Bearbeiter: Rocco Beck
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 67/96, Urteil v. 03.12.1996, HRRS-Datenbank, Rn. X
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 13. Juni 1995 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit es den Angeklagten M. betrifft.
Insoweit wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten M. vom Tatvorwurf der Anstiftung zu tateinheitlich mit vorsätzlicher Körperverletzung verübter Freiheitsberaubung freigesprochen. Den - während - des Laufs des Revisionsverfahrens verstorbenen - Mitangeklagten T. hat das Landgericht hingegen deshalb zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt.
1. Der verstorbene Mitangeklagte war zur Tatzeit (1954/1955) im Range eines Majors stellvertretender Leiter der für Spionageabwehr zuständigen Abteilung 4 der Hauptabteilung II des damaligen Staatssekretariats für Staatssicherheit(SfS) in (Ost-)Berlin. Der Angeklagte M. war im Range eines Hauptmanns Leiter der Abteilung II der Bezirksverwaltung des SfS in M.
Beide waren im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit mit der Verschleppung des W. v. A. in die DDR befaßt. Dieser war seit 1952 für die "Organisation Gehlen" die Vorgängerorganisation des Bundesnachrichtendienstes, tätig.
Der in (West-)Berlin ansässige v. A. wurde am 24. März 1955 von einer "Operativgruppe" des SfS unter einem Vorwand in eine im Westteil der Stadt gelegene Wohnung gelockt, dort durch ein in Kaffee verabreichtes Betäubungsmittel willenlos gemacht, in einen bereitstehenden Wagen verbracht und in einer rund halbstündigen Autofahrt nach (Ost-)Berlin in die Untersuchungshaftanstalt H. verschleppt. Dort befand sich v. A. zunächst aufgrund eines - durch Unterschrift von Erich Mielke, damals stellvertretender Staatssekretär für Staatssicherheit im Ministerium des Inneren der DDR, bestätigten - Haftbeschlusses des SfS vom 24. März 1995 sowie anschließend aufgrund eines Haftbefehls des Stadtbezirksgerichts Berlin-Mitte - vom 25. März 1955 in Untersuchungshaft. Am 6. Juni 1955 eröffnete das Oberste Gericht der DDR gegen ihn das Hauptverfahren und ordnete zugleich die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Am 13. Juni 1955 wurde v. A. wegen "Verbrechens gegen Art. 6 der Verfassung der DDR" zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Er wurde nach mehr als neun Jahren Haft von der Bundesrepublik Deutschland "freigekauft" und im September 1964 aus der Haft entlassen.
Die Angeklagten waren mit der Planung und Vorbereitung der Entführung befaßt. Der Angeklagte M. hatte den Verschleppungsplan entwickelt, der unter anderem den Einsatz des für das SfS tätigen und unter der Leitung M.s stehenden Doppelagenten F. W. (Deckname "Schütte" vorsah, der wiederum auch von v. A. geführt wurde. M.s Anfang Dezember 1954 sowie Mitte Februar 1955 niedergelegte "Festnahmepläne", die jeweils einen bestimmten Tag der Tatausführung vorsahen, wurden an diesen Tagen (9. Dezember 1954 bzw. 19. Februar 1955) aus internen Gründen des SfS allerdings nicht umgesetzt.
Nach den Urteilsfeststellungen wurde dem Mitangeklagten T. im März 1955 die Führung des Doppelagenten "Schütte" übertragen. T. zeichnete unter dem 22. März 1955 den zwei Tage später ausgeführten "Festnahmeplan" sowie einen weiteren, die Verschleppung v. A. betreffenden "Plan zur Durchführung operativer Maßnahmen" ab.
