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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 434/94, Beschluss v. 08.02.1995, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 5 StR 434/94 - Beschluß vom 8. Februar 1995 (LG Berlin)

BGHSt 41, 16; Verhandlungsunfähigkeit im Revisionsverfahren (spezifische Auslegung; Prozesssubjekt).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 260 Abs. 3 StPO; § 137 StPO; § 333 StPO

Leitsatz

Zur Verhandlungsfähigkeit im Revisionsverfahren. (BGHSt)

Entscheidungstenor

Die Anträge der Verteidiger des Angeklagten auf Einstellung des Verfahrens und auf Aufhebung des Haftbefehls werden abgelehnt.

Gründe

Das Landgericht Berlin hat den Angeklagten wegen in Tateinheit begangenen zweifachen Mordes und versuchten Mordes zu der Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Auf die zum Nachteil des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft und auf die Revision des Angeklagten wurde Termin zur Hauptverhandlung vor dem Revisionsgericht auf den 8. März 1995 bestimmt.

Mit Schriftsatz vom 4. Februar 1995 beantragten die Verteidiger des Angeklagten beim Revisionsgericht, den Haftbefehl gegen den Angeklagten, der sich seit dem 2. Dezember 1991 in der vorliegenden Sache in Untersuchungshaft befindet, aufzuheben, da der Angeklagte nicht mehr verhandlungsfähig sei.

I.

Zwar ist während des Revisionsverfahrens nach § 126 Abs. 2 Satz 2 StPO für Entscheidungen zur Untersuchungshaft grundsätzlich das Gericht zuständig, dessen Urteil angefochten ist. Dieses hat durch Beschluß vom 17. November 1994 den Antrag des Angeklagten auf Aufhebung des Haftbefehls abgelehnt.

Nach § 126 Abs. 3 StPO kann aber auch das Revisionsgericht den Haftbefehl aufheben, wenn es das angefochtene Urteil aufhebt und sich bei dieser Entscheidung ohne weiteres ergibt, daß die Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft nicht mehr vorliegen oder die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr verhältnismäßig wäre (§ 120 Abs. 1 StPO). Eine solche Entscheidung des Revisionsgerichts kann ungeachtet des vorgesehenen Hauptverhandlungstermins schon früher erfolgen, wenn ein Verfahrenshindernis besteht, das zur Einstellung des Verfahrens führt. Darauf berufen sich die Verteidiger des Beschwerdeführers, wenn sie die Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten auch für das Revisionsverfahren geltend machen und die Aufhebung des Haftbefehls als Folge einer solchen Entscheidung schon vor dem Termin zur Hauptverhandlung vor dem Revisionsgericht beantragen.

II.

Der Senat lehnt eine Einstellung des Verfahrens wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten im Revisionsverfahren ab.

1. Die Frage, ob - abgesehen vom Sicherungsverfahren - für das Revisionsverfahren in Strafsachen überhaupt Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten Verfahrensvoraussetzung ist oder welche Anforderungen an die Verhandlungsfähigkeit im Revisionsverfahren zu stellen sind, ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung noch nicht abschließend geklärt.

In einer frühen Entscheidung sah das Reichsgericht (RGSt 29, 324, 327) in einem Fall, in dem die Verhandlungsfähigkeit vor dem Tatgericht erfolglos beanstandet worden war, "keinen Anlaß, jene Fähigkeit für das jetzige Stadium der Untersuchung in Zweifel zu ziehen, obschon anzuerkennen ist, daß dem weiteren Verfahren in der Revisionsinstanz bei mangelnder Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten kein Fortgang würde gegeben werden können". In einer weiteren Entscheidung aus dem Jahre 1936 (HRR 1936, Nr. 1477) hat es ausgeführt, es müsse "schon von Amts wegen darauf geachtet werden, daß die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten auch während der Verhandlung vor dem Revisionsgericht vorliegt". Das Reichsgericht hatte deshalb ein Gutachten des gerichtsärztlichen Dienstes einer Universität über den Gesundheitszustand des Angeklagten einholen lassen. Dieses war zu dem Ergebnis gekommen, daß "der Angeklagte zwar nicht imstande sei, eine Reise an den Sitz des Revisionsgerichts zu unternehmen, dagegen fähig ist, an seinem derzeitigen Aufenthaltsort mit seinem Verteidiger Rücksprache zu nehmen und diesem alles mitzuteilen, was zu seiner Verteidigung vor dem Revisionsgericht vorzubringen ist". Hiernach hatte der Angeklagte nach Auffassung des Reichsgerichts ausreichend Möglichkeit zur Wahrnehmung seiner Rechte vor dem Revisionsgericht.

