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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 189

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 364/22, Beschluss v. 24.10.2022, HRRS 2023 Nr. 189


BGH 5 StR 364/22 - Beschluss vom 24. Oktober 2022 (LG Itzehoe)

Rechtsfehlerhafte Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Sachverständiger; Anforderungen an die Urteilsgründe; schwere seelische Störung).

§ 63 StGB; § 20 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Das Tatgericht hat die der Unterbringungsanordnung nach § 63 StGB zugrundeliegenden Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen. Schließt es sich der Beurteilung eines Sachverständigen an, muss es dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist, damit das Rechtsmittelgericht prüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht und die Ergebnisse nach den Gesetzen der Logik, den Erfahrungssätzen des täglichen Lebens und den Erkenntnissen der Wissenschaft möglich sind.

2. Ob eine Persönlichkeitsstörung eine schwere seelische Störung (vgl. § 20 StGB) darstellt, ist danach zu beurteilen, ob es im Alltag außerhalb des Delikts zu Einschränkungen des sozialen Handlungsvermögens gekommen ist und sich die defekten Muster im Denken, Fühlen und Verhalten als zeitstabil erwiesen haben.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Itzehoe vom 19. April 2022 mit den Feststellungen aufgehoben; hiervon ausgenommen sind die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen, die Bestand haben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen und seine Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die gegen das Urteil gerichtete Revision des Angeklagten erzielt mit der Sachrüge weitgehend Erfolg.

1 I.

Nach den Feststellungen hegte der Angeklagte schon seit längerer Zeit Suizidgedanken, so auch am Tattag. Am Nachmittag des 7. März 2021 tötete er seinen besten Freund P. N. anlässlich eines Besuchs in dessen Wohnung. Im Anschluss an eine zunächst verbale Auseinandersetzung stach der Angeklagte mit einem von ihm mitgeführten Küchenmesser in Tötungsabsicht vielfach, teils mit großer Wucht, unter anderem in den Brustkorb und in den Hals des Opfers, von dem kein Angriff ausgegangen war. Insgesamt fügte er ihm 54 Schnitt- und Stichverletzungen, teils auch postmortal, zu. Letztlich verstarb das Opfer binnen weniger Minuten an den Verletzungen des Halses. Nach der Tat wechselte der Angeklagte unter Verwendung von Sachen des Opfers die Kleidung, wusch sich und verließ die Wohnung. Er bestieg die Fähre am Nord-Ostsee-Kanal in B. und sprang einige Minuten nach der Abfahrt ins Wasser, um sich das Leben zu nehmen. Da aufmerksame Fahrgäste die Fährbesatzung alarmierten, wurde der Angeklagte gerettet und später im Krankenhaus medizinisch versorgt.

Das Landgericht hat die Tat als Totschlag (§ 212 Abs. 1 StGB) gewertet. Im Anschluss an die Ausführungen des Sachverständigen ist es davon ausgegangen, dass der Angeklagte an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen und emotional-instabilen Anteilen (ICD-10: F61) leide, die in quantitativer und qualitativer Hinsicht einen Schweregrad aufweise, der einer krankhaften seelischen Störung gleichzusetzen sei, weshalb das Eingangsmerkmal der schweren anderen seelischen Störung erfüllt sei. Schon diese Störung habe für sich betrachtet zu einer mit Sicherheit erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit im Tatzeitpunkt geführt.

Die Strafkammer ist darüber hinaus auf der Grundlage der weiteren Angaben des Sachverständigen zur Überzeugung gelangt, dass die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten bei Tatbegehung aufgehoben gewesen sei, da tatzeitbezogen eine dissoziative Störung als Ausfluss der diagnostizierten Persönlichkeitsstörung vorgelegen habe. Hierbei handele es sich um einen Schutzmechanismus der Psyche, welcher zu einer Abspaltung der kognitiven von den emotionalen Bewusstseinsinhalten geführt habe. Ausgangspunkt hierfür war die vom Sachverständigen formulierte Verdachtsdiagnose einer dissoziativen Störung mit dissoziativer Amnesie (ICD-10: F44). Das Vorliegen einer solchen Störung gehe, so der Sachverständige, mit dem teilweisen oder vollständigen Verlust der normalen Integration der Erinnerung an die Vergangenheit, des Identitätsbewusstseins, der Wahrnehmung unmittelbarer Empfindungen sowie der Kontrolle von Körperbewegungen einher. Aus medizinischer Sicht habe der Sachverständige die Diagnose zwar nicht als gesichert begründen können, da die Exploration habe abgebrochen werden müssen und dem Sachverständigen weitere Informationen zur Tatsituation gefehlt hätten, insbesondere solche zu dem die Dissoziation auslösenden Moment im Tatzeitpunkt. Die dissoziative Störung habe aber nach seiner Einschätzung mit „hoher Wahrscheinlichkeit“ vorgelegen; in diesem Fall hätte sie aus psychiatrischer Sicht zweifellos zu einer Aufhebung „der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit“ geführt.