2. Das Landgericht hat den von ihm festgestellten Sachverhalt wie folgt gewürdigt:
a) Die Strafkammer sah im Verhalten des Mitangeklagten T. eine Anstiftung zu einer tateinheitlich mit vorsätzlicher Körperverletzung verübten Freiheitsberaubung (§ 223 Abs. 1, 239 Abs. 1, § 48 RStGB; § 115 Abs. 1 § 131 Abs. 1, § 22 Abs. 2 Nr. 1 StGB-DDR; § 223, § 239 Abs. 1,§ 26 StGB). Eine Haftung wegen qualifizierter Freiheitsberaubung (§ 239 Abs. 2 StGB, § 131 Abs. 2 StGB-DDR) scheide aus. Soweit die Freiheitsentziehung im östlichen Teil Berlins fortgesetzt wurde, sei dies durch das SfS-Statut vom 15. Oktober 1953, das in seiner Nr. 4 a) das Recht vorgesehen habe, "Verhaftungen von feindlichen Spionen, Agenten und Diversanten vorzunehmen", gerechtfertigt. Soweit es um die Beurteilung der Haupttat auf dem Gebiet des westlichen Teils von Berlin gehe, stehe dem Angeklagten indes kein Rechtfertigungsgrund zur Seite; die Berechtigung zu Verhaftungen habe sich, anerkannten Regeln des Völkerrechts entsprechend, auf das Staatsgebiet der DDR beschränkt.
b) Den Angeklagten M. hat die Strafkammer freigesprochen. Dieser Angeklagte sei lediglich an den nicht umgesetzten Festnahmeplänen bis Mitte Februar 1955 nicht jedoch an dem schließlich verwirklichten Plan vom 22. März 1955 beteiligt gewesen. Dieser Plan habe eine neue zur Tat führende Kausalkette in Gang gesetzt.
Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit der Revision gegen den Freispruch des Angeklagten M. Sie erhebt die Sachrüge und beanstandet mit einer Verfahrensrüge die Verletzung des § 244 Abs. 2 StPO.
II. Die - vom Generalbundesanwalt vertretene - Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Auf die Verfahrensrüge kommt es nicht an, da die Sachrüge durchdringt.
1. Das Landgericht stellt zu hohe Anforderungen an den Teilnehmervorsatz (vgl. grundlegend zur Anstiftung BGHSt 34, 63).
a) Der Vorsatz eines Teilnehmers - sei er Anstifter, sei er Gehilfe - muß sich auf die Ausführung einer nicht in allen Einzelheiten, wohl aber in ihren wesentlichen Merkmalen oder Grundzügen konkretisierten Tat richten; als wesentlich für den Vorsatz des Teilnehmers sind jedenfalls diejenigen Tatumstände anzusehen, deren Kenntnis die Begehung der Haupttat hinreichend wahrscheinlich werden läßt (vgl. zuletzt BGH NJW 1996, 2517 - zum Abdruck in BGHSt bestimmt - m.w.N.). Für den Teilnehmer ist es dabei nicht erforderlich, daß er in seine Vorstellung solche Einzelheiten wie Tatort, Tatzeit und Tatopfer aufnimmt und die jeweils unmittelbar handelnde Person im Einzelfall individuell kennt (vgl. BGHSt 40, 218, 231).
b) Danach kann - auch mit Blick auf das Recht der DDR (vgl. BGHSt 40, 218, 231 m.N.) - nicht zweifelhaft sein, daß bei dem Angeklagten M. ein den Anforderungen an den Teilnehmervorsatz entsprechendes Wissen um die Haupttat vorlag. Der Angeklagte kannte lediglich den genauen Tattag und(möglicherweise) die Identität der Mitglieder der Operativgruppe nicht, während das objektive Tatgeschehen im übrigen dem von ihm ausgearbeiteten Verschleppungsplan entsprach. Die Strafkammer stellt ausdrücklich fest. (UA S. 22 f.): "Seine vorbereitenden Maßnahmen blieben so für das Bild der Entführung vom 24. März 1955 prägend." Daß die vom Angeklagten M. ausgearbeiteten und schriftlich fixierten Tatpläne nach Verstreichendes zunächst in Aussicht genommenen Tattages jeweils erneut schriftlich niedergelegt wurden, begründet keine neue oder andere Tat (vgl. zum verfahrensrechtlichen- Tatbegriff in einem ähnlich gelagerten Fall auch BGHSt, 41, 292, 297 ff.). Der ergebnislose Ablauf dieser Tage hatte gerade nicht zur Folge, daß der Verschleppungsplan endgültig aufgegeben und erst mit erneuter schriftlicher Niederlegung wieder gefaßt worden wäre. Die Umsetzung der vom Angeklagten M. vorbereiteten Entführung scheiterte zunächst lediglich "aus Gründen im Bereich" des SfS (UA S. 5). Diese offensichtlich organisatorischen Gründe ließen die durchgehende Absicht des Angeklagten M. "eine weitere Tätigkeit v. A. zu unterbinden"(UA S. 4), unberührt.