Eher nebenbei hat sich der Bundesgerichtshof (Urteil vom 10. Januar 1958 - 5 StR 563/57 -, insoweit in MDR bei Dallinger 1958, 142 nicht wörtlich mitgeteilt) zu der Frage geäußert. Es sei unbestritten, daß "jedenfalls auch das Revisionsgericht für seinen Rechtszug die Verhandlungsfähigkeit eines Angeklagten zu prüfen" habe.

Da in allen diesen Entscheidungen die Verhandlungsfähigkeit letztlich bejaht wurde, bedurfte es keiner Bestimmung der dafür maßgeblichen Anforderungen.

In der Literatur wird die Frage der Verhandlungsfähigkeit im Revisionsverfahren nicht vertieft erörtert (vgl. K. Schäfer in Löwe/Rosenberg, StPO, 24. Aufl. Einleitung Kapitel 12 Rdn. 103; Hanack aaO. § 351 Rdn. 8; Meyer aaO. 23. Aufl. § 351 Rdn. 8; Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 41. Aufl. § 350 Rdn. 3). Insbesondere werden die Besonderheiten des Revisionsverfahrens nicht angesprochen. Lediglich Rieß (in LR aaO. 24. Aufl. § 205 Rdn. 15) weist darauf hin, daß die Verhandlungsfähigkeit für die verschiedenen Verfahrensarten unterschiedlich zu beurteilen sei, weil die Anforderungen an die Fähigkeit zur vernünftigen Interessenwahrnehmung je nach Verfahrenslage unterschiedlich seien.

2. Auch der vorliegende Fall nötigt nicht zu einer abschließenden Entscheidung. Für die strafrechtliche Verhandlungsfähigkeit genügt es grundsätzlich, daß der Angeklagte die Fähigkeit hat, in und außerhalb der Verhandlung seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen, Prozeßerklärungen abzugeben oder entgegenzunehmen (BGH MDR 1958, 144; Urteil vom 18. April 1990 - 2 StR 595/89 - insoweit in NStZ 1990, 400 nicht abgedruckt; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO. Einleitung Rdn. 97).

a) Es liegt danach auf der Hand, daß für das Revisionsverfahren andere Anforderungen gelten müssen als für das Verfahren vor dem Tatgericht.

In der Tatsacheninstanz ist die Einlassung des Angeklagten wesentliches Beweismittel. Der Angeklagte kann selbst Anträge stellen und Zeugen befragen. Er wird vor Entscheidungen des Gerichts neben seinem Verteidiger angehört. Diese Rechte geben dem Angeklagten die Möglichkeit, das Verfahren unabhängig von seinen Verteidigern mitzugestalten und sich so zu verteidigen.

