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Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 407/98, Urteil v. 16.12.1998, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 5 StR 407/98 - Urteil vom 16. Dezember 1998 (LG Berlin)

Voraussetzungen der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus; dissoziale-antisoziale Persönlichkeitsstörung; schwere andere seelische Abartigkeit; Auswahl unter möglichen Maßregeln

§ 20 StGB; § 21 StGB; § 63 StGB; § 72 Abs. 1 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Auch nicht pathologisch bedingte Störungen können Anlaß für die Unterbringung nach § 63 StGB sein, wenn sie in ihrem Gewicht den krankhaften seelischen Störungen entsprechen (BGHSt 34, 22, 28). Dies erfordert, daß die Störungen beim Täter in ihrer Gesamtheit sein Leben vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen stören, belasten oder einengen wie krankhafte seelische Störungen (BGHSt 37, 397, 401).

2. Sind die tatbestandlichen Voraussetzungen mehrerer Maßregeln erfüllt, so ist zunächst zu prüfen, ob ihr Zweck auch durch die Anordnung nur einer Maßregel erreicht werden kann, § 72 Abs. 1 Satz 1 StGB. Erst dann ist Raum für die Wahl des milderen Mittels gemäß § 72 Abs. 1 Satz 2 StGB.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 19. Januar 1998 im gesamten Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Auf die Revision des Angeklagten wird der Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung auch über die Kosten der Rechtsmittel an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexueller Nötigung, schwerem Raub, Freiheitsberaubung, vorsätzlicher Körperverletzung und Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen wenden sich die Staatsanwaltschaft mit der allein auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützten und auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Revision, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, und der Angeklagte mit der umfassenden, auf die allgemeine Sachrüge und zum Schuldspruch auch auf Verfahrensrügen gestützten Revision. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist hinsichtlich des Rechtsfolgenausspruchs erfolgreich, die Revision des Angeklagten hinsichtlich des Maßregelausspruchs; die weitergehende Revision des Angeklagten bleibt ohne Erfolg.

Der Angeklagte ist im Jahr 1981 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung und wegen Diebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten, im Jahr 1983 wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren und im Jahr 1992 wegen räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Er befand sich seit dem Alter von 23 Jahren neben kurzen Unterbrechungen in Haft.

Am 19. September 1996 beging er, 38jährig, während eines Haftausgangs folgende Tat: Er suchte die Nebenklägerin, die - wie er wußte, schwangere - Ehefrau eines einsitzenden Haftgenossen, in ihrer Wohnung auf. Zunächst setzte er ihr ein Küchenmesser an den Hals und später an den Oberkörper. Während des gesamten weiteren Tatgeschehens lag das Messer griffbereit auf einem Tisch. Der Angeklagte drohte der Nebenklägerin, die wußte, daß der Angeklagte bereits eine Frau getötet hatte, er werde sie "töten müssen", und - in Anspielung auf die im Nebenzimmer weilenden Kinder der Nebenklägerin - er wolle nicht, daß die Kinder ihre "Mutter verlieren". Er fesselte im Verlauf des Geschehens zeitweise Hände und Füße der Nebenklägerin in verschiedener Art und verband ihr zeitweise die Augen. Er zwang die an den Händen Gefesselte, ihn durch das Treppenhaus zu begleiten, um im Parterre abgestellte Getränke zu holen, und zwang die Gefesselte, alkoholische Getränke zu trinken. Er zog die Frau gewaltsam aus, zerrte an ihren Haaren und schlug ihr mit der Faust und später mit der Hand ins Gesicht. Mit alledem erzwang der Angeklagte, die Todesangst der Frau und ihre Angst um ihre Kinder ausnutzend, die sechsmalige fellatio, die Duldung von Geschlechtsverkehr und anderen sexuellen Handlungen. Nach Samenerguß in den Mund und Erbrechen der Nebenklägerin zwang der Angeklagte sie zum Schlucken von Samen und Erbrochenem. Schließlich nahm der Angeklagte unter Ausnutzung der vorherigen Gewaltanwendungen und Drohungen 100,- DM Bargeld weg. Das Tatgeschehen zog sich etwa 14 Stunden hin.

I.

Die Revision des Angeklagten ist offensichtlich unbegründet, soweit das Rechtsmittel sich gegen den Schuldspruch und den Strafausspruch richtet. Die Verfahrensrügen sind entweder nicht in zulässiger Weise (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) erhoben oder aber unbegründet.

II.

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft ist der Rechtsfolgenausspruch aus sachlichrechtlichen Gründen aufzuheben.

