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Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 302/98, Urteil v. 17.12.1998, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 5 StR 302/98 - Urteil vom 17. Dezember 1998 (LG Frankfurt/Oder)

Anordnung der Sicherungsverwahrung; Hypothetische Gesamtstrafe; Maßgeblicher Zeitpunkt für die Gefährlichkeitsprognose

§ 66 Abs. 2 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Anordnung einer Sicherungsverwahrung gem. § 66 Abs. 2 StGB - ohne frühere Verurteilung - erfordert die Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von mindestens drei Jahren, der drei vorsätzliche Taten mit einer Strafe von jeweils mindestens einem Jahr zugrunde liegen müssen. Wird im Strafausspruch eine Gesamtstrafe aus den der Anordnung der Sicherungsverwahrung zugrundeliegenden Einzelstrafen und weiteren Strafen gebildet, so ist es für die Annahme des § 66 Abs. 2 StGB erforderlich, im Urteil eine hypothetische Gesamtstrafe nur aus den der Anordnung zugrundeliegenden Einzelstrafen zu bilden, die ihrerseits mindestens drei Jahre betragen muß.

2. Die Gefährlichkeitsprognose im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB ist grundsätzlich für den Zeitpunkt des tatrichterlichen Urteils zu stellen. Zwar können auch solche Gesichtspunkte beachtlich sein, die auf den voraussichtlichen Zeitpunkt der Entlassung aus dem Strafvollzug abstellen, etwa die Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs oder das hohe Alter des Angeklagten nach der Strafverbüßung. Dies gilt jedoch nur im Rahmen der Ermessensentscheidung gemäß § 66 Abs. 2 StGB.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteils des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 17. Dezember 1997 wird verworfen.

Der Angeklagte hat die Kosten des Rechtsmittels und die dadurch den Nebenklägern entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von Jugendlichen in zwölf Fällen und wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt und die Sicherungsverwahrung des Angeklagten angeordnet. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten bleibt ohne Erfolg.

Der mehrfach einschlägig bestrafte Angeklagte beging folgende Taten: In zwölf Fällen mißbrauchte er den geistig retardierten, damals 14 oder 15 Jahre alten Nebenkläger S im Zeitraum zwischen Anfang September 1996 und Mitte Dezember 1996 jeweils gleichermaßen. Zunächst führte er Schenkelverkehr bis zum Samenerguß durch. Anschließend vollzog er den Analverkehr, wobei er mit seinem Körpergewicht und seinen Händen, mit denen er die Arme des bäuchlings liegenden Opfers umfaßte, dessen Bewegungsfreiheit einschränkte. Danach forderte er den Jungen auf, gleichartige Handlungen auch an ihm vorzunehmen. Der Angeklagte gab dem S für die Vorkommnisse jeweils Geldbeträge zwischen 20 und 70 DM und gelegentlich Zigaretten. Der Angeklagte legte sich am 1. Mai 1997 auf den damals 8jährigen Nebenkläger Sch . küßte den Jungen intensiv im Gesicht und führte geschlechtsverkehrsähnliche Bewegungen durch, wobei beide bekleidet waren. Anschließend vollzog der Angeklagte vor den Augen dieses Zeugen mit dem ebenfalls 8jährigen Nebenkläger J, der dabei weinend um Beendigung bat, den Analverkehr. Nach Weggehen des J wandte der Angeklagte sich nochmals dem Zeugen Sch zu, berührte dessen bedecktes Geschlechtsteil und gab ihm einen Zungenkuß.

I. Ohne Rechtsfehler hat die Strafkammer in den Taten gegen S zwölf Fälle des sexuellen Mißbrauchs von Jugendlichen nach § 182 Abs. 1 Nr. 1 StGB gefunden und Einzelfreiheitsstrafen von einem Jahr und zwei Monaten für den ersten Fall sowie von jeweils elf Monaten für die weiteren elf Fälle verhängt. Gleichermaßen rechtsfehlerfrei hat das Landgericht in den drei Taten gegen die beiden 8jährigen Jungen jeweils einen sexuellen Mißbrauch von Kindern nach § 176 Abs. 1 StGB erkannt und folgende Einzelfreiheitsstrafen festgesetzt: Ein Jahr Freiheitsstrafe wegen der ersten Tat gegen Sch, zwei Jahre Freiheitsstrafe wegen des Analverkehrs an J bei Annahme eines besonders schweren Falles im Sinne des § 176 Abs. 3 StGB a.F. und neun Monate Freiheitsstrafe wegen der letzten Tat zum Nachteil des Sch unter Annahme eines minder schweren Falles nach § 176 Abs. 1 a.E. StGB.

II. Auch die auf § 66 Abs. 2 StGB gestützte Anordnung der Sicherungsverwahrung hält sachlichrechtlicher Prüfung stand.

1. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen dreier vorsätzlicher Straftaten jeweils zu Freiheitsstrafen von mindestens einem Jahr verurteilt und dargelegt, daß es den Angeklagten wegen dieser drei Taten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt hätte, wenn allein aus diesen drei Einzelstrafen eine Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden gewesen wäre (vgl. zum Erfordernis einer solchen hypothetischen Gesamtstrafe BGH NJW 1995, 3263 m. Anm. Dölling StV 1996, 542).