Hieran anknüpfend hat das Landgericht die sichere Überzeugung vom Vorliegen einer (zusätzlichen) dissoziativen Störung im Tatzeitpunkt gewonnen. Wesentlich für diese Einschätzung sei, dass die vom - in der Hauptverhandlung schweigenden - Angeklagten gegenüber dem Sachverständigen geschilderten Erinnerungslücken glaubhaft erschienen und das Tatbild in einem extremen Kontrast zu dem von Zeugen als sehr höflich und friedfertig beschriebenen Persönlichkeitsbild des Angeklagten stehe. Zudem habe die Beweisaufnahme einen die Dissoziation auslösenden Faktor ergeben, den der Sachverständige aus der Exploration des Angeklagten nicht habe entnehmen können, nämlich eine vom Angeklagten als ehrverletzend empfundene Äußerung des Opfers über seine Verlobte.

II.

Die Anordnung der Maßregel kann auf dieser Grundlage keinen Bestand haben. Ihre Voraussetzungen sind nicht rechtsfehlerfrei festgestellt. Die Beurteilung der Schuldfähigkeit hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand.

1. Sowohl die Annahme, der Angeklagte leide an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen und emotional-instabilen Anteilen (ICD-10: F61), als auch die Überzeugung des Landgerichts vom tatzeitbezogenen Vorliegen einer dissoziativen Störung mit dissoziativer Amnesie (ICD-10: F44) als Ausfluss der diagnostizierten kombinierten Persönlichkeitsstörung beruhen auf einer lückenhaften und teils widersprüchlichen Tatsachengrundlage.

a) Das Tatgericht hat die der Unterbringungsanordnung zugrundeliegenden Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen. Schließt es sich - so wie hier - der Beurteilung eines Sachverständigen an, muss es dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist, damit das Rechtsmittelgericht prüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht und die Ergebnisse nach den Gesetzen der Logik, den Erfahrungssätzen des täglichen Lebens und den Erkenntnissen der Wissenschaft möglich sind (BGH, Beschluss vom 15. März 2022 - 4 StR 60/22 Rn. 12 mwN). Dem wird das Urteil nicht gerecht.

b) aa) Die vom Sachverständigen „sachkundig fundiert und präzise dargelegten Anknüpfungs- und Befundtatsachen“ werden im Urteil nicht konkret mitgeteilt. Zu den nach sachverständiger Überzeugung „zweifelsfrei“ feststellbaren allgemeinen Kriterien einer Persönlichkeitsstörung, nämlich stabile, tief verwurzelte Verhaltensmuster, die sich in starren Reaktionen auf unterschiedliche persönliche und soziale Lebenslagen und in auffälligen Abweichungen von der Allgemeinbevölkerung zeigten, gibt es in den Urteilsgründen - von der angeklagten Tat abgesehen - keine Belege. Das gilt auch, soweit in Hinblick auf ein angeblich wenig angepasstes Verhalten, eine geringe Frustrationstoleranz und Sprunghaftigkeit des Angeklagten auf Angaben von Zeugen aus seinem Lebensumfeld verwiesen wird, deren Inhalt aber allenfalls rudimentär und für das Revisionsgericht nicht nachvollziehbar dargestellt wird. Aus den Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten ergeben sich dagegen gerade keine Anhaltspunkte für ein „im Vergleich mit anderen Flüchtlingen“ auffälliges oder abweichendes Verhalten.

bb) Auf dieser Grundlage ist auch nicht nachvollziehbar dargestellt, dass die diagnostizierte Störung einem Eingangsmerkmal des § 20 StGB unterfällt. Ob eine Persönlichkeitsstörung eine schwere seelische Störung darstellt, ist danach zu beurteilen, ob es im Alltag außerhalb des Delikts zu Einschränkungen des sozialen Handlungsvermögens gekommen ist und sich die defekten Muster im Denken, Fühlen und Verhalten als zeitstabil erwiesen haben (vgl. nur BGH, Urteil vom 21. Januar 2004 - 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 52 f.). Hierzu beschränkt sich das Landgericht auf den Verweis, dass die Störung in ihrem Gewicht einer krankhaften seelischen Störung gleichkomme, versäumt es aber, dieses anhand konkreter Umstände in der Lebensführung des Angeklagten zu belegen. Auch Angaben zu Beginn und Entwicklung des vom Sachverständigen diagnostizierten Störungsbildes fehlen.

cc) Da schon die Annahme der diagnostizierten kombinierten Persönlichkeitsstörung als Grunderkrankung nicht rechtsfehlerfrei begründet ist, fehlt es auch an einer Basis für die hierauf gründende Überzeugung des Landgerichts vom Vorliegen einer tatzeitbezogenen dissoziativen Störung mit Amnesie. In dieser Hinsicht erweisen sich die Urteilsgründe außerdem als widersprüchlich.

Das Landgericht hat die vom Angeklagten gegenüber dem Sachverständigen geschilderten Erinnerungslücken für glaubhaft erachtet. Nach dessen Bekunden in der Hauptverhandlung habe der Angeklagte in der ersten Exploration (sieben Monate nach der Tat) angegeben, bis zu dem Moment, als der Streit mit dem Opfer zu Ende war, „nichts mitbekommen“ zu haben; er habe nicht gewusst, dass sein Freund tot gewesen sei; er meine nicht, ihn getötet zu haben. Auch in der zweiten, einen Monat später durchgeführten Exploration hatte der Angeklagte letztlich angegeben, zum eigentlichen Tathergang keine Erinnerung zu haben. Im Gegensatz dazu ergibt sich jedoch aus der im Urteil mitgeteilten Zeugenaussage eines Polizeibeamten, dass der Angeklagte am Tattag bei Notaufnahme im Klinikum E. gegenüber den Rettungskräften geäußert habe, „jemanden abgestochen“ und sich anschließend Handverletzungen zugefügt zu haben. Auch gegenüber dem ihn am gleichen Tag im Klinikum befragenden Polizeibeamten machte der Angeklagte danach Angaben zur Tat, wonach er einen Streit mit seinem Freund gehabt habe, weil dieser seine Frau oder Verlobte beleidigt habe, der Streit eskaliert sei und er den „P.“ mit einem Messer „abgestochen“ habe. „P.“ sei tot und liege zuhause. Im Urteil werden die sich aus den Angaben des Angeklagten gegenüber unterschiedlichen Personen ergebenden offensichtlichen Widersprüche nicht aufgelöst. Das Landgericht hat insbesondere nicht erörtert, weshalb es angesichts dieser Diskrepanzen gleichwohl dem Angeklagten die von ihm gegenüber dem Sachverständigen behaupteten Erinnerungslücken geglaubt hat.

dd) Die im Urteil wiedergegebene, abstrakte Beschreibung der Folgen einer dissoziativen Störung mit Amnesie durch den Sachverständigen (gänzliche Abspaltung der Emotionen als handlungsleitende Impulse von der kognitiven Ebene und vollständiger Verlust der kognitiven Kontrolle über das Handeln) sind mit Blick auf das festgestellte Tatgeschehen aber auch für sich genommen nicht nachvollziehbar. Einem Handeln ohne jeglichen Zugriff auf kognitive Fähigkeiten stehen das zielgerichtete Vorgehen des Angeklagten bei Tatausführung und das kontrollierte und koordinierte Verhalten unmittelbar nach Vollendung der Tat entgegen.

2. Die Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB kann daher nicht bestehen bleiben. Mit Blick auf die Vorschrift des § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO ist auch der Freispruch aufzuheben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. März 2021 - 1 StR 15/21; vom 12. Oktober 2016 - 4 StR 78/16 mwN). Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung, zur Frage der Schuldfähigkeit naheliegenderweise mit einem anderen Sachverständigen. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zur rechtswidrigen Tat (äußeres Tatgeschehen) können bestehen bleiben. Ergänzende, hierzu nicht in Widerspruch tretende Feststellungen sind möglich.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 189

Bearbeiter: Christian Becker