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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 574

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 25/19, Urteil v. 17.04.2019, HRRS 2019 Nr. 574


BGH 5 StR 25/19 - Urteil vom 17. April 2019 (LG Saarbrücken)

Heimtücke (Arglosigkeit; Wehrlosigkeit; vorausgehende verbale Auseinandersetzung; latente Angst; Tatzeitpunkt; Ausnutzungsbewusstsein); lückenhafte Beweiswürdigung (weder als richtig noch als unrichtig erwiesene entlastende Angaben des Angeklagten; gesamtes Beweisergebnis; Einfluss auf Überzeugungsbildung).

§ 211 StGB; § 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine auf feindseliger Atmosphäre beruhende latente Angst des Opfers muss der Annahme von Arglosigkeit nicht entgegenstehen. Es kommt vielmehr grundsätzlich darauf an, ob das Opfer gerade im Tatzeitpunkt mit Angriffen auf sein Leben bzw. schweren oder doch erheblichen Angriffen gegen seine körperliche Unversehrtheit rechnet (vgl. zuletzt BGH HRRS 2018 Nr. 16).

2. Entlastende Angaben des Angeklagten, für deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit es keine Beweise gibt, darf das Tatgericht nicht ohne weiteres als unwiderlegt hinnehmen. Es muss sich vielmehr auf der Grundlage des gesamten Beweisergebnisses entscheiden, ob diese Angaben geeignet sind, seine Überzeugungsbildung zu beeinflussen.

Entscheidungstenor

Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 19. Oktober 2018 mit den Feststellungen aufgehoben, im Strafausspruch auch zugunsten des Angeklagten.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft und die eine Verurteilung wegen versuchten Mordes erstrebende Revision der Nebenklägerin haben jeweils mit der Sachrüge Erfolg und führen zudem gemäß § 301 StPO zur Aufhebung des Strafausspruchs zugunsten des Angeklagten.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte nach dem Auszug bei seinen Eltern in das Einfamilienhaus der Nebenklägerin gezogen. Nach etwa einem Jahr verschlechterte sich die Beziehung und die Nebenklägerin sprach davon, sich von dem Angeklagten trennen zu wollen.

Am 5. Mai 2018 hatte die Geschädigte zwei Freundinnen zu sich eingeladen; der Zeuge G. stieß dazu. Zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin kam es zu kleineren verbalen Provokationen und Spannungen. Der Angeklagte, der mehr Alkohol als sonst getrunken hatte, beleidigte gegen 18 Uhr eine der Freundinnen der Geschädigten im Rahmen eines verbalen Streits als „fette Kuh“. Die Geschädigte machte ihm daraufhin klar, dass er zu weit gegangen sei und nun das Haus verlassen solle. Nach einer Entschuldigung verließ er schließlich das Anwesen.

Um zu verhindern, dass der Angeklagte wieder das Haus betrat, kontrollierte und verriegelte die Geschädigte mit dem Zeugen G. Fenster und Türen. Gegen 22 Uhr erschien der Angeklagte, ging durch den Garten, in dem noch die Zeugen G. und Sc. saßen, ins Haus und traf dort die Nebenklägerin, die ihn fragte, wie er ins Haus gekommen sei. Er antwortete, dass er durch den Garten gekommen sei, und begab sich in die Küche. Dort nahm er ein türkisfarbenes Messer mit ca. 20 cm Klingenlänge, ging damit an der Geschädigten vorbei ins Schlafzimmer und legte das Messer dort auf den Boden. Er glaubte, sie habe das Messer gesehen; ob dies tatsächlich der Fall war, konnte nicht festgestellt werden. Sie folgte ihm schließlich ins Schlafzimmer, fragte mehrmals, was er aus der Küche geholt habe, und ging auf ihn zu. Nach einem wechselseitigen Wortgefecht rief die Nebenklägerin einer ihrer Freundinnen zu, sie solle die Polizei rufen.

Als die Geschädigte dem Angeklagten zum wiederholten Mal mitteilte, dass sie sich endgültig von ihm trennen wolle und er nicht mehr in die Wohnung dürfe, entschied sich der enttäuschte und durch Alkohol (max. BAK 1,48 Promille) enthemmte Angeklagte spontan, das Messer gegen sie einzusetzen. Er hob es auf, holte damit aus, drehte sich um und stach unmittelbar in Richtung der Nebenklägerin in der Absicht, sie zu töten. Dem von oben nach unten geführten Stich konnte sie ausweichen und erlitt dabei eine Schnittverletzung an der rechten Brust. Die nächsten beiden Stichversuche wehrte sie durch Umklammern der messerführenden Hand ab, wurde allerdings an Schulter und Mundwinkel getroffen. Als die Gäste ins Haus kamen und die Nebenklägerin schreien hörten: „Der sticht mich ab!“, rannte der Zeuge G. ins Schlafzimmer, wo der Angeklagte mit dem Messer in der Hand die Nebenklägerin in eine Ecke gedrängt hatte; sie hielt noch immer das Handgelenk mit dem Messer fest. Der Zeuge G. griff nun ein und konnte den Angeklagten entwaffnen, der jeglichen Widerstand aufgab.

2. Die Feststellungen zu wesentlichen Details des Tatablaufs, insbesondere dazu, dass der Angeklagte das Messer zunächst ohne Tötungsabsicht aus der Küche genommen und im Schlafzimmer abgelegt habe, er davon ausgegangen sei, die Nebenklägerin habe das Messer bei seinem Vorbeigehen bemerkt, und er sich erst im Schlafzimmer spontan zur Tat entschlossen habe, hat das Landgericht unter anderem auf die „unwiderlegbare Einlassung“ des Angeklagten gestützt.