Das Revisionsverfahren bietet ein anderes Bild. Dieses Verfahren dient ausschließlich der rechtlichen Überprüfung des tatrichterlichen Urteils auf richtige Anwendung des sachlichen Rechts und des Verfahrensrechts. Erörterungen tatsächlicher Art finden nicht statt. Die Möglichkeiten des Angeklagten, dieses Verfahren mitzugestalten, sind gering:

Selbst kann der Angeklagte das Rechtsmittel lediglich einlegen und zurücknehmen. Schon die Bestimmung des Umfangs der Anfechtung kann der Angeklagte nur durch seinen Verteidiger (oder zu Protokoll der Geschäftsstelle) vornehmen (§ 344 Abs. 1 StPO). Dasselbe gilt für die nach § 344 Abs. 2 StPO erforderliche Begründung der Revision. In der Revisionshauptverhandlung hat der auf freiem Fuß befindliche Angeklagte das Recht auf Anwesenheit und auf Gewährung des letzten Worts. Jedoch kann er auch dabei für das Revisionsverfahren maßgebliche Erklärungen nach § 344 StPO, die nach § 345 StPO nur befristet angebracht werden können und der dort genannten Form bedürfen, nicht wirksam abgeben.

Daß der nicht auf freiem Fuß befindliche Angeklagte keinen Anspruch auf Anwesenheit in der Hauptverhandlung vor dem Revisionsgericht hat, ist wegen der skizzierten Ausgestaltung des Revisionsverfahrens unbedenklich, wenn er einen Verteidiger hat und dieser in der Hauptverhandlung anwesend ist (BVerfGE 54, 100, 116; 65, 171).

Nach diesen Grundsätzen wird es erforderlich sein, daß der Angeklagte jedenfalls die Fähigkeit hatte, über die Einlegung des Rechtsmittels der Revision verantwortlich zu entscheiden. Ob der Angeklagte darüber hinaus während der Dauer des Revisionsverfahrens wenigstens zeitweilig zu einer Grundübereinkunft mit seinem Verteidiger über Fortführung oder Rücknahme des Rechtsmittels in der Lage sein mußte, kann offen bleiben, weil diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall zweifelsfrei erfüllt sind.

Der Senat hat zu den aufgeworfenen Fragen das Gutachten eines Arztes für Neurologie und Psychiatrie eingeholt, der den Gesundheitszustand des Angeklagten schon wiederholt begutachtet hat. Nach diesem Gutachten bestehen keine Zweifel daran, daß der Angeklagte um die Bedeutung des Revisionsverfahrens weiß und zu einer Grundübereinkunft mit der Verteidigung über die Fortsetzung des Rechtsmittels in der Lage ist (S. 84/85 des Gutachtens).

b) Der Senat neigt aber dazu, es genügen zu lassen, daß der Angeklagte wenigstens bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist des § 341 StPO verhandlungsfähig war. Auch dann ist bei den Besonderheiten des Revisionsverfahrens der Subjektstellung des Angeklagten angesichts des im Interesse des Rechtsfriedens nicht zu gering zu achtenden Werts der Rechtssicherheit, die durch die materielle Rechtskraft einer Entscheidung verkörpert wird (Eberhard Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz Teil I 2. Aufl. Rdn. 282, 283), Rechnung getragen.

Die Prüfung der Frage, ob der Angeklagte während der Rechtsmittelfrist des § 341 StPO in der Lage war, die Bedeutung der Rechtsmitteleinlegung zu erkennen, wird sich wegen der zeitlichen Nähe dieser Frist zur Hauptverhandlung nach denselben Grundsätzen zu richten haben, nach denen das Revisionsgericht die Verhandlungsfähigkeit während der Hauptverhandlung vor dem Tatrichter überprüft (vgl. dazu BGHR StPO § 260 Abs. 3 Verhandlungsfähigkeit 1).

III.

Danach kamen eine Einstellung des Verfahrens unter dem Gesichtspunkt fehlender Verhandlungsfähigkeit und eine Aufhebung des Haftbefehls aus diesem Grunde nicht in Betracht. Da Hauptverhandlungstermin auf den 8. März 1995 anberaumt ist, ist die Fortdauer der Untersuchungshaft auch nicht unverhältnismäßig.

Externe Fundstellen: BGHSt 41, 16; NJW 1995, 1973; NStZ 1995, 388; StV 1995, 421

Bearbeiter: Rocco Beck