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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 460

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 387/22, Urteil v. 15.02.2023, HRRS 2023 Nr. 460


BGH 5 StR 387/22 - Urteil vom 15. Februar 2023 (LG Hamburg)

Voraussetzungen einer materiellrechtlichen Tateinheit.

§ 52 Abs. 1 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Eine materiellrechtliche Tateinheit liegt nach § 52 Abs. 1 StGB vor, wenn dieselbe Handlung mehrere Strafgesetze oder dasselbe Strafgesetz mehrfach verletzt. Eine Tat im Rechtssinne kann auch angenommen werden, wenn mehrere Handlungen im natürlichen Sinne zu einer Handlungseinheit zusammengefasst werden, so wenn zwischen mehreren strafrechtlich erheblichen Verhaltensweisen ein solcher unmittelbarer Zusammenhang besteht, dass sich das gesamte Tätigwerden bei natürlicher Betrachtungsweise (objektiv) auch für einen Dritten als ein einheitlich zusammengefasstes Tun darstellt und die einzelnen Betätigungsakte durch ein gemeinsames subjektives Element miteinander verbunden sind.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 13. Mai 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht tätige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt sowie eine Einziehungsentscheidung getroffen. Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit der zuungunsten des Angeklagten eingelegten und auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision insbesondere gegen die konkurrenzrechtliche Bewertung sowie die Strafzumessung. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen kam es zwischen dem Angeklagten, der sich häufig bei seiner in einem Bordell arbeitenden Freundin aufhielt, und dem später Geschädigten X. am 30. September 2021 jedenfalls zu einem verbalen Streit. Noch am selben Tag kehrte der Geschädigte zu dem Bordell zurück. Er war in Begleitung von weiteren Personen und warf gemeinsam mit ihnen Flaschen und Holzstücke gegen den Eingangsbereich. Der Angeklagte befürchtete, dass er der Gruppe in nächster Zeit wieder begegnen und angegriffen werden könnte.

Am Nachmittag des 6. Oktober 2021 traf er, bewaffnet mit einem Einhandmesser mit einer Klingenlänge von etwa 10 cm, auf offener Straße auf den Geschädigten und mindestens zwei Begleiter. Bei der anschließend verbal und körperlich geführten Auseinandersetzung wurde der Angeklagte von weiteren Personen unterstützt, die sich bei dem Bordell aufhielten. Das Geschehen mündete in eine Schlägerei, bei der der Geschädigte den Angeklagten körperlich angriff und schwer beleidigte. Als sich die Situation beruhigt hatte, rannte der Geschädigte mit einem Begleiter weg. Der Angeklagte folgte ihm aus Wut über die Auseinandersetzung und stach ihm mit dem Messer wuchtig und unter billigender Inkaufnahme auch tödlicher Verletzungen in den Rücken. Er war sich dabei bewusst, sich nicht gegen einen unmittelbar bevorstehenden Angriff des Geschädigten zu verteidigen. Dieser hielt sich aufrecht und kam über die befahrene Straße auf die andere Seite; der Angeklagte ging in die entgegengesetzte Richtung.

„Unter Fortsetzung seines Tatplans“ machte der Angeklagte aber kurz darauf kehrt, rannte zum Geschädigten und versetzte diesem unter billigender Inkaufnahme auch tödlicher Verletzungen in einer springenden Körperbewegung einen von oben nach unten geführten Messerstich an die Stirn. Er war sich wiederum bewusst, sich nicht gegen einen unmittelbar bevorstehenden Angriff des Geschädigten zu verteidigen. Dieser wehrte sich mit einem Fußtritt. Der Angeklagte flüchtete anschließend in Richtung des Bordells, der stark am Kopf blutende Geschädigte und zwei Begleiter, einer hielt einen Ast in der Hand, folgten ihm. Der Angeklagte sah angesichts dieser Überzahl keine Möglichkeit mehr, den Geschädigten in potentiell tödlicher Weise zu verletzen.

Dieser erlitt eine 1,5 cm lange Stichverletzung in den Rücken, die zu einem linksseitigen Pneumothorax führte. Die 6 cm große Längsschnittwunde am Kopf rief eine arterielle Blutung im Bereich der linken Gesichtshälfte hervor, die mit mehreren Stichen genäht wurde.

2. Das Landgericht hat das Verhalten des Angeklagten als einheitlichen Totschlagsversuch (§ 212 Abs. 1, §§ 22, 23 Abs. 1 StGB) in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2. und Nr. 5 StGB) gewertet.

