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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 231

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 211/21, Urteil v. 24.11.2021, HRRS 2022 Nr. 231


BGH 5 StR 211/21 - Urteil vom 24. November 2021 (LG Berlin)

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Erheblichkeit der Anlasstat).

§ 63 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Eine Tat ist erheblich im Sinne von § 63 Satz 1 StGB, wenn sie mindestens der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Straftaten, die im Höchstmaß mit mindestens fünf Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden, gehören regelmäßig zum Bereich der mittleren Kriminalität. Die Erheblichkeit ist bei solchen Taten insbesondere anzunehmen, wenn sie Zufallsopfer im öffentlichen Raum treffen und zu erheblichen Einschränkungen der Lebensführung des Opfers oder sonst schwerwiegenden Folgen führen. Hinzukommen muss nach § 63 Satz 1 StGB, dass die von solchen Taten betroffenen Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 9. Februar 2021 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit das Landgericht von einer Unterbringung des Angeklagten im psychiatrischen Krankenhaus abgesehen hat.

Die Sache wird in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten von den Vorwürfen eines sexuellen Übergriffs, einer Nötigung und einer Beleidigung freigesprochen, weil er diese Taten im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen habe. Seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hat die Strafkammer abgelehnt, weil nicht zu erwarten sei, dass der Angeklagte krankheitsbedingt erhebliche rechtswidrige Taten begehen werde. Das auf die Ablehnung der Maßregelanordnung beschränkte Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat mit der Sachrüge Erfolg.

Mit Urteil vom 2. März 2020 hatte das Landgericht den Angeklagten ebenfalls von den anklagegegenständlichen Vorwürfen wegen Handelns ohne Schuld freigesprochen, aber seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Dieses Urteil hatte der Senat auf Revision des Angeklagten wegen eines Verfahrensfehlers mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen (Beschluss vom 21. Juli 2020 - 5 StR 236/20, NStZ 2021, 56 m. Anm. Schneider NStZ 2021, 242).

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet der seit seinem 14. Lebensjahr Cannabis konsumierende Angeklagte seit 2017 an einer mit akustischen Halluzinationen einhergehenden paranoiden Schizophrenie. Krankheitsbedingt kam es zunächst zu Konflikten mit seinen Familienangehörigen und schließlich zum sozialen Abstieg. Der medikamentös unbehandelte Angeklagte zog bei seinen Eltern aus, schlief auf der Straße, verwahrloste und verlor seine sozialen Bindungen. Seinen Lebensunterhalt bestritt er durch das Sammeln von Pfandflaschen. Ein im Juli 2017 begangener Kabel-Diebstahl wurde 2018 mit einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen geahndet. Ansonsten ist der Angeklagte unbestraft.

Nach der Trennung von seiner Ehefrau im Jahr 2016 entwickelte der Angeklagte krankheitsbedingt die sein Handeln und Denken bestimmende Vorstellung, er müsse sich unbedingt eine Frau suchen. Bei den nachfolgenden Taten vermeinte er, die Stimmen seiner Eltern und seines Cousins zu hören, die ihn permanent zur Suche nach einer Frau aufforderten. In diese Vorstellung steigerte sich der Angeklagte so hinein, dass bei den folgenden Taten seine Einsichtsfähigkeit aufgehoben war:

Am 29. Oktober 2017 führte die 22-jährige W. am frühen Nachmittag in B. -W. ihre Hunde aus. Auf dem Gehweg traf sie den ihr unbekannten Angeklagten, der auf dem Rücken einen großen Fernseher trug und an ihr vorbeilief. Als sie sich zu ihren Hunden hinunterbeugte, um verknotete Hundeleinen zu entwirren, trat der Angeklagte von hinten unbemerkt an sie heran und fasste ihr unvermittelt mehrere Sekunden fest zwischen ihre mit einer Jeanshose bekleideten Beine in den Schambereich. Sie drehte sich um, rief um Hilfe und fragte lautstark, was das solle. Als der Angeklagte erneut seine Hand in ihre Richtung führte, erklärte sie, dass sie das nicht wolle und er sie in Ruhe lassen solle. Er erklärte daraufhin „Schöner Popo… geiler Diamant“. Die Geschädigte, deren Hilferufe von Passanten ignoriert worden waren, rannte zu ihrer Wohnanschrift und informierte von dort aus die Polizei und ihren Lebensgefährten. Als sie anschließend auf den Gehweg trat, traf sie wieder auf den Angeklagten, der ihr gefolgt war und in gebrochenem Deutsch erklärte: „Schön… Diamant“. Dabei trat er erneut an sie heran und versuchte erfolglos, an ihr Gesäß zu fassen. Als der Lebensgefährte der Geschädigten erschien, flüchtete der Angeklagte mit dem Fernseher in das nahegelegene Wohnhaus seiner Mutter, wo er wenig später von der Polizei festgenommen wurde. Die Geschädigte entwickelte Ängste und versteckte sich vor dem Angeklagten, als sie ihm in der Folgezeit zweimal zufällig in ihrem Wohnumfeld begegnete. Wenige Wochen später zog sie aus der Wohnung aus. Inzwischen hat sie das Geschehen verarbeitet (Tat 1).