Es liegt auf der Hand, daß die zeitliche Verschiebung der Entführung für die auch an der früheren Planung Beteiligten keine Strafbarkeit wegen mehrerer Taten durch etwa strafbare Vorbereitung (§ 30 StGB) und demgegenüber tatmehrheitliche Teilnahme an der dann ausgeführten Entführung zur Folge gehabt hätte.
Ob die Mitwirkung des Angeklagten M. als Anstiftung oder - gegebenenfalls auch im Blick auf eventuelle doch wesentlichere Änderungen in der Planung nach der Verschiebung - als Beihilfe zu werten ist, wird der neue Tatrichter ebenso zu prüfen haben wie die selbstverständlich erneut zu prüfende Frage, ob M. in die letzte Planung unmittelbar vor der tatsächlich durchgeführten Entführung doch selbst eingebunden war; hierbei werden die zur Begründung der Verfahrensrüge von der Staatsanwaltschaft bezeichneten Beweismittel zu berücksichtigen sein.
2. Die Auffassung des Landgerichts zur Strafbarkeit der Entführung, welche der Verurteilung des verstorbenen Mitangeklagten T. zugrunde lag, ist im Ergebnis in jeder Beziehung zutreffend. Soweit die Staatsanwaltschaft - hierin entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts - die Annahme eines zu geringen Schuldumfangs beanstandet hat, folgt ihr der Senat nicht. Im einzelnen gilt für die Strafbarkeit der Veranlassung der Verschleppung v. A. durch Angehörige des SfS folgendes:
a) Verfolgungshindernisse bestehen nicht. Einer Bestrafung in Fällen der vorliegenden Art staatlich veranlaßter Kriminalität stehen in der DDR erlassene Amnestien nicht entgegen, die sich nach dem Willen der Amnestiegesetzgeber von vornherein nicht auf Verhalten, das außerhalb jeder Verfolgung stand, beziehen sollten (vgl. BGH NJW 1994, 3238, 3239 - insoweit in BGHSt 40, 169 nicht abgedruckt -; 41, 247, 248; noch offengelassen in BGHSt 39, 353, 358 ff.). Sie ist, allerdings nur, soweit sie nach dem Strafrecht der DDR zu beurteilen ist, auch nicht durch Verfolgungsverjährung ausgeschlossen.
aa) Soweit auf die dem Angeklagten vorgeworfenen Taten nach den zur Tatzeit geltenden § 3 Abs. 1 und 3 sowie § 4 (analog) StGB a.F. bzw. nach §§ 3 und 9 sowie § 7 Abs. 1 StGB das Recht der Bundesrepublik Deutschland anzuwenden war, steht der Eintritt der Verjährung allerdings außer Frage. Der Lauf der Verjährungsfrist begann spätestens im September 1964 mit der Entlassung des Opfers aus der Haft (vgl. § 67 Abs. 4 StGB a.F. bzw. § 78a StGB). Sie betrug für den schwersten in Frage kommenden Straftatbestand - § 234a StGB - schließlich zwanzig Jahre (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 StGB; § 67 Abs. 1 Nr. 2 StGB in der Fassung des Neunten Strafrechtsänderungsgesetzes vom 4. August 1969 - BGBl I 1065).