Bei der Strafzumessung hat die Strafkammer die Voraussetzungen für einen minder schweren Fall nach § 213 Alt. 1. StGB als erfüllt angesehen und den Strafrahmen zudem wegen Versuchs nach § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB verschoben. Es hat eine positive Kriminalprognose (§ 56 Abs. 1 StGB) sowie das Vorliegen besonderer Umstände nach § 56 Abs. 2 StGB bejaht und die Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Der Schuldspruch hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

1. Die konkurrenzrechtliche Einordnung als tateinheitliches Tatgeschehen erweist sich als rechtsfehlerhaft.

a) Eine materiellrechtliche Tateinheit liegt nach § 52 Abs. 1 StGB vor, wenn dieselbe Handlung mehrere Strafgesetze oder dasselbe Strafgesetz mehrfach verletzt. Eine Tat im Rechtssinne kann auch angenommen werden, wenn mehrere Handlungen im natürlichen Sinne zu einer Handlungseinheit zusammengefasst werden, so wenn zwischen mehreren strafrechtlich erheblichen Verhaltensweisen ein solcher unmittelbarer Zusammenhang besteht, dass sich das gesamte Tätigwerden bei natürlicher Betrachtungsweise (objektiv) auch für einen Dritten als ein einheitlich zusammengefasstes Tun darstellt und die einzelnen Betätigungsakte durch ein gemeinsames subjektives Element miteinander verbunden sind (vgl. nur BGH, Beschluss vom 10. Juli 2017 - GSSt 4/17, BGHSt 63, 1, 6 mwN).

b) Das Landgericht hat hierzu die „Fortsetzung seines Tatplans“ herangezogen, als der Angeklagte zum Geschädigten zurückkehrte und diesen erneut attackierte. Ein solcher Tatplan wird indes nicht durch die Beweiswürdigung belegt.

Das Landgericht hat nicht dargelegt, aufgrund welcher Umstände es sich davon überzeugt hat, dass den beiden Angriffen auf den Geschädigten ein einheitlicher Tatplan zugrunde lag. Auch dem Urteil im Übrigen lässt sich keine Grundlage für eine solche Annahme entnehmen. Der Angeklagte selbst hat entsprechendes nicht behauptet, vielmehr hat er vorgetragen, es habe nur den zweiten Angriff, den Messerstich in das Gesicht des Geschädigten, gegeben. Die im Urteil wiedergegebenen Angaben von Zeugen oder der geschilderte Videoinhalt enthalten ebenfalls keine Anhaltspunkte für die Annahme eines das Geschehen zulasten des Geschädigten umspannenden Tatplans. Vielmehr spricht die Tatsituation dagegen, weil nach den bisherigen Feststellungen Angeklagter und Geschädigter sich nach dem ersten Messerstich zunächst auf unterschiedlichen Straßenseiten voneinander entfernten, bevor der Angeklagte für einen neuerlichen Angriff zum Kontrahenten zurückkehrte.

Vor diesem Hintergrund gibt es auch mit Blick auf den Zweifelssatz keinen Grund, zugunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für die die Beweisaufnahme keine Anhaltspunkte erbracht hat (st. Rspr.; vgl. zuletzt etwa BGH, Urteil vom 25. Mai 2022 - 5 StR 344/21 Rn. 12).

2. Das Urteil beruht auf dem aufgezeigten Rechtsfehler. Die Sache bedarf deshalb neuer Prüfung und Entscheidung.

Der Senat hebt das Urteil insgesamt auf, um dem neuen Tatgericht in sich stimmige Feststellungen zu ermöglichen. Sollte es sich erneut von der Täterschaft des Angeklagten überzeugen und zur Annahme von zwei realkonkurrierenden Taten gelangen, werden bei der für jede selbständige Tat erforderlichen gesonderten Prüfung des Schuld- und Strafausspruchs insbesondere die Voraussetzungen eines freiwilligen Rücktritts für die erste Tat und das Vorliegen von Mordmerkmalen für die zweite Tat in Bedacht zu nehmen sein. Sollte das neue Tatgericht für den ersten Angriff erneut einen minder schweren Fall nach § 213 Alt. 1. StGB annehmen, weist der Senat darauf hin, dass es zur revisionsgerichtlichen Überprüfung der objektiv zu beurteilenden Schwere der Beleidigungen unerlässlich ist, deren Inhalte mitzuteilen (vgl. BGH, Urteil vom 21. März 2017 - 1 StR 663/16, NStZ 2019, 210).

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 460

Bearbeiter: Christian Becker