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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1097

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 318/20, Beschluss v. 18.08.2020, HRRS 2020 Nr. 1097


BGH 5 StR 318/20 - Beschluss vom 18. August 2020 (LG Berlin)

Gefährlichkeitsprognose bei der Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Schlüsse aus früher anhängigen Verfahren; nachprüfbare Darlegung der zu Grunde liegenden Taten); Raub (Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben; Ankündigung unwesentlicher Beeinträchtigungen).

§ 63 StGB; § 249 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die für die Anordnung der Unterbringung gemäß § 63 StGB erforderliche Wahrscheinlichkeit höheren Grades, der Täter werde infolge seines fortdauernden psychischen Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, ist aufgrund einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln. Dabei darf das Gericht im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose Schlüsse aus anhängig gewesenen Verfahren nur dann ziehen, wenn es die diesen Verfahren zugrundeliegenden Taten für erwiesen hält; dies muss nachprüfbar dargelegt werden.

2. Lediglich die Ankündigung einer nur ganz unwesentlichen Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit reicht für eine Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben im Sinne des § 249 Abs. 1 StGB nicht aus.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 6. April 2020 mit den Feststellungen aufgehoben; ausgenommen hiervon sind die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus sowie die Einziehung des Wertes des Tatertrages in Höhe von 2.435 Euro angeordnet. Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Beschuldigten hat weitgehend Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

I.

Das Landgericht hat im Wesentlichen die folgenden Feststellungen und Wertungen getroffen:

Der Beschuldigte leidet seit über 30 Jahren an einer mittlerweile chronifizierten paranoiden Schizophrenie (ICD-10: F20.0) mit Angstzuständen, Körperhalluzinationen und wahnhaftem Verfolgungserleben, das im Kontakt mit anderen Menschen besonders ausgeprägt auftritt. Ausdruck der ständigen Beschäftigung mit dem psychotischen Binnenerleben sind unverständliche Selbstgespräche.

Als Folge seines Wahnerlebens schlug der Beschuldigte am 17. Oktober 2018 in seinem Wohnheim in Berlin einem Mitbewohner ohne Vorwarnung ein leeres Bierglas gegen die Stirn. Dieser erlitt dadurch eine schmerzhafte, stark blutende Platzwunde, die ambulant behandelt werden musste.

Am frühen Morgen des 11. November 2019 hielt sich der Beschuldigte in einem Berliner Café auf und führte Selbstgespräche. Als eine Mitarbeiterin des Lokals hinter dem Tresen Geld aus einem Umschlag sortierte, trat er unvermittelt von hinten an sie heran, hob kurz die rechte Hand über den Kopf und forderte sie auf, ihm das Geld zu geben und die Kasse zu öffnen. Dem kam die Geschädigte aus Angst vor dem ihr aus früheren Besuchen des Lokals bekannten Beschuldigten nach. Dieser entwendete insgesamt 2.435 Euro und verließ das Café. Im Verlauf des Geschehens hatte er der Kellnerin zudem damit gedroht, sie umzubringen.

Das Landgericht hat die erste Tat als gefährliche Körperverletzung und die zweite als Diebstahl in Tateinheit mit Bedrohung gewertet. Als erheblich im Sinne des § 63 Satz 1 StGB hat es die beiden Taten nicht eingeordnet, weil sie „für sich genommen nicht besonders schwerwiegend“ gewesen seien.

Die sachverständig beratene Strafkammer ist letztlich davon ausgegangen, dass der Beschuldigte bei keiner der Taten in der Lage gewesen sei, seiner Unrechtseinsicht entsprechend zu handeln.

II.

Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus hat keinen Bestand, da die Gefährlichkeitsprognose nicht tragfähig begründet ist.

1. Die für die Anordnung der Unterbringung gemäß § 63 StGB erforderliche Wahrscheinlichkeit höheren Grades, der Täter werde infolge seines fortdauernden psychischen Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, ist aufgrund einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 11. März 2020 - 4 StR 556/19; vom 2. September 2015 ? 2 StR 239/15; vom 7. Juni 2016 ? 4 StR 79/16, NStZ-RR 2016, 306 f. und vom 13. Oktober 2016 ? 1 StR 445/16, StV 2017, 585 mwN). Bei der insofern vorzunehmenden Gesamtwürdigung des Täters und der Symptomtat sind etwaige Vortaten von besonderer Bedeutung (BGH, Beschlüsse vom 11. März 2020 - 4 StR 556/19 mwN). Dabei darf das Gericht im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose Schlüsse aus anhängig gewesenen Verfahren nur dann ziehen, wenn es die diesen Verfahren zugrundeliegenden Taten für erwiesen hält; dies muss nachprüfbar dargelegt werden (BGH, Beschlüsse vom 11. März 2020 - 4 StR 556/19, und vom 28. Januar 2020 - 4 StR 632/19).

2. Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht.

Die Prognose, dass der Beschuldigte aufgrund seiner Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis für die Allgemeinheit gefährlich ist, hat das Landgericht nicht allein mit den Anlasstaten begründet, sondern auch zahlreiche „Gewaltausbrüche“ des Beschuldigten in den Jahren 2013 bis 2019 herangezogen. Insoweit erscheint es angesichts von Formulierungen wie „der Beschuldigte habe … getreten“ oder „schlug laut Strafanzeige“ indes schon zweifelhaft, ob die Strafkammer die betreffenden Taten überhaupt für erwiesen erachtet hat. Jedenfalls aber hat sie ihre Überzeugung von der Täterschaft des Beschuldigten nicht nachprüfbar dargelegt. Denn sie hat sich lediglich auf die in der Hauptverhandlung verlesenen Strafanzeigen und Einstellungsverfügungen sowie den Inhalt einer beigezogenen Akte gestützt. Ob und gegebenenfalls mit welchem Inhalt sich der Beschuldigte konkret zu den Vorfällen eingelassen hat, lassen die Urteilsgründe indes nicht erkennen (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 30. Dezember 2014 - 2 StR 403/14; NStZ 2015, 299, 300).

Soweit das Landgericht im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose eine im Jahr 2001 angeordnete Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus herangezogen hat, leidet das Urteil ebenfalls an einem Erörterungsmangel. Denn die Urteilsgründe lassen jegliche inhaltliche Auseinandersetzung mit den damals gegenständlichen Taten und deren krankheitsbedingte Ursache vermissen (vgl. zur indiziellen Bedeutung länger zurückliegender Straftaten BGH, Urteil vom 11. August 2011 - 4 StR 267/11).

3. Die bislang unzureichend begründete Gefahrenprognose nötigt zur Aufhebung der Entscheidung einschließlich des überwiegenden Teils der Feststellungen. Jedoch sind die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen rechtsfehlerfrei getroffen und können deshalb bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO).

4. Der Senat weist auf Folgendes hin:

Die bisherige Einordnung der Anlasstaten als solche im Sinne von § 63 Satz 2 StGB ist nicht tragfähig begründet.

a) Gewalt- und Aggressionsdelikte wie die hier verwirklichte gefährliche Körperverletzung mit der Folge einer stark blutenden Platzwunde im Gesicht des Opfers sind regelmäßig als erheblich im Sinne des § 63 Satz 1 StGB anzusehen (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juli 2016 - 3 StR 174/18; Beschluss vom 10. August 2010 - 3 StR 268/10).

b) Bezüglich der zweiten Tat liegt es angesichts der „Gewaltausbrüche“ des Beschuldigten, die sich insbesondere in Schlägen gegen den Kopf wahlloser Geschädigter widerspiegeln und teilweise zu schweren Verletzungen geführt haben, nahe, dass er mit dem Erheben der Hand über seinen Kopf der geschädigten Kellnerin konkludent mit einem erheblichen Angriff auf ihre körperliche Unversehrtheit gedroht hat und die Tat deshalb als Raub bzw. räuberische Erpressung zu werten ist. Lediglich die Ankündigung einer nur ganz unwesentlichen Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit reicht für eine Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben im Sinne des § 249 Abs. 1 StGB nicht aus (vgl. BGH, Urteil vom 17. März 1955 - 4 StR 8/55, BGHSt 7, 252, 254; zur Drohung mit einer Ohrfeige vgl. BGH, Beschluss vom 8. Mai 2001 - 4 StR 58/01, StV 2001, 679, 680 zu §§ 177, 178 aF; Vogel in: Leipziger Kommentar, 12. Aufl., § 249 Rn. 14; krit. hierzu MüKoStGB/Sander, 3. Aufl., § 249 Rn. 21; Fischer, StGB, 67. Aufl., § 177 Rn. 78).

c) Die Einziehung nach den §§ 73 ff. StGB ist im Sicherungsverfahren nicht zulässig, da in diesem gemäß § 413 StPO nur Maßregeln der Besserung und Sicherung angeordnet werden können. Eine Anordnung der Einziehung des Wertes von Taterträgen (§§ 73, 73c StGB) ist in diesen Fällen nur im selbständigen Einziehungsverfahren gemäß § 435 Abs. 1 StPO zulässig; dazu bedarf es eines gesonderten Antrags der Staatsanwaltschaft (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. Mai 2019 - 5 StR 109/19; vom 21. März 2017 - 5 StR 70/17; und vom 12. Dezember 2017 - 3 StR 558/17, NStZ 2018, 559 mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1097

Externe Fundstellen: StV 2021, 219

Bearbeiter: Christian Becker