bb) Soweit auf die Taten das Recht der DDR (§ 223, § 239 Abs. 1 in Verbindung mit § 3 RStGB, § 115 Abs. 1, § 131 Abs. 1 in Verbindung mit § 80 Abs. 1 StGB-DDR) Anwendung findet, hat die Verjährung in der DDR indes aufgrund eines quasigesetzlichen Verfolgungshindernisses bis zum 3. Oktober 1990 geruht (§ 69 Abs. 1 Satz 1 RStGB, § 83 Nr. 2 StGB-DDR), so daß Verfolgungsverjährung nach Art. 315a EGStGB ausgeschlossen ist (vgl. BGHSt 40, 48; 40, 113; 41, 247, 248; 41, 317, 320; BGHR StGB § 78b Abs. 1 Verfolgungshindernis 2 - dazu bestätigend BVerfG, Kammer, Beschluß vom 13. November 1996 - 2 BvR 1130/95 - 1. - VerjährungsG vom 26. März 1993, BGBl I 392). Dies hat der Bundesgerichtshof für die Strafverfolgung bei Schüssen an der innerdeutschen Grenze (BGHSt 40, 48; 40, 113), für die Verfolgung von Körperverletzungen an Gefangenen durch Strafvollzugsbedienstete der DDR (BGHR StGB § 78b Abs. 1 Ruhen 2) und für die Haftung von Angehörigen der DDR-Justiz wegen Rechtsbeugung und damit tateinheitlich zusammentreffender Delikte (BGHSt 41, 247; 41, 317) ausgesprochen. Für Fälle der vorliegenden Art - Tatort war auch Ost-Berlin - kann nichts anderes gelten (vgl. auch BGHSt 41, 292, 296 ff.). Auch insoweit handelte es sich um Taten, die nach dem ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen der Staats- und Parteiführung der DDR aus mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbaren Gründen nicht geahndet worden sind. Der Senat läßt weiterhin offen, ob die durch das Anliegen des § 83 Nr. 2 StGB-DDR gebotene entsprechende Anwendung dieser Vorschrift und damit Art. 1 des - 1. - VerjährungsG den gesamten Bereich der auf den politischen Willen der Staatsführung zurückgehenden und durch die Staatspraxis gedeckten Kriminalität in der DDR erfaßt, ob es mithin Fälle, namentlich aus dem Bereich minderer Kriminalität und weit zurückliegender Straftaten, gibt, in denen im Interesse des von den Verjährungsvorschriften ebenfalls bedachten Rechtsfriedens kein Ruhen der Verjährung mehr anzunehmen ist (vgl. BGHSt 40, 113, 118/119; siehe auch BGHR StGB § 78b Abs. 1 Ruhen 2).
Ein solcher Sonderfall läge hier jedenfalls nicht vor. Insbesondere weist die vorliegende Straftat keinen Bagatell- oder Ausnahmecharakter auf. Bei einer durch staatliche Stellen der DDR bewirkten Entführung aus West- nach Ost-Berlin handelte es sich regelmäßig um eine Gewalt- und Willkürmaßnahme, für die kennzeichnend war, daß mit dem Opfer nach den Zwecken und Vorstellungen des fremden Regimes verfahren wurde, ohne daß sich dieses an die Grundsätze der Gerechtigkeit und Menschlichkeit hielt (vgl. BGHSt 41, 292, 300 m.N.). Eine derartige Verschleppung stellt einen systemtragenden Rechtsbruch dar, der sein besonderes Gewicht nicht zuletzt dadurch gewinnt, daß von der DDR aus - wie allgemeinkundig ist - eine Vielzahl vergleichbarer Entführungen veranlaßt worden ist. Der schwerwiegende Charakter staatlich gewollter Kriminalität der vorliegenden Art läßt sich zudem an der Wertung des Gesetzgebers erkennen, der im Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit vom 15. Juli 1951(BGBl I 448) zusammen mit § 241a StGB - die Vorschrift des 234a StGB in das Strafgesetzbuch eingefügt hat. Anlaß für die Einführung dieser Strafbestimmung waren gerade Verschleppungen in den kommunistischen Machtbereich (vgl. BGHSt 30, 1, 2 m.N.; siehe auch die Denkschrift des Bundesjustizministeriums, BAnz vom 28. Juni 1951 = DRiZ 1951, 162). Der Umstand, daß - wie im vorliegenden Fall - die Verschleppung der Strafverfolgung wegen einer Tat dient, wie sie auch in einem Rechtsstaat verfolgbar ist (hier: Spionage), steht dem nicht entgegen (vgl. bereits BGHSt 6, 166; siehe auch BGHSt 33, 238, 243 m.w.N.).
