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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 531

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 684/18, Beschluss v. 19.03.2019, HRRS 2019 Nr. 531


BGH 5 StR 684/18 - Beschluss vom 19. März 2019 (LG Cottbus)

Rechtsfehlerhafter Strafausspruch (Berücksichtigung standesrechtlicher Folgen - hier: drohender Widerruf der Approbation als Arzt - als Auswirkungen der Strafe auf das Leben des Täters); Täter-Opfer-Ausgleich (über rein rechnerische Kompensation hinausgehender Beitrag; Aussöhnung; Befriedung der Verhältnisse).

§ 46 StGB; § 46a StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Gravierende standesrechtliche Folgen mit zumeist erheblichen wirtschaftlichen Konsequenzen - hier: drohender Widerruf der Approbation als Arzt (§ 5 Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BÄO) - sind regelmäßig bei der Prüfung zu berücksichtigen, welche Auswirkungen der Strafe auf das Leben des Täters zu erwarten sind (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB).

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Cottbus vom 16. August 2018 in den Strafaussprüchen mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den nicht vorbestraften Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen zu einer dreijährigen Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt und bestimmt, dass hiervon wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung drei Monate als vollstreckt gelten. Die auch auf Verfahrensrügen gestützte Revision des Angeklagten führt mit der Sachrüge zur Aufhebung sämtlicher Strafaussprüche und ist im Übrigen aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Nach den landgerichtlichen Feststellungen stand der Angeklagte zur Tatzeit im Rahmen seines Medizinstudiums am Beginn des Praktischen Jahres. In der Nacht zum 13. August 2013 war er im Haus seiner aus Mutter, Adoptivvater und neun Jahre jüngerem Halbbruder bestehenden Familie zu Besuch. Am Abend war es zu einem Konflikt zwischen seinen Eltern gekommen. Da der Angeklagte solche ihn außerordentlich belastende Auseinandersetzungen seit seinem 13. Lebensjahr schon häufig hatte erleben müssen, hatte er seine Zimmertür offen gelassen, um notfalls schlichten zu können. Als sich der Streit gegen 2:00 Uhr tatsächlich fortsetzte, begab er sich ins Schlafzimmer, wo seine Eltern einander den Rücken zuwandten und in angespannter Stimmung wiederum Probleme „auszusitzen schienen“. Diese Situation empfand der Angeklagte wie stets als „bedrückend und kaum noch aushaltbar“.

Als seine Mutter in die parterre gelegene Küche hinunterging, folgte er ihr. Da sie weinte und ihm leid tat, versuchte er, sie zu trösten. Nachdem sie das Gäste-WC aufgesucht hatte, um anschließend wieder ins Bett zu gehen, blieb der Angeklagte „innerlich wie zerrissen allein in der Küche zurück“. Angesichts des unlösbar scheinenden Dilemmas zwischen den Eltern plagten ihn Versäumnis- und Schuldgefühle sowie Versagensängste. Bereits seit ca. einer Woche befand er sich in einer Phase deprimierter Stimmung, die mit Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Grübeln und Düsterheit einhergegangen war. In dieser seine Steuerungsfähigkeit erheblich vermindernden Verfassung angestauten Leidensdrucks entschloss sich der Angeklagte, „diesem ganzen seelischen Missbrauch, diesem scheußlichen Leben den Garaus zu machen“. Er sah einzig den Weg, die gesamte Familie, sich selbst eingeschlossen, auszulöschen. Es sollte niemand übrigbleiben, „damit keiner Leid erfahren müsse“.

Um seine Tötungsabsicht zu verwirklichen, begab er sich mit einem Küchenmesser in der Hand in das Gäste-WC und versuchte nach den Worten „Mama, ich liebe Dich. Aber so geht es nicht weiter. Du musst sterben. Wir alle müssen sterben“, seiner sich wehrenden Mutter die Kehle durchzuschneiden. Da ihm dies nicht gelang, hieb er mehrfach mit dem Messer auf sie ein und verletzte mit der Folge erheblichen Blutverlusts insbesondere die rechte Schienbeinschlagader. Der aufgrund der gellenden Schreie seiner Frau herbeigeeilte Vater umklammerte den Angeklagten und versuchte, ihm das Messer zu entwinden, während dieser damit um sich schlug, um den Vater ebenfalls tödlich zu verletzen. Da das Kampfgeschehen sich in die Küche verlagert hatte, war es dem Angeklagten möglich, für sein Vorhaben insgesamt fünf Messer einzusetzen und seinen Vater 14-mal an Kopf, Hals, Rumpf und Gliedmaßen zu treffen, wodurch unter anderem die Brusthöhle geöffnet und eine Halsader verletzt wurde. Schließlich fügte er seinem inzwischen erschienenen und beruhigend auf ihn einsprechenden Halbbruder eine Schnittwunde am Hals und in die rechte Brust zu; hierdurch wurde eine lebensgefährliche Luftbrust verursacht.

