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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 934

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 189/22, Urteil v. 18.08.2022, HRRS 2022 Nr. 934


BGH 5 StR 189/22 - Urteil vom 18. August 2022 (LG Leipzig)

Nichterörterung eines besonders schweren Falles des sexuellen Missbrauchs von Kindern.

§ 176 StGB a.F.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Leipzig vom 11. Januar 2022 im Ausspruch über die in den Fällen II.1 und II.3 verhängten Einzelstrafen und über die Gesamtstrafe aufgehoben.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern, sexuellen Missbrauchs von Kindern sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei tateinheitlichen Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und die Anrechnung in der Schweiz erlittener Auslieferungshaft im Maßstab 1:1 angeordnet. Die Staatsanwaltschaft greift mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision lediglich den Strafausspruch an. Das vom Generalbundesanwalt im Aufhebungsumfang vertretene Rechtsmittel erzielt den aus dem Tenor ersichtlichen Erfolg und ist im Übrigen unbegründet.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts missbrauchte der vielfach und auch einschlägig vorbestrafte Angeklagte unter 14 Jahre alte Jungen wie folgt: Zwischen dem 1. November 2013 und dem 18. März 2014 führte der Angeklagte mit dem am 4. Januar 2001 geborenen G. den „Schenkelverkehr“ durch, indem er seinen erigierten Penis zwischen die Oberschenkel des vor ihm liegenden Jungen schob und anschließend dem Geschlechtsverkehr entsprechende Bewegungen machte (Fall 1). In derselben Zeit führte der Angeklagte an demselben Jungen den Analverkehr durch (Fall 2). Am 19. März 2014 veranlasste der Angeklagte das Opfer der vorangegangenen Taten und den am 2. September 2000 geborenen S. dazu, jeweils an ihren Geschlechtsteilen zu manipulieren, indem er dem Jungen, der zuerst ejakulieren würde, 10 Euro versprach. Anschließend manipulierte der Angeklagte mit seiner Hand das unbedeckte Geschlechtsteil des S. (Fall 3).

2. Das Landgericht hat in den Fällen 1 und 3 jeweils den Strafrahmen von § 176 Abs. 1 StGB i.d.F. vom 31. Oktober 2008 und in Fall 2 - unter Ablehnung eines minder schweren Falls - den Strafrahmen des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB i.d.F. vom 27. Dezember 2003 zur Anwendung gebracht.

3. Bei der Zumessung der Einzelstrafen hat es dem Angeklagten zu Gute gehalten, dass er durch ein von Einsicht und Reue getragenes umfassendes Geständnis die Vernehmung seiner Opfer als Zeugen in der Hauptverhandlung entbehrlich gemacht hat, wobei der Zeuge S. seiner Ladung aus Angst vor dem Angeklagten keine Folge geleistet hatte und ohne das Geständnis hätte vorgeführt werden müssen. Bei allen Taten wurde zu Gunsten des Angeklagten berücksichtigt, dass die Opfer schon 13 Jahre alt und damit nicht weit entfernt von der Schutzaltersgrenze waren, die Taten bereits sieben Jahre zurückliegen, der Angeklagte seitdem nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung getreten ist und sich der Geschädigte G. in seiner Persönlichkeit wieder festigen konnte, so dass die Taten heute keinen Einfluss mehr auf ihn haben.

Zu Lasten des Angeklagten hat das Landgericht berücksichtigt, dass der Angeklagte vielfach, auch einschlägig, vorbestraft ist und die Taten nur wenige Monate nach seiner Haftentlassung am 17. Juli 2013 nach Verbüßung einer einjährigen Freiheitsstrafe wegen eines ähnlichen Delikts (sexuelle Nötigung eines Jugendlichen) beging. Zudem habe er bereits zuvor wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern mehrjährige Haftstrafen verbüßt. Bei der Tat 3 wurde zusätzlich strafschärfend berücksichtigt, dass der Angeklagte durch eine Tat zwei Kinder geschädigt und S. das Geschehen bis heute noch nicht verarbeitet hat.

4. Die Strafkammer hat auf dieser Grundlage für die Tat 1 eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten, für die Tat 2 eine solche von zwei Jahren und acht Monaten (Einsatzstrafe) und für Tat 3 eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verhängt. Hieraus hat das Landgericht eine Gesamtstrafe in Höhe von drei Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe gebildet.

II.

Die ausweislich ihrer Begründung auf den Strafausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft hat teilweise Erfolg.

1. Die Nichterörterung des Strafrahmens von § 176 Abs. 3 StGB i.d.F. vom 31. Oktober 2008 in den Fällen 1 und 3 ist rechtsfehlerhaft. Ein solcher Sonderstrafrahmen für unbenannte besonders schwere Fälle ist immer dann zu prüfen, wenn die Umstände des Einzelfalls dazu drängen (vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 1435). Dies ist vorliegend der Fall.

Angesichts der teils einschlägigen massiven Vorstrafen des Angeklagten, die zeitlich nur knapp die Schwelle des § 176a Abs. 1 StGB i.d.F. vom 27. März 2003 verfehlen, der Tatsache, dass nach der Auffassung des Gesetzgebers gerade der beischlafähnliche „Schenkelverkehr“ im Fall 1 einen besonders schweren Fall begründen kann (BT-Drucks. 15/350, S. 17; vgl. auch BGH, Urteil vom 27. Oktober 2009 - 1 StR 343/09, NStZ 2010, 697), und des Umstandes, dass im Fall 3 zwei Opfer geschädigt wurden und eines davon langjährige psychische Folgen davongetragen hat, hätte das Landgericht prüfen müssen, ob trotz der für den Angeklagten sprechenden Umstände die Annahme eines besonders schweren Falls nach § 176 Abs. 3 StGB aF in Betracht kommt.

Das Landgericht hat diese Aspekte zwar (überwiegend) bei der Zumessung der konkreten Einzelstrafen, nicht aber bei der Strafrahmenwahl in den Blick genommen. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass es den vom Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung zur Begründung eines unbenannten besonders schweren Falls hervorgehobenen „Schenkelverkehr“ im Rahmen der Strafzumessung überhaupt nicht erwähnt hat.

Die seit dem 1. Juli 2021 geltende Neufassung des § 176 StGB erweist sich trotz Wegfalls des bis dahin vorgesehenen besonders schweren Falls in § 176 Abs. 3 StGB aF angesichts der generellen Erhöhung der Strafdrohung auf den Strafrahmen des früheren § 176 Abs. 3 StGB aF insoweit nicht als milderes Recht im Sinne von § 2 Abs. 3 StGB.

Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Strafkammer bei der gebotenen Prüfung eines besonders schweren Falls in den Fällen 1 und 3 zu höheren Einzelfreiheitsstrafen gekommen wäre (§ 337 Abs. 1 StPO). Dies zieht den Wegfall der in diesen Fällen verhängten Einzelstrafen und der Gesamtstrafe nach sich. Der Aufhebung von Feststellungen bedarf es nicht, weil diese vom aufgezeigten Rechtsfehler nicht betroffen sind (§ 353 Abs. 2 StPO).

2. Dagegen weist die Strafzumessung zu Fall 2 keinen Rechtsfehler zu Gunsten des Angeklagten auf (vgl. zum Prüfungsmaßstab BGH, Urteil vom 24. Juni 2021 - 5 StR 545/20 mwN). Beachtliche Lücken in der Strafzumessung zeigt die Staatsanwaltschaft nicht auf. Entgegen ihrer Auffassung entfernt sich die verhängte Strafe bei Berücksichtigung aller Umstände auch nicht von ihrer Aufgabe, gerechter Schuldausgleich zu sein.

III.

Im Anfechtungsumfang hat die Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten ergeben (§ 301 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 934

Bearbeiter: Christian Becker