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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 715

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 306/21, Beschluss v. 11.05.2022, HRRS 2022 Nr. 715


BGH 5 StR 306/21 - Beschluss vom 11. Mai 2022 (LG Hamburg)

Verhältnis von sitzungspolizeilichen Befugnissen und Hausrecht der Gerichtspräsidentschaft; Verwertung nicht ordnungsgemäß eingeführter Tatsachen.

§ 176 Abs. 1 GVG; 261 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Der grundsätzliche Vorrang der sitzungspolizeilichen Befugnisse gegenüber dem Hausrecht des Gerichtspräsidentenschließt bindende Regelungen der Justizverwaltung zur Kapazität eines Sitzungssaals nicht in jeglicher Hinsicht aus. Derartige Anordnungen können die Sitzungsgewalt des Vorsitzenden im Einzelfall durchaus einschränken, um etwa bau- oder gesundheitspolizeilichen Anforderungen, Erfordernissen des Brandschutzes oder Verkehrssicherungspflichten Rechnung zu tragen. Die in der Sitzungspolizei zum Ausdruck gelangende unabhängige richterliche Gewalt wird hierdurch regelmäßig nicht in Frage gestellt, insbesondere wenn Gefahren für gewichtige Rechtsgüter abzuwehren sind, die auf vom Prozessgegenstand unabhängigen Gründen beruhen, und zugleich die getroffenen Maßgaben das richterliche Handeln in der Verhandlung nicht spezifisch tangieren.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Angeklagten D. wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 5. November 2020, soweit es sie betrifft, mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit eine Strafaussetzung zur Bewährung versagt worden ist.

Ihre weitergehende Revision wird verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten dieses Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die Revisionen der Angeklagten R. und S. gegen das vorbenannte Urteil werden verworfen.

Sie haben jeweils die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten R. wegen Verabredung zum Verbrechen der Brandstiftung in Tateinheit mit vorsätzlichem Besitz und Führen eines waffenrechtlich verbotenen Gegenstandes zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt. Gegen die Angeklagten D. und S. hat es wegen Verabredung zum Verbrechen der Brandstiftung in Tateinheit mit Beihilfe zum Besitz und zum Führen eines waffenrechtlich verbotenen Gegenstandes Freiheitsstrafen von einem Jahr und acht Monaten (D.) sowie einem Jahr und sieben Monaten (S.) verhängt. Eine Strafaussetzung zur Bewährung hat das Landgericht allen Angeklagten versagt. Zudem hat es Tatmittel eingezogen.

Die jeweils mit der unausgeführten Sachrüge und zwei Verfahrensrügen geführten Revisionen der Angeklagten R. und S. bleiben ohne Erfolg (§ 349 Abs. 2 StPO). Das Rechtsmittel der Angeklagten D., das auf die unausgeführte Sachrüge und Verfahrensrügen gestützt ist, führt mit einer Verfahrensrüge zur Aufhebung der Entscheidung, ihr die Strafaussetzung zur Bewährung zu versagen (§ 349 Abs. 4 StPO). Im Übrigen bleibt auch ihre Revision erfolglos.

I.

1. Die Überprüfung des Urteils hat keinen die Angeklagten R. und S. beschwerenden Rechtsfehler ergeben.

2. Hinsichtlich der Angeklagten D. sind der Schuldspruch, die verhängte Strafe und die Einziehungsentscheidung ebenfalls nicht zu beanstanden. Dagegen unterliegt die Entscheidung des Landgerichts, der Angeklagten D. eine Strafaussetzung zur Bewährung zu versagen, auf eine Verfahrensrüge nach § 261 StPO der Aufhebung.

a) Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Die Angeklagte D. wurde am 9. Juli 2019 vom Vollzug der Untersuchungshaft verschont. Mit dem Haftverschonungsbeschluss wurde ihr unter anderem auferlegt, jeden - auch mittelbaren - Kontakt zu den Mitangeklagten R. und S. zu unterlassen.

Seine Entscheidung, der unbestraften Angeklagten D. eine Strafaussetzung zur Bewährung zu versagen, hat das Landgericht im Urteil unter anderem auf folgende Erwägung gestützt: „In der Hauptverhandlung ist die Angeklagte D. etwa dadurch aufgefallen, dass sie sich - trotz wiederholten Hinweises der Vorsitzenden hierauf - in Unterbrechungen derselben hartnäckig über die Auflage ihres Verschonungsbeschlusses, sich von den Mitangeklagten fernzuhalten, hinweggesetzt und sich direkt zu diesen begeben, mit ihnen gesprochen und sie umarmt hat.“ Diese und weitere Umstände zeigten, so das Landgericht, dass „jedenfalls das Ermittlungsverfahren und die Hauptverhandlung die Angeklagte D. nicht nachhaltig beeindruckt haben. Zur Überzeugung der Strafkammer ist nach alledem nunmehr auch die vorliegende Verurteilung als solche nicht geeignet, die Angeklagte D. von der Begehung weiterer Straftaten aus ihrer fortbestehenden, rechtsfeindlichen Motivation heraus abzuhalten.“ Das Verhalten der Angeklagten D. gegenüber den Mitangeklagten in den Sitzungspausen wurde nicht mittels strafprozessualer Strengbeweismittel in die Hauptverhandlung eingeführt. Darauf, dass diese Umstände als gerichtskundige Tatsachen dem Urteil zugrunde gelegt werden könnten, wurde die Angeklagte D. nicht hingewiesen. Aus den in den Urteilsgründen erwähnten „wiederholten Hinweisen“ der Vorsitzenden und aus der von der Revision vorgetragenen einmaligen Ermahnung der Vorsitzenden an die Angeklagte D., den inhaftierten Mitangeklagten keine Lebensmittel auszuhändigen, ergibt sich weder eine strengbeweisliche Einführung ihres Verhaltens in den Sitzungsunterbrechungen noch ein spezifischer Hinweis auf die Gerichtskundigkeit und die daraus folgende Verwertbarkeit dieser Umstände für das Urteil. Vor allem aber musste aus diesen Hinweisen für die Angeklagte nicht erkennbar werden, inwiefern dem gerügten Verhalten seitens des Gerichts potentielle Bedeutung für die Rechtsfolgenentscheidung beigemessen wurde.