Am Nachmittag des 3. Januar 2018 liefen zwei 13-jährige Cousinen mit einem vierjährigen Kind in Richtung eines Spielplatzes. Der Angeklagte trat an sie heran und sagte in gebrochenem Deutsch: „Ihr seid voll die schönen Bräute…, voll hübsch, kommt zu mir, ihr seid voll hübsch.“ Als die Kinder, ohne darauf einzugehen, weiterliefen, näherte sich der Angeklagte am Spielplatz erneut dem einen Mädchen und sagte zu ihm: „Du bist so hübsch, du bist meine Braut.“ Das Mädchen schrie den Angeklagten laut an. Dieser legte der Geschädigten eine Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen. Dabei sagte er sinngemäß „ich meine es doch nicht so“. Trotz ihrer mehrfachen lautstarken Aufforderung, sie loszulassen, beließ der Angeklagte seine Hand dort (Tat 2).

Eine durch die Hilferufe aufmerksam gewordene Zeugin stellte sich schützend vor das Kind und forderte den Angeklagten auf zu verschwinden. Darauf spuckte dieser das bedrängte Mädchen an und beschimpfte es als „Hurentochter“, „Schlampe“ und „Nutte“ (Tat 3). Durch das Tatgeschehen war das Kind merklich beeindruckt und verließ drei Wochen die Wohnung kaum noch. Inzwischen hat es das Geschehen verarbeitet.

Nach diesen verfahrensgegenständlichen Taten kam es noch zu folgendem Vorfall: Am 13. Mai 2019 ging der Angeklagte gegen 13.30 Uhr vor einer Grundschule auf eine Schülerin zu und sprach sie an. Nachdem sich das Mädchen von ihm abgewandt hatte, wurde er von einer Erzieherin verfolgt, von Polizeibeamten festgenommen und in ein psychiatrisches Krankenhaus verbracht. Als er sich von dort entfernte, wurde er wenige Tage später wieder festgenommen und erklärte, seine Eltern würden ihn auffordern, eine Frau zu finden, zu heiraten und aus der Wohnung auszuziehen.

Es folgte eine vorübergehende Unterbringung nach dem PsychKG. Verordnete antipsychotisch wirkende Medikamente nahm der Angeklagte dabei nur sporadisch ein. In der einstweiligen Unterbringung nach § 126a StPO (11. Dezember 2019 bis 9. Februar 2021) kam es nach der Gabe einer Depotmedikation zu einer Teilremission der Erkrankung und einem deutlichen Rückgang der psychotischen Symptomatik.

2. Das Landgericht hat die vom Angeklagten mit natürlichem Vorsatz begangenen angeklagten rechtswidrigen Taten als sexuellen Übergriff nach § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB (Fall 1), als Nötigung nach § 240 Abs. 1 und 2 StGB (Fall 2) und als Beleidigung nach § 185 StGB (Fall 3) gewertet. Anders als angeklagt konnte die Strafkammer der Berührung der Schulter in Fall 2 keine sexuelle Komponente entnehmen, weshalb sie diese Handlung nicht als sexuelle Belästigung nach § 184i StGB angesehen hat. Weil der Angeklagte diese Taten im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen habe, hat die Strafkammer ihn freigesprochen.

3. Von einer Unterbringung des Angeklagten im psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB hat das Landgericht abgesehen. Die festgestellten Taten seien nicht erheblich, so dass sich die Anordnung nach § 63 Satz 2 StGB richte. Im Fall 1 habe der Angeklagte die Geschädigte nur wenige Sekunden oberhalb der Kleidung berührt. Auch im Fall 2 habe die Berührung nur wenige Sekunden gedauert. Beleidigungen wie im Fall 3 seien generell nicht erheblich. Besondere Umstände im Sinne von § 63 Satz 2 StGB, die eine Prognose der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten rechtfertigen könnten, lägen nicht vor. Nach der Auffassung der Sachverständigen, der das Landgericht gefolgt ist, seien bei einem Absetzen der derzeit gut wirkenden antipsychotischen Medikamente ähnlich gelagerte Taten wie die festgestellten zu erwarten, wenn der Angeklagte auf sich allein gestellt sei. Schwerere Delikte könnten nicht ausgeschlossen werden. Damit besteht nach Auffassung der Strafkammer keine Wahrscheinlichkeit höheren Grades, dass der Angeklagte krankheitsbedingt in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten im Sinne von § 63 Satz 1 StGB begehen werde. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass der Angeklagte trotz seiner Störung keine weiteren Taten begangen habe und in der einstweiligen Unterbringung nicht durch sexualisierte Übergriffe aufgefallen sei.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.

1. Die Revision ist ausweislich ihrer Begründung wirksam auf die Nichtanordnung der Maßregel beschränkt (vgl. BGH, Urteile vom 28. März 2019 - 4 StR 530/18; vom 12. Juni 2008 - 4 StR 140/08, NStZ 2008, 563; vom 7. Juni 1995 - 2 StR 206/95, NStZ 1995, 609). Diese Entscheidung hält revisionsgerichtlicher Prüfung nicht stand.