b) Das Landgericht hat die Strafbarkeit der Verschleppung auf der Grundlage des für die Beurteilung des Falles (unter Beachtung von Art. 315 Abs. 1 Satz 1 EGStGB) maßgeblichen nicht verjährten Rechts der DDR im Ergebnis zutreffend gewürdigt.
aa) Die Strafbarkeit ist nicht durch geschriebenes oder ungeschriebenes Recht der DDR oder durch einen (unvermeidbaren) Verbotsirrtum ausgeschlossen, soweit die Haupttat im Westteil Berlins ausgeführt worden ist.
(1) Die Freiheitsberaubung findet insoweit namentlich keine Rechtfertigung im Statut des SfS vom 15. Oktober 1953. Es kann dahinstehen, ob sich - wie das Landgericht meint - die Beschränkung des Rechts zu Verhaftungen auf das Staatsgebiet der DDR bereits aus Wortlaut und Systematik der Nr. 4 a) dieses Statuts im Vergleich mit seiner Nr. 4 d), wonach eine Spionagetätigkeit des SfS ausdrücklich auch außerhalb der DDR vorgesehen war, ergibt. Jedenfalls folgt sie aus selbstverständlichen Grundsätzen des Völkerrechts, die aus der Sicht der DDR auch im Verhältnis zur Bundesrepublik einschließlich West-Berlin galten (vgl. BGHSt 40, 48, 53 m.N.).
(2) Da keine Anhaltspunkte dafür bestehen, daß Angehörige des SfS an eine für den Westteil Berlins gültige Rechtsgrundlage der Verhaftung v. A.s geglaubt hätten (vgl. UA S. 19), scheidet insoweit auch ein Verbotsirrtum (§ 17 StGB) aus. Nach dem Recht der DDR wäre die Vorstellung, mit einer ungesetzlichen Handlung "recht getan" zu haben, unbeachtlich (vgl. BGHSt 39, 168, 190 f.; 41, 247, 277).
bb) Eine am Recht der DDR orientierte Beurteilung führt indes hinsichtlich der Fortdauer der Freiheitsberaubung in der DDR zur Annahme eines jedenfalls nicht schuldhaften Verhaltens wegen eines insoweit unvermeidbaren Verbotsirrtums. Der Schuldumfang ist daher in zeitlicher Hinsicht vom Landgericht im Ergebnis zutreffend auf den Freiheitsentzug bis zum Wirken des Haftbeschlusses des SfS in Ost-Berlin noch am Tattage des 24. März 1955 beschränkt worden.
(1) Der Verschleppte war ein bereits im gehobenen Bereich der Agentenhierarchie angesiedelter Geheimdienstmitarbeiter, der die DDR und ihr verbündete Mächte im Auftrag eines "feindlichen" Nachrichtendienstes ausforschte. Er hatte in der "Organisation Gehlen' ' 1' die Aufgabe, von (West-)Berlin aus Personen zu "führen", die ihm Informationen aus den Bereichen Militär, Wirtschaft und Politik zutrugen, und diese Informationen bei gelegentlichen Treffen mit "höheren Ebenen" weiterzugeben; insgesamt arbeiteten für ihn 19 Agenten in der DDR und (Ost-)Berlin, in Polen und der Sowjetunion (UA S. 4).