3. Zur Ablehnung des Mordmerkmals der Heimtücke hat das Schwurgericht ausgeführt, es habe schon nicht feststellen können, dass die Geschädigte arglos gewesen sei. Zudem fehle es an einem bewussten Ausnutzen einer etwaigen Arg- und Wehrlosigkeit durch den Angeklagten, weil er die Tat spontan aufgrund der weiteren Streitigkeiten im Schlafzimmer begangen habe.

II.

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin haben Erfolg. Zu Recht beanstanden sie, dass die Ablehnung des Mordmerkmals der Heimtücke nicht tragfähig begründet ist.

1. Die Beweiswürdigung ist lückenhaft.

a) Das Landgericht ist zwar im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend davon ausgegangen, dass heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung bei Beginn des mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zur Tötung ausnutzt (vgl. BGH, Urteil vom 15. November 2017 - 5 StR 338/17, NStZ 2018, 97 mwN). Zum Vorstellungsbild der Geschädigten im konkreten Angriffszeitpunkt im Schlafzimmer verhält es sich aber nicht. Wesentliches Argument für die Ablehnung der Arglosigkeit der Geschädigten ist, dass es im Verlauf des Abends zu Streitigkeiten kam, die sie schließlich dazu brachten, ihre Freundin um einen Anruf bei der Polizei zu bitten. Selbst wenn sie das Messer beim Transport aus der Küche nicht als solches erkannt habe, stehe dies der Ablehnung ihrer Arglosigkeit nicht entgegen. Das Landgericht hat dabei nicht bedacht, dass auch eine auf feindseliger Atmosphäre beruhende latente Angst des Opfers der Annahme von Arglosigkeit nicht entgegenstehen muss, da es darauf ankommt, ob es gerade im Tatzeitpunkt mit Angriffen auf sein Leben bzw. schweren oder doch erheblichen Angriffen gegen seine körperliche Unversehrtheit rechnet (vgl. BGH, aaO; Urteil vom 11. November 2015 - 5 StR 259/15, NStZ-RR 2016, 72, je mwN).

b) Die Strafkammer setzt sich bei der Prüfung der Arglosigkeit auch nicht damit auseinander, weshalb die Geschädigte dem Angeklagten ins Schlafzimmer gefolgt ist, wenn sie konkret mit einem schweren oder erheblichen Angriff des Angeklagten gegen ihre körperliche Unversehrtheit ernsthaft gerechnet und, was die Kammer als naheliegend ansieht, zuvor ein großes Messer oder zumindest einen größeren Gegenstand in der Hand des Angeklagten erkannt hat. Auch die konkrete Situation im Schlafzimmer - erneute Bekundung der Trennungsabsicht und des Wohnungsverweises - hat das Schwurgericht nicht näher in seine Prüfung der Arglosigkeit mit einbezogen. Hierfür hätte aber Anlass bestanden, da diese Kommunikation nicht darauf hindeutet, dass die Geschädigte in dieser Situation unmittelbar einen zumindest erheblichen Angriff gegen ihre körperliche Unversehrtheit fürchtete. In diesem Zusammenhang bleibt auch die Einlassung des Angeklagten unerörtert, wonach die Geschädigte von seinem Messerangriff „überrascht“ gewesen sei.

c) Der Ablehnung des Ausnutzungsbewusstseins liegt ebenfalls eine lückenhafte Beweiswürdigung zugrunde. Für ihre Annahme, es habe sich um eine Spontantat gehandelt, hat sich das Landgericht ganz wesentlich auf die Einlassung des Angeklagten gestützt, ohne diese allerdings ausreichend zu würdigen. Entlastende Angaben des Angeklagten, für deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit es keine Beweise gibt, darf das Tatgericht nicht ohne weiteres als unwiderlegt hinnehmen. Es muss sich vielmehr auf der Grundlage des gesamten Beweisergebnisses entscheiden, ob diese Angaben geeignet sind, seine Überzeugungsbildung zu beeinflussen (vgl. BGH, Urteile vom 24. Oktober 2002 - 5 StR 600/01, BGHSt 48, 52, 71; vom 28. Januar 2009 - 2 StR 531/08, NStZ 2009, 285, und vom 16. Dezember 2015 - 1 StR 423/15). Unerörtert bleibt in diesem Zusammenhang die auf der Hand liegende Frage, weshalb der Angeklagte überhaupt ein großes Küchenmesser aus der Küche mit ins Schlafzimmer genommen hat und ob dieser Umstand nicht seiner Einlassung zu einer Spontantat entgegensteht.

2. Die Rechtsfehler führen zur Aufhebung des Schuldspruchs wegen versuchten Totschlags, was die Aufhebung des für sich gesehen rechtsfehlerfreien tateinheitlichen Schuldspruchs wegen gefährlicher Körperverletzung nach sich zieht.

3. Der Senat hebt die Feststellungen insgesamt auf, damit das neue Tatgericht umfassende widerspruchsfreie Feststellungen treffen kann.

4. Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten (§ 301 StPO) enthält das Urteil bezüglich der Strafzumessung. Bei der Prüfung des sonstigen minder schweren Falles des Totschlags (§ 213 Alt. 2 StGB) hat die Strafkammer nicht bedacht, dass insoweit auch ein vertypter Strafmilderungsgrund wie derjenige des Versuchs dessen Annahme rechtfertigen kann (vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 930). Der Senat kann angesichts der unterschiedlichen Strafrahmen nicht ausschließen, dass das Landgericht bei Einhaltung der richtigen Prüfungsreihenfolge zu einem dem Angeklagten günstigeren Ergebnis gelangt wäre.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 574

Bearbeiter: Christian Becker