b) Bei dieser Sachlage macht die Revision mit Recht geltend, das Landgericht habe bei seiner Entscheidung, die Strafaussetzung zu versagen, Tatsachen verwertet, die weder im Strengbeweisverfahren in die Beweisaufnahme eingeführt wurden noch als gerichtskundig dem Urteil zugrunde gelegt werden durften (§ 261 StPO; vgl. BGH, Beschluss vom 24. September 2015 - 2 StR 126/15).

c) Auf diesem Rechtsfehler beruht die Versagung der Strafaussetzung (§ 337 Abs. 1 StPO). Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Strafkammer ohne Berücksichtigung des nicht eingeführten Umstands zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre.

II.

Zu den von allen Angeklagten erhobenen Verfahrensrügen bemerkt der Senat ergänzend zu den Antragsschriften des Generalbundesanwalts:

1. Die Rüge einer Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes (§ 338 Nr. 6 StPO) durch eine Begrenzung der Zuhörerzahl ist unbegründet. Entgegen der Auffassung der Revisionen hat die Strafkammervorsitzende die Entscheidung, die Zuhörerzahl aufgrund der COVID-19-Pandemie zu beschränken, in ihrer sitzungspolizeilichen Anordnung nach eigenem Ermessen getroffen und sich nicht an die - eine Höchstzahl an Zuhörern vorgebende - Hausordnung des Gerichtspräsidenten gebunden gesehen. Daraus, dass die Vorsitzende die zulässige Zuhörerzahl im Wege der Verweisung auf die jeweils geltende Hausordnung bestimmt hat, ergibt sich nichts anderes. Die Strafkammervorsitzende hat die „hier getroffenen Maßnahmen“ lediglich „vor dem Hintergrund“ der Hausordnung des Gerichtspräsidenten ergriffen, sie eigenständig begründet und nur ergänzend auf die Begründung des Landgerichtspräsidenten Bezug genommen. Inhaltlich war die Beschränkung der Zuhörerzahl aus den vom Generalbundesanwalt ausgeführten Gründen nicht zu beanstanden.

Da die Vorsitzende eine eigene Entscheidung getroffen hat, kommt es nicht darauf an, dass der grundsätzliche Vorrang der sitzungspolizeilichen Befugnisse gegenüber dem Hausrecht des Gerichtspräsidenten (vgl. BGH, Urteil vom 13. April 1972 - 4 StR 71/72, BGHSt 24, 329; Beschluss vom 19. Januar 1982 - 5 StR 166/81; auf diese Entscheidungen Bezug nehmend BVerfG, Beschluss vom 14. März 2012, 2 BvR 2405/11, NJW 2012, 1863) bindende Regelungen der Justizverwaltung zur Kapazität eines Sitzungssaals nicht in jeglicher Hinsicht ausschließt. Derartige Anordnungen können die Sitzungsgewalt des Vorsitzenden im Einzelfall durchaus einschränken, um etwa bau- oder gesundheitspolizeilichen Anforderungen, Erfordernissen des Brandschutzes oder Verkehrssicherungspflichten Rechnung zu tragen (vgl. bereits BGH, Urteil vom 10. Juni 1966 - 4 StR 72/66, BGHSt 21, 72 zur Einhaltung gesundheits- oder gewerbepolizeilicher Sicherungsvorschriften bei einer Augenscheinseinnahme). Die in der Sitzungspolizei zum Ausdruck gelangende unabhängige richterliche Gewalt wird hierdurch regelmäßig nicht in Frage gestellt, insbesondere wenn Gefahren für gewichtige Rechtsgüter abzuwehren sind, die auf vom Prozessgegenstand unabhängigen Gründen beruhen, und zugleich die getroffenen Maßgaben das richterliche Handeln in der Verhandlung nicht spezifisch tangieren.

2. Die Rüge, es seien Ergebnisse einer rechtswidrigen Observationsmaßnahme entgegen einem Beweisverwertungsverbot im Urteil herangezogen worden, ist jedenfalls deshalb unbegründet, weil das Urteil auf einem etwaigen Rechtsfehler nicht beruht (§ 337 Abs. 1 StPO). Der Senat kann ausschließen, dass das Landgericht ohne Berücksichtigung der unmittelbar aus der Observation herrührenden Erkenntnisse, die angesichts der im Übrigen dichten Beweislage von untergeordneter Bedeutung waren, zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre. Eine Fernwirkung auf weitere prozessuale Maßnahmen und hieraus gewonnene Erkenntnisse entfaltet ein etwaiges Beweisverwertungsverbot nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 7. März 2006 - 1 StR 316/05, BGHSt 51, 1, 7 ff.; Urteile vom 28. April 1987 - 5 StR 666/86, BGHSt 34, 362, 364; vom 22. Februar 1978 - 2 StR 334/77, BGHSt 27, 355, 357 f.; zu einem - hier nicht einschlägigen - Ausnahmefall BGH, Urteil vom 18. April 1980 - 2 StR 731/79, NJW 1980, 1700).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 715

Bearbeiter: Christian Becker