(2) Die Tätigkeit v. A.s wurde - nach dem insoweit maßgeblichen Verständnis der DDR - unter Art. 6 Abs. 2 der DDR-Verfassung vom 7. Oktober 1949 (GB1 DDR I Nr. 1 S. 5) subsumiert. Bei diesem Verfassungsartikel handelte es sich nach der Entscheidung des Obersten Gerichts der DDR vom 4. Oktober 1950 (OGSt 1, 33 ff.) um ein "unmittelbar anzuwendendes Strafgesetz", das "Spionagehandlungen" mit dem Begriff der "Kriegshetze" erfassen sollte (vgl. BGHSt 41, 317, 322). Der erkennende Senat (aaO 321 f.) hat die Anwendung dieser Bestimmung - trotz ihrer nach rechtsstaatlichen Grundsätzen offensichtlichen Unwirksamkeit als Strafnorm - bei einem Richter des Obersten Gerichts der DDR, der im Einklang mit den Vorgaben des Obersten Gerichts Schuldsprüche auf diese Verfassungsnorm gestützt hat, jedenfalls aus subjektiven Gründen nicht als rechtsbeugerisch angesehen.
(3) Für die subjektiven Vorstellungen eines Angehörigen des SfS in nicht maßgeblicher Stellung, der durch sein Verhalten im Rahmen seiner dienstlichen Tätigkeit gezielt der Verurteilung v. A.s durch die DDR-Justiz Vorschub geleistet hat, kann im Ergebnis nichts anderes gelten. Auch für ihn konnte sich das der Verschleppung folgende Festhalten des Betroffenen, der aus seiner Sicht ein "gefährlicher Staatsfeind" war, jedenfalls aus subjektiven Gründen nicht als eine auch vom DDR-Recht nicht mehr gedeckte offensichtliche schwere Menschenrechtsverletzung darstellen. Daran ändert sich auch durch den vorangegangenen Unrechtsakt der völkerrechtswidrigen Entführung des Betroffenen nichts.
Hierzu hat der Senat in seinem Urteil vom 16. November 1995 folgende, auch vorliegend gültige Ausführungen gemacht (BGHSt 41, 317, 343 f.):
Die zwingende Annahme eines Prozeßhindernisses in dem Fall, daß ein Tatverdächtiger unter Verletzung fremder Gebietshoheit in den die Strafverfolgung betreibenden Staat verbracht wird, ist selbst unter den Bedingungen des Rechtsstaats bislang weitgehend nicht anerkannt, und zwar weder im Blick auf das Rechtsstaatsprinzip noch auf Völkerrecht (vgl. BVerfG, Kammer , NJW 1986, 1427 ff.; 3021 f.; BGH NStZ 1984, 563; 1985, 464). Es kann dahinstehen, ob die Rechtsentwicklung in dieser Frage heute zu einer strengeren Betrachtung Anlaß geben könnte. An solchen Auffassungen dürfte das Verhalten eines Angeklagten im Tatzeitraum (1954/55) ohnehin nicht gemessen werden. Angesichts der Einbettung der hier in Rede stehenden Tat in die Phase des "Kalten Krieges" kann von einem Angeklagten ein Unrechtsbewußtsein auch nicht deshalb verlangt werden, weil eine Auslieferung des Verfolgten mit Sicherheit ausgeschlossen gewesen wäre. Dieser Umstand unterstreicht zwar die Völkerrechtswidrigkeit der Entführung. Hieraus wie möglicherweise auch aus Organisation und Durchführung der Verschleppung ergeben sich naheliegend wesentliche Unterschiede zu den von der bundesdeutschen Justiz beurteilten Fällen. Gleichwohl mußte dies aus damaliger Sicht staatlicher Stellen der DDR hier nicht zur Annahme einer Verpflichtung führen, von einem Strafverfahren gegen den Verschleppten abzusehen und ihn nach Westberlin rücküberstellen zu lassen. Naheliegend sind Angehörige der Spionageabwehr zur Tatzeit der Auffassung gefolgt, die Verfolgung von Straftätern, die "Verbrechen" gegen die DDR verübt hätten, genieße unbedingten Vorrang vor Hoheitsinteressen einer "feindlichen Macht", von der aus jene "Verbrechen" organisiert worden seien.