2. Auch hat der Tatrichter, dem Sachverständigen folgend, die Gefährlichkeitsprognose im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB rechtsfehlerfrei gestellt. Dabei liegt ein Rechtsfehler, wie vom Generalbundesanwalt besorgt, auch nicht etwa insofern vor, als der Tatrichter die Wirkungen des Vollzugs der Strafe in seine Entscheidung nicht einbezogen hätte.

Auszugehen ist davon, daß die Gefährlichkeitsprognose grundsätzlich für den Zeitpunkt des tatrichterlichen Urteils zu stellen ist (Hanack in LK, 11. Auflage 66 Rdn. 150; Tröndle, StGB, 48. Aufl. 5 66 Rdn. 15a je m.N. der Rspr.). Dies gilt insbesondere angesichts dessen, daß der Gesetzgeber in § 67c Abs. 1 StGB dem Vollstreckungsgericht die Aufgabe zugewiesen hat, vor dem Ende des Vollzugs der Strafe zu prüfen, ob der Zweck der Maßregel die Unterbringung noch erfordert (vgl. Hanack aaO).

Allerdings hat der Bundesgerichtshof verschiedentlich ausgesprochen, daß auch solche Gesichtspunkte beachtlich sein können, die auf den voraussichtlichen Zeitpunkt der Entlassung aus dem Strafvollzug abstellen. Solche Gesichtspunkte können jedoch nur im Rahmen der Ermessensentscheidung gemäß § 66 Abs. 2 StGB Beachtung finden (vgl. BGH, Urteil vom 28. Mai 1998 - 4 StR 17/98 -).

So hat der Bundesgerichtshof entschieden, daß die Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs und das hohe Alter des Angeklagten nach der Strafverbüßung zu seinen Gunsten berücksichtigt werden dürfen (BGHR StGB § 66 Abs. 2 Ermessensentscheidung 3; BGH StV 1982, 114; BGH, Beschluß vom 16. Dezember 1980 - 5 StR 666/80 -) und daß solche Gesichtspunkte im Einzelfall auch zu seinen Gunsten zu berücksichtigen sind (BGHR StGB § 66 Abs. 2 Ermessensentscheidung 4, 5; BGH NStZ 1996, 331, 332; BGH StV 1996, 541; BGH, Beschluß vom 3. August 1995 -5 StR 259/95 -; BGH, Urteil vom 17. Juli 1996 - 5 StR 121/96 -, insoweit in BGHSt 42, 191 nicht abgedruckt).

Auch diesen Gesichtspunkt hat die Strafkammer erkennbar bedacht, denn sie hat hervorgehoben, daß die bereits verbüßten Strafen wegen weitgehend einschlägiger Delikte keine Wende im Verhalten des erst 37jährigen Angeklagten herbeiführen konnten (UA S. 28). Damit hat die Strafkammer daran angeknüpft, daß folgende Strafverbüßungen ohne den erhofften Erfolg blieben: Die Verbüßung einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten wegen Vergewaltigung und vorsätzlicher Körperverletzung aus einer Verurteilung im Jahr 1981, die Verbüßung einer Freiheitsstrafe von einem Jahr wegen vorsätzlicher Körperverletzung und Verstoßes gegen die Verordnung zur Bekämpfung und Verhütung von Geschlechtskrankheiten aus einer Verurteilung im Jahr 1985, die Verbüßung einer Freiheitsstrafe von drei Jahren wegen mehrfachen sexuellen Mißbrauchs Jugendlichen und mehrfachen sexuellen Mißbrauchs von Kindern aus einer Verurteilung im Jahr 1987, dies alles in der DDR erfolgt, schließlich die Teilverbüßung einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in zwei Fällen aufgrund einer Verurteilung aus dem Jahr 1994, mit der zugleich die vorweg vollzogene Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet worden war.

3. Schließlich hat das Landgericht sein ihm durch § 66 Abs. 2 StGB überantwortetes Ermessen (vgl. BGHSt 24, 345, 348; BGH StV 1996, 541; BGHR StGB § 66 Abs. 2 Ermessensentscheidung 1 bis 5) ausgeübt und dies in den Urteilsgründen erkennbar gemacht. Mit den Worten "darüber hinaus war die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2 StGB anzuordnen" (UA S. 25) leitet das Landgericht im Urteilsstil die Begründung der Maßregelanordnung ein. Anders als der Generalbundesanwalt unter Berufung auf BGH NStZ 1996, 331, 332 (vgl. auch BGH StV 1996, 541) sieht der Senat hier in dieser Formulierung keinen Beleg dafür, daß der Tatrichter sich etwa nicht dessen bewußt gewesen wäre, daß ihm nach § 66 Abs. 2 StGB eine Ermessensentscheidung oblag. Insbesondere werden die umfangreichen Erwägungen des Landgerichts zu § 66 Abs. 2 StGB (UA S. 25 bis 29) in der Wertung zusammengefaßt, daß es unter Berücksichtigung der erwogenen Umstände die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung "für unerläßlich (erachte)".

Externe Fundstellen: NStZ-RR 1999, 301

Bearbeiter: Ulf Buermeyer