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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 399

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 580/19, Beschluss v. 20.02.2020, HRRS 2020 Nr. 399


BGH 5 StR 580/19 - Beschluss vom 20. Februar 2020 (LG Bremen)

Sexueller Übergriff (sexuelle Selbstbestimmung; Missachtung eines erkennbar entgegenstehenden Willens; Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Bildung/Äußerung eines entgegenstehenden Willens; Ausnutzen).

§ 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Im Zentrum des reformierten Sexualstrafrechts steht die sexuelle Selbstbestimmung. Strafbewehrt ist mithin schon die bloße Verletzung des Willens des Opfers. § 177 Abs. 1 StGB stellt deshalb allein die Missachtung eines dem sexuellen Ansinnen erkennbar entgegenstehenden Willens des Opfers unter Strafe. Dieser Willensmissachtung stellt § 177 Abs. 2 StGB verschiedene Situationen gleich, in denen es für die von den sexuellen Handlungen betroffene Person nicht möglich oder zumutbar ist, einen ablehnenden Willen zu bilden oder zu äußern (hier: Schlaf). Dies wiederum bildet den Bezugspunkt für das Ausnutzen im Sinne des § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB.

2. Der Täter nutzt die Unfähigkeit des Opfers zur Willensbildung oder -äußerung deshalb schon dann aus, wenn er diesen Zustand bewusst als Gelegenheit begreift, in der er eine Auseinandersetzung mit einem stets möglichen, seinem sexuellen Ansinnen entgegenstehenden Willen der betroffenen Person in der konkreten Situation vermeiden kann. Dagegen ist ohne Belang, ob der Täter es bei den sexuellen Handlungen für möglich hält, dass diese ohne das Willensdefizit unterblieben oder zurückgewiesen worden wären oder mit Nötigungsmitteln hätten erzwungen werden müssen.

Entscheidungstenor

Die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Bremen vom 6. Juni 2019 wird als unbegründet verworfen.

Die Beschwerdeführerin hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte unter anderem wegen mehrfachen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes, in einem Fall in Tateinheit mit sexuellem Übergriff, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die mit der Sachrüge geführte Revision der Angeklagten ist unbegründet.

Auch die Verurteilung wegen sexuellen Übergriffs nach § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB im Fall 13 der Urteilsgründe begegnet keinen rechtlichen Bedenken.

1. Nach den Feststellungen filmte die Angeklagte zunächst den unbekleideten Genitalbereich ihrer schlafenden Tochter. Anschließend führte sie unter anderem einen Finger zwischen die Schamlippen des Kindes und führte ihre Zunge über deren Klitoris. Ausweislich ihrer Einlassung wusste die Angeklagte, dass die sexuellen Handlungen nicht dem Willen ihrer Tochter entsprachen.

2. Danach hat die Angeklagte den Straftatbestand des § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB verwirklicht. Insbesondere hat sie ausgenutzt, dass ihre Tochter nicht in der Lage war, einen den sexuellen Handlungen der Angeklagten entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern (vgl. zum Schlaf als einen die Ablehnungsfähigkeit ausschließenden Zustand BGH, Urteil vom 24. September 1991 - 5 StR 364/91, BGHSt 38, 68, 71, zu § 179 StGB aF; Fischer, StGB, 67. Aufl., § 177 Rn. 22; SSW/Wolters, StGB, 4. Aufl., § 177 Rn. 33).

Im Zentrum des reformierten Sexualstrafrechts steht die sexuelle Selbstbestimmung. Strafbewehrt ist mithin schon die bloße Verletzung des Willens des Opfers (vgl. BT-Drucks. 18/9097, S. 21). § 177 Abs. 1 StGB stellt deshalb allein die Missachtung eines dem sexuellen Ansinnen erkennbar entgegenstehenden Willens des Opfers unter Strafe. Dieser Willensmissachtung stellt § 177 Abs. 2 StGB verschiedene Situationen gleich, in denen es für die von den sexuellen Handlungen betroffene Person nicht möglich oder zumutbar ist, einen ablehnenden Willen zu bilden oder zu äußern (vgl. Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156). Dies wiederum bildet den Bezugspunkt für das Ausnutzen im Sinne des § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB (vgl. auch SK/Wolters/Noltenius, StGB, 9. Aufl., § 177 Rn. 22). Der Täter nutzt die Unfähigkeit des Opfers zur Willensbildung oder -äußerung deshalb schon dann aus, wenn er diesen Zustand bewusst als Gelegenheit begreift, in der er eine Auseinandersetzung mit einem stets möglichen, seinem sexuellen Ansinnen entgegenstehenden Willen der betroffenen Person in der konkreten Situation vermeiden kann (vgl. auch BT-Drucks. 18/9097, S. 23; SK/Wolters/Noltenius, aaO; Schönke/Schröder/Eisele, StGB, 30. Aufl., § 177 Rn. 30; MüKo/Renzikowski, StGB, 3. Aufl., § 177 Rn. 65). Dagegen ist ohne Belang, ob der Täter es bei den sexuellen Handlungen für möglich hält, dass diese ohne das Willensdefizit unterblieben oder zurückgewiesen worden wären oder mit Nötigungsmitteln hätten erzwungen werden müssen (so indes SSW/Wolters, aaO, Rn. 37). § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB knüpft auch in subjektiver Hinsicht nicht an einen fiktiven Willen oder eine fiktive Willensäußerung des Opfers an, sondern an das - zustandsbedingte - tatsächliche Fehlen einer entsprechenden Willensbildung und/oder -äußerung. Etwas anderes kann im Einzelfall daher etwa gelten, wenn das Opfer vor Eintritt des Schwächezustandes eine auch für diesen (fort-) geltende defektfreie Einverständniserklärung abgegeben hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Juni 2008 - 3 StR 198/08, NStZ 2009, 90; vom 8. Januar 2014 - 3 StR 416/13, NStZ-RR 2014, 108, 109, jeweils zu § 179 StGB aF; siehe auch § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB). Ein solcher Ausnahmefall liegt indes hier nicht vor.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 399

Externe Fundstellen: StV 2020, 473

Bearbeiter: Christian Becker