Bearbeiter: Rocco Beck
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 415/91, Urteil v. 22.10.1991, HRRS-Datenbank, Rn. X
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Schwurgerichts in Berlin vom 8. März 1991 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
In diesem Umfang wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Kammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Schwurgericht hat den Angeklagten wegen vorsätzlichen Vollrauschs (§ 323a StGB) zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Nach den Feststellungen hat der Angeklagte am 17. Oktober 1987 gegen 4.00 Uhr morgens in Ostberlin seine Freundin vorsätzlich getötet. Dabei betrug die Blutalkoholkonzentration bei dem Angeklagten mindestens 3,3 Promille, möglicherweise war sie höher. Das Motiv für die im Rausch begangene Tat, die das Landgericht als Totschlag (§ 212 StGB) wertet, ist nicht sicher geklärt worden. Das Schwurgericht nennt als mögliche Anlässe Eifersucht und die Verzweiflung des Angeklagten über das für ihn unverständliche Verhalten seiner Freundin.
Das Stadtgericht Berlin hatte den Angeklagten im Hinblick auf dieses Tatgeschehen am 14. Juni 1988 wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Oberste Gericht der DDR hat dieses Urteil auf die Berufung des Angeklagten am 8. November 1988 aufgehoben. Zu einer erneuten Aburteilung durch das Stadtgericht ist es nicht mehr gekommen. Der Angeklagte ist am 22. Oktober 1987, zunächst wegen einer anderen Straftat, verhaftet worden; der Haftbefehl ist eine Woche später auf den Vorwurf des Mordes erweitert worden. Der Angeklagte hat sich bis zum 17. Oktober 1990 ununterbrochen in Untersuchungshaft befunden.
Die Revision des Angeklagten, die auf den Strafausspruch beschränkt ist und die Verletzung sachlichen Rechts beanstandet, hat Erfolg.
Der Strafausspruch hat keinen Bestand.
1. Allerdings hat der Tatrichter entgegen der Auffassung des Verteidigers nicht gegen § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB verstoßen. Nach Ansicht der Revision hätte er wegen der besonderen Härte der in der ehemaligen DDR erlittenen Untersuchungshaft einen Umrechnungsmaßstab bestimmen müssen, der für den Angeklagten günstiger ist als die Regel, nach der ein Tag Untersuchungshaft einem Tag Strafhaft entspricht. Von einer solchen Bestimmung hat das Schwurgericht zu Recht abgesehen, weil hierfür keine Rechtsgrundlage besteht. Die Vorschrift des § 51 Abs. 4 Satz 2 StPO ist nicht auf die in der ehemaligen DDR erlittene Untersuchungshaft anzuwenden.
Sie betrifft eine im Ausland erlittene Strafe oder Freiheitsentziehung (vgl. auch § 51 Abs. 3 Satz 2 StGB). In diesem Sinne ist die ehemalige DDR kein Ausland gewesen. Hiernach verbleibt es bei der Regel des § 51 Abs. 1 StGB.
a) Die Revision macht geltend, daß das Gebiet der DDR zwischen dem Inkrafttreten des Grundlagenvertrages und dem Beitritt der DDR nicht mehr Inland im Sinne des § 3 StGB gewesen sei. Dabei setzt sie zutreffend voraus, daß die Vorschriften über die Anrechnung der Untersuchungshaft ebenso wie die Regeln über den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts Gegenstände des sachlichen Rechts sind und damit dem Grundsatz der Rückwirkung milderen Rechts (§ 2 Abs. 3 StGB i.V. mit Artikel 315 Abs. 1 Satz 1 EGStGB idF des Einigungsvertrages - Anlage I Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt II Nr. 1 b -) unterliegen. Hieraus ergibt sich aber nicht, daß das Schwurgericht die Vorschrift des § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB anzuwenden hatte.