1. Der Strafausspruch ist mit einem Rechtsfehler zugunsten des Angeklagten behaftet.

Das Landgericht hat zur Begründung eines minder schweren Falles gemäß § 250 Abs. 2 StGB a.F. angeführt, daß sich die konkludente Drohung als bloßes Ausnutzen der zuvor eingesetzten Gewalt und damit "eher im unteren Bereich der Tatbestandsmäßigkeit bewegte" (UA S. 30), und ebenso bei der konkreten Strafzumessung zugunsten des Angeklagten berücksichtigt, daß die Verwirklichung des Tatbestandes des § 177 Abs. 1 StGB a.F. hinsichtlich des Einsatzes von Nötigungsmitteln sich "eher im unteren Bereich der Tatbestandsmäßigkeit bewegte" (UA S. 32). Beides ist angesichts des Tatbildes, das von der Anwendung zahlreicher schwerer Gewaltformen und Tötungsdrohungen über einen langen Zeitraum geprägt wird, wertungsfehlerhaft.

2. Der Maßregelausspruch ist in zweierlei Hinsicht rechtsfehlerbehaftet.

a) Zum einen sind die Voraussetzungen des § 21 StGB und damit die Bedingungen für eine Unterbringung nach § 63 StGB nicht hinreichend festgestellt, was den Angeklagten beschwert. Das von zwei medizinischen Sachverständigen beratene Landgericht hat die Voraussetzungen des § 21 StGB aufgrund einer dissozialen (antisozialen) Persönlichkeitsstörung angenommen und darin offenbar eine schwere andere seelische Abartigkeit im Sinne des § 20 StGB gefunden. Es handele sich um eine spezielle Ausdrucksform früh einsetzender innerer Verwahrlosung, die sich insbesondere jetzt noch immer im inneren Erleben und Verhalten bei der Beziehungsgestaltung und der Impulskontrolle störend bemerkbar mache. Aufgrund mangelhaften Selbstwertgefühls und unausgereifter Abwehrmechanismen entstünde in Versagungssituationen, in denen Anerkennungs- und Zuwendungsbedürfnis stark frustriert würden, eine Überforderung der Psyche des Angeklagten, die für ihn nur sehr schwer kontrollierbare Aggressionen in ihm auslösen würde. Es sei anzunehmen, daß zumindest in Situationen, in denen das Selbstwerterleben oder Zuwendungsbedürfnisse des Angeklagten besonders stark frustriert würde, sein psychischer Apparat derart massiv überfordert werde, daß seine Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt sei.

Allerdings können auch nicht pathologisch bedingte Störungen Anlaß für die Unterbringung nach § 63 StGB sein, wenn sie in ihrem Gewicht den krankhaften seelischen Störungen entsprechen Die Diagnose einer "dissozialen (antisozialen) Persönlichkeitsstörung" läßt jedoch für sich genommen eine Aussage zur Frage der Schuldfähigkeit des Täters nicht zu (vgl. BGHSt 42, 385 m. Anm. Kröber und Dannhorn NStZ 1998, 80, 81; BGHR StGB 21 seelische Abartigkeit 13). Vielmehr bedarf es einer Gesamtschau, ob die Störungen beim Täter in ihrer Gesamtheit sein Leben vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen stören, belasten oder einengen, wie krankhafte seelische Störungen (BGHSt 37, 397, 401). Den Urteilsgründen ist nicht zu entnehmen, daß das Landgericht diesen Anforderungen gerecht geworden ist. Eine Erörterung war umso mehr geboten, als derjenige Sachverständige, dem sich das Landgericht im Ergebnis nicht angeschlossen hat, in der Persönlichkeitsstruktur des Angeklagten keine erheblich von der Norm abweichenden Besonderheiten feststellen konnte.

b) Zum anderen begünstigt es den Angeklagten, daß die Strafkammer nicht hinreichend geprüft hat, ob seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung - statt oder neben der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus - anzuordnen war.

Das Landgericht hat hierzu lediglich ausgeführt: "Nur die verhältnismäßigere Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus verhindert die Anordnung der Sicherungsverwahrung, deren Voraussetzungen formell und materiell erfüllt sind" (UA S. 33). Damit hat der Tatrichter dem System der in § 72 Abs. 1, 2 und 3 Satz 1 StGB enthaltenen Regelungen nicht hinreichend entsprochen. Aufgrund der Bejahung der Voraussetzungen einer Anordnung der Sicherungsverwahrung hätte das Landgericht zunächst nach § 72 Abs. 1 Satz 1 StGB prüfen müssen, ob der Zweck der Sicherungsverwahrung auch durch die Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB erreicht werden kann. Erst nach Bejahung dieser Frage wäre Raum dafür gewesen, der weniger beschwerenden Maßregel nach § 63 StGB den Vorzug zu geben. Bei Verneinung der genannten Frage hätte nach § 72 Abs. 2 und 3 Satz 1 StGB entschieden werden müssen (vgl. zu alledem BGHSt 5, 312, 314; BGHR StGB § 72 Sicherungszweck 1 und 4; BGH NStZ 1981, 390 und 1995, 284).

Nach dem vorstehend zu II. 2.a) Gesagten ist der Maßregelausspruch auch auf die Revision des Angeklagten aufzuheben.

Externe Fundstellen: NStZ-RR 1999, 77

Bearbeiter: Ulf Buermeyer