2. Zu Recht beanstandet die Revisionsführerin, dass das Landgericht die Tat 1 nicht als erheblich im Sinne von § 63 Satz 1 StGB angesehen und in Folge dessen einen falschen Prüfungsmaßstab angelegt hat.

a) Eine Tat ist erheblich im Sinne von § 63 Satz 1 StGB, wenn sie mindestens der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Straftaten, die im Höchstmaß mit mindestens fünf Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden, gehören regelmäßig zum Bereich der mittleren Kriminalität. Die Erheblichkeit ist bei solchen Taten insbesondere anzunehmen, wenn sie Zufallsopfer im öffentlichen Raum treffen und zu erheblichen Einschränkungen der Lebensführung des Opfers oder sonst schwerwiegenden Folgen führen. Denn derartige Taten sind in hohem Maße geeignet, den Rechtsfrieden empfindlich zu stören und das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen (vgl. BGH, Urteil vom 15. November 2017 - 5 StR 439/17 mwN). Hinzukommen muss nach § 63 Satz 1 StGB, dass die von solchen Taten betroffenen Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird.

b) Diese Voraussetzungen liegen bei Tat 1 vor. Das Landgericht hat das Geschehen zutreffend als sexuelle Nötigung im Sinne von § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB angesehen. Die Tat gehört - auch angesichts der erhöhten Mindeststrafe des § 177 Abs. 2 StGB - zum Bereich der mittleren Kriminalität. Angesichts der konkreten Umstände des Einzelfalls hat sie den Rechtsfrieden empfindlich gestört und war geeignet, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Denn der Angeklagte hat der ihm unbekannten Geschädigten, die sich beim Ausführen ihrer Hunde keines Übergriffs versah, ohne Vorwarnung hinterrücks im öffentlichen Raum fest in den Schambereich gefasst und diese körperliche Attacke trotz heftiger Gegenreaktion mit Worten bekräftigt. Der flüchtenden Geschädigten hat er nachgesetzt, sie weiter verbal belästigt und erneut versucht, ihr an das Gesäß zu fassen. Erst das Eingreifen eines hilfsbereiten Dritten hat ihn schließlich zur Flucht veranlasst. Diese Tat hatte für die Geschädigte nach den Feststellungen des Landgerichts schwerwiegende Folgen: In der Tatsituation entwickelte sie panische Angst. Sie war insbesondere schockiert von der Dreistigkeit des Angeklagten, sie mitten am Tag im öffentlichen Raum zu berühren. Anschließend war sie infolge des Geschehens so beeindruckt, belastet und verängstigt, dass sie wenige Wochen später aus ihrer Wohnung auszog. Zwar hat sie inzwischen den Vorfall ohne Inanspruchnahme fachkundiger Hilfe verarbeitet. Dies stellt aber nicht in Frage, dass die Tat des Angeklagten die Geschädigte seelisch zumindest erheblich gefährdet, wenn nicht gar geschädigt hat. Nach den Feststellungen der Strafkammer sollen derartige erhebliche Taten des Angeklagten auch in Zukunft mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades zu erwarten sein. Auf die von der Strafkammer nach § 63 Satz 2 StGB geforderten „besonderen Umstände“ kommt es vor diesem Hintergrund nicht an.

c) Daneben leidet die Gefährlichkeitsprognose auch an einem Erörterungsmangel. Die Strafkammer hat die Übergriffe des Angeklagten auf die 22-jährige Geschädigte bei Tat 1 und auf die Kinder bei Tat 2 und 3 sowie seine Ansprache einer Grundschülerin am 13. Mai 2019 nicht zueinander in Beziehung gesetzt, sondern lediglich isoliert abgehandelt. Deshalb bleibt offen, ob die nach der Gefährlichkeitsprognose zu erwartenden sexuellen Übergriffe wie bei Tat 1 auf erwachsene Zufallsopfer im öffentlichen Raum beschränkt sind oder - angesichts des Vorgehens des Angeklagten in den Fällen 2 und 3 sowie am 13. Mai 2019 - mit der gebotenen Wahrscheinlichkeit auch Kinder betreffen können. Bei der zweiten Alternative wären solche Taten als Verbrechen nach § 176 Abs.1 Nr. 1 StGB erst recht als erhebliche Taten im Sinne von § 63 Satz 1 StGB zu werten.

3. Die Frage der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bedarf deshalb neuer Verhandlung und Entscheidung. Dabei wird - wie im angefochtenen Urteil zutreffend geschehen - auch die weitere Entwicklung des Angeklagten zu berücksichtigen sein. Auf die vom Generalbundesanwalt geltend gemachten Bedenken hinsichtlich der rechtlichen Bewertung von Tat 2 weist der Senat vorsorglich hin.

4. Die den Angeklagten belastenden Feststellungen sind ebenfalls insgesamt aufzuheben, weil dieser sie mangels Beschwer nicht mit einem Rechtsmittel angreifen konnte (vgl. BGH, Urteil vom 26. September 2019 - 4 StR 30/19 mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 231

Bearbeiter: Christian Becker