Diesen Gesichtspunkt hat der Senat (aaO) einem Richter des Obersten Gerichts der DDR bei der Prüfung seines Rechtsbeugungsvorsatzes sogar in einem Fall der Verschleppung zu Zwecken der Strafverfolgung nach Art. 6 Abs. 2 der DDR-Verfassung zugutegehalten, in dem der Verurteilungsgegenstand - anders als im hiesigen, durch ernstzunehmende Spionagetätigkeit des Betroffenen gekennzeichneten Fall - auch aus Sicht der DDR-Justiz ein erheblich geringeres Strafverfolgungsinteresse nahelegte.
(4) Abweichend wäre der Fall allerdings zu beurteilen, wenn sich nachweisen ließe, daß schon die Verschleppung (erster) Teil einer insgesamt willkürlichen, rechtsstaatswidrigen Verfolgung und Inhaftierung des Entführten durch abgestimmte Verhaltensweise von SfS und DDR-Justiz war. Ein solcher Nachweis hat sich im vorliegenden Fall, zumal da er den Tatbeitrag eines nicht in maßgeblicher Position stehenden SfS-Angehörigen betrifft, ersichtlich nicht führen lassen (vgl. dazu auch BGHSt 41, 317, 347).
Der Senat hat erwogen, ob hier bei einem solchen Angehörigen des SfS gleichwohl eine abweichende Beurteilung der inneren Tatseite mit Rücksicht darauf geboten erscheint, daß er durch die von ihm zu verantwortende völkerrechtswidrige Entführung des Betroffenen selbst erst die tatsächlichen Grundlagen für eine Strafverfolgung des Opfers geschaffen hat. Die Frage ist zu verneinen.
Das vorhandene Unrechtsbewußtsein hinsichtlich der Verschleppung des Opfers unter Verletzung fremder Gebietshoheit beruht namentlich auf der Völkerrechtswidrigkeit der Entführung. Das Festhalten des Betroffenen in der DDR stellt dagegen in erster Linie einen Angriff auf das Individualrechtsgut der persönlichen Freiheit dar.
Eine Differenzierung in der Beurteilung der für einen Freiheitsentzug Verantwortlichen zwischen - nicht nachweislich rechtsbeugerisch eingebundenen - Justizangehörigen und sonstigen Beteiligten würde im Ergebnis den eine einheitliche Betrachtung fordernden Grundsätzen der Rechtsprechung zu Denunzianten-Fällen widersprechen (vgl. BGHSt 40, 125; BGH NStZ 1995, 288; Senatsurteil vom 23. Oktober 1996 - 5 StR 695/95 -).
(5) Der Senat sieht - angesichts des schweren Unrechts, das dem Betroffenen hier widerfahren ist - Anlaß zu folgender Feststellung:
Anders als in den bezeichneten Denunzianten-Fällen, für die weitgehend bereits originär nur das DDR-Recht als Prüfungsmaßstab heranzuziehen war, handelt es sich vorliegend um einen "Misch-Fall" (vgl. zu dem insoweit gänzlich anderen Prüfungsmaßstab das Senatsurteil vom 23. Oktober 1996 - 5 StR 183/95 -), da Tatort auch (West- )Berlin (§§ 3, 9 StGB) und das Opfer ein West-Berliner war (§ 7 Abs. 1 StGB). Die Annahme der Rechtswidrigkeit des gesamten vom Betroffenen erlittenen Freiheitsentzuges nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland läge selbst dann auf der Hand, wenn sie - was der Senat offenlassen kann - nach dem Recht der DDR zu verneinen wäre. Selbst ein Ausschluß der Schuld der für die Inhaftierung Verantwortlichen, insbesondere der an der Entführung Beteiligten, läge fern, wenn der Sachverhalt nicht nach allein unverjährtem DDR- Recht, sondern auf der Grundlage des ursprünglich begründeten und nur infolge Verjährung ausgeschlossenen Strafanspruchs aus bundesdeutschem StGB zu beurteilen wäre.
Externe Fundstellen: BGHSt 42, 332; NJW 1997, 1317; NStZ 1997, 234; NStZ 1997, 595
Bearbeiter: Rocco Beck