Diesem gelang es gleichwohl, in sein im ersten Obergeschoss gelegenes Kinderzimmer zu gelangen, die Tür abzuschließen und über das Fenster zu Nachbarn zu flüchten, die seine Wunden versorgten und die Polizei alarmierten. In der Annahme, seinen Eltern lebensbedrohliche Verletzungen beigebracht zu haben, setzte der Angeklagte seinem Halbbruder nach, versuchte aber vergeblich, die Tür zum Kinderzimmer zu öffnen. Wieder im Erdgeschoss fügte sich der Angeklagte mit einer Nagelschere zunächst Schnittverletzungen am linken Handgelenk zu. Sodann eröffnete er mit tiefen sternförmigen Stichen beidseits die innere Halsschlagader, was infolge des sehr hohen Blutverlustes zu akuter Lebensgefahr führte. Seiner Mutter gelang es unterdessen, sich unbemerkt ebenfalls zu den Nachbarn zu flüchten. Polizeibeamte fanden den schwer verletzten Vater auf dem Küchenfußboden liegend vor, den sich gegen Hilfsmaßnahmen wehrenden Angeklagten in dem von innen verschlossenen GästeWC. Auch einer medizinischen Erstversorgung widersetzte dieser sich und versuchte, sich „bis zuletzt das Rückgrat zu brechen, durch Torsion um sich selbst“.

Durch noch in der Nacht durchgeführte Notoperationen konnte das Leben aller vier Verletzten gerettet werden. Hierbei waren dem in ein „künstliches Koma“ versetzten Angeklagten acht Blutkonserven zugeführt worden. Schon in einem zwei Tage später geführten Telefonat teilte ihm seine Mutter mit, „dass sie ihm vergeben habe“. Dennoch übermannten den Angeklagten tags darauf Gefühle der Hilflosigkeit und Angst. Nachdem er keinen Gegenstand gefunden hatte, mit dem er sich hätte erhängen können, verließ er - seinem Suizidimpuls folgend - die Klinik, um sich am Hauptbahnhof Cottbus vor einen fahrenden Zug zu werfen. Da er jedoch nicht vor, sondern gegen einen Regionalexpress sprang, wurde er zurückgeschleudert; infolge der Kollision verlor er Mittel-, Ring- und Kleinfinger der rechten Hand. Im Anschluss erklomm er einen Gittermast und ließ sich aus sechs Metern Höhe hinunterfallen, trug sturzbedingt aber lediglich weitere Kopfverletzungen sowie eine glatte Fraktur der linken Schulter davon.

Zudem befand sich der Angeklagte etwa fünfeinhalb Monate in stationärer psychiatrischer Behandlung. Nach seiner Entlassung kehrte er an seinen Studienort zurück, wo er bis Juni 2018 psychologisch begleitet und zudem psychiatrisch behandelt wurde. Nach erfolgreichem Abschluss des medizinischen Studiums im Mai 2015 erhielt der Angeklagte seine Approbation. Danach war er zwei Jahre in mehreren Krankenhäusern als Assistenzarzt und zuletzt als Arzt in Dresden tätig. Zum Zeitpunkt des angegriffenen Urteils hatte er in Aussicht, ab September 2018 das dritte Jahr als Assistenzarzt in der Ausbildung zum Facharzt für Innere Medizin zu absolvieren.

Zu seinem Halbbruder pflegt der Angeklagte wieder einen freundlichen und unkomplizierten Kontakt. Der Umgang mit dem Stiefvater ist distanzierter, jedoch per Telefon und bei seltenen Treffen konstant. Die drei Angegriffenen haben ihm verziehen und keine fortbestehenