Beachtung der Bindungswirkung dieses und des ersten Senatsurteils (§ 358 Abs. 1 StPO) wiederum zur Freisprechung des Angeklagten gelangen könnte.
Bearbeiter: Karsten Gaede