Es kann offenbleiben, ob die Rückwirkung milderen Rechts dazu zwingt, zugunsten des Angeklagten an Grundsätzen festzuhalten, die vor dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages allein von der Rechtsprechung entwickelt worden sind. Denn die Anwendung des § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB auf die in der DDR erlittene Untersuchungshaft hat auch in dem Zeitraum von 1973 bis 1990 nicht gefestigter Rechtsprechung entsprochen. Der Bundesgerichtshof hat zwar in Abkehr von Grundsätzen des interlokalen Strafrechts Regelungen des internationalen Strafrechts (§ 5 Nr. 6, § 7 Abs. 1 StGB) entsprechend (NJW 1978, 113) und später auch unmittelbar (BGHSt 30, 1; 32, 293) auf Vorgänge in der DDR angewandt. Er hat in diesem Zusammenhang ausgesprochen, daß der Begriff des Inlandes nach § 3 StGB bei funktionsgerechter Auslegung nicht das Gebiet der DDR einschließe, weil die Bundesrepublik Deutschland dort keine Staatsgewalt ausübe (BGHSt 30, 1, 4). Damit hat er nicht gemeint, daß die Ausübung von Staatsgewalt in der DDR, auch die Freiheitsentziehung in Strafverfahren, in vollem Umfang nach denjenigen Regeln zu beurteilen sei, die für die Maßnahmen ausländischer Staaten gelten. Die Gesetzgebung und die Rechtspraxis der Bundesrepublik Deutschland haben vielmehr mit mannigfachen Regelungen und Verfahrensweisen stets unterstrichen, daß die DDR kein ausländischer Staat sei.
Täter, die im Zusammenhang mit einer Tat, für die sie in der DDR Untersuchungshaft erlitten hatten, in der Bundesrepublik vor Gericht standen, unterfielen zwar regelmäßig dem § 10 Abs. 1 RHG. Für sie sah das RHG jedoch keine besondere Regelung über den Anrechnungsmaßstab vor. Für den im Hinblick auf § 51 Abs. 3, 4 StGB vergleichbaren Fall, daß jemand bereits in der DDR rechtskräftig verurteilt worden war, bestimmte § 11 Abs. 3 Satz 2 RHG, daß die Strafverbüßung in der DDR anzurechnen sei. Das Kammergericht hat hierzu in allgemeiner Form bemerkt, bei der Auslegung des § 11 Abs. 3 Satz 2 RHG seien die Grundsätze des § 51 StGB sinngemäß anzuwenden (Beschluß vom 1. Juni 1988 = NStE § 51 StGB Nr. 6); ähnliche Stellungnahmen finden sich im Schrifttum (Dreher/Tröndle, 44. Aufl. § 51 Rdn. 16; Stree in Schönke/Schröder, 23. Aufl., § 51 Rdn. 29; Schäfer in LR StPO 23. Aufl., RHG § 11 Rdn. 6; differenzierend Oehler JR 1979, 218 ff). Ob damit auch die sinngemäße Anwendung des § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB gemeint war, ist nicht ersichtlich. Auch insoweit ist es nicht zur Entwicklung fester Rechtsprechungsgrundsätze gekommen. Unter diesen Umständen sind für die Entscheidung des vorliegenden Falls auch keine Erwägungen daraus herzuleiten, daß der Einigungsvertrag die Vorschrift des § 11 RHG aufgehoben, dagegen bestimmt hat, daß § 10 Abs. 1 RHG für Taten, die vor dem Beitritt begangen worden sind, anwendbar bleibt (Anlage I Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt II Nr. 5 a).
b) Freilich ändern diese Erwägungen nichts an dem schon vor dem Inkrafttreten des § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB (1. Januar 1975) entwickelten Grundsatz, daß in allen Fällen, in denen Freiheitsentziehung nicht im Geltungsbereich des Strafgesetzbuchs stattgefunden hat, bei der Umsetzung des Freiheitsentzuges "in ein dem inländischen Strafsystem zu entnehmendes Äquivalent" der aus dem Vergleich des fremden und des eigenen Systems sich ergebende Maßstab zu beachten ist (RGSt 35, 41, 43 f). Der Senat ist jedoch der Auffassung, daß dies nur bei der Strafzumessung im engeren Sinne und nicht nach Maßgabe des § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB, auch nicht unter entsprechender Anwendung dieser Vorschrift, geschehen kann:
(aa) Die Regelung des § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB ist auf andere Fälle zugeschnitten. Haftverhältnisse in ausländischen Staaten werden in der Regel über längere Zeitabschnitte hinweg als gleichbleibend aufgefaßt werden können; bei der Beurteilung der in der DDR erlittenen Untersuchungshaft ist dagegen die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß zwischen dem Ende des Jahres 1989 und dem Oktober 1990 schrittweise Verbesserungen eingetreten sind.
(bb) Was für die Untersuchungshaft gilt, müßte angesichts der Gleichbehandlung ausländischer Straf- und Untersuchungshaft in § 51 Abs. 3, 4 StGB auch für die Auswirkung der in gleicher Sache in der DDR verbüßten Strafhaft auf die Berechnung der Strafzeit gelten. Doch sind für die Beseitigung unvertretbarer Härten bei rechtskräftig verhängten Strafen eine Sonderregelung des Einigungsvertrages (Anlage I Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 14 d) und besondere Vorschriften über die Kassation (Vereinbarung vom 18.9.1990 zur Durchführung und Auslegung des Einigungsvertrages, BGBl 1990 II Seite 1239, Artikel 4 Nr. 2) vorgesehen. Nach ihnen kann auch dem Gesichtspunkt Rechnung getragen werden, daß eine besonders harte Untersuchungshaft die Höhe einer in der DDR verhängten Strafe gröblich unrichtig oder nach rechtsstaatlichen Grundsätzen unangemessen erscheinen läßt. Überdies sind in den Ländern der DDR seit dem Ende des Jahres 1989 schon auf anderem Wege Entscheidungen getroffen worden, mit denen unangemessen hohe Strafen herabgesetzt wurden. Es würde dem Zweck des Einigungsvertrages widersprechen, wenn neben diese verschiedenen Rechtsbehelfe in großem Umfange Anträge auf eine neue Strafzeitberechnung (§ 458 Abs. 1 StPO) treten würden. Daß eine ausdrückliche Erstreckung des § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB auf die in der DDR erlittene Untersuchungshaft unterblieben ist, darf hiernach bei systematischer Auslegung des Vertragswerks so verstanden werden, daß keine unbeabsichtigte Regelungslücke vorliegt.
2. Gleichwohl entspricht es einer gerechten Strafzumessung, daß die besondere Härte der erlittenen Untersuchungshaft bei der Strafzumessung zugunsten des Angeklagten angemessen berücksichtigt wird.
Die vom Schwurgericht nach § 323 a StGB verhängte Strafe bleibt nur um sechs Monate hinter der gesetzlichen Höchststrafe zurück, obwohl der Tatrichter neben den "schlechteren Haftbedingungen" in der damaligen DDR weitere strafmildernde Gesichtspunkte berücksichtigt hat, nämlich die Länge des Verfahrens und der Untersuchungshaft sowie das spontane Zustandekommen der Rauschtat (UA S. 73 f.).
Bei dieser Sachlage ist zu besorgen, daß die Verbüßung von knapp drei Jahren Untersuchungshaft in der DDR nicht ausreichend berücksichtigt worden ist. Es ist bekannt, daß die Haftbedingungen in der ehemaligen DDR, jedenfalls in einzelnen Anstalten, sehr hart, zum Teil menschenunwürdig gewesen sind (vgl. z.B. Heyme, "Ich kam mir vor wie'n Tier" - Knast in der DDR, Berlin 1991).
Mit der Zurückverweisung der Sache erledigt sich die sofortige Beschwerde gegen die Kostenentscheidung des angefochtenen Urteils.
Der Generalbundesanwalt hat beantragt, die Revision zu verwerfen.
Externe Fundstellen: BGHSt 38, 88; NJW 1992, 517; NStZ 1992, 80; StV 1991, 559
Bearbeiter: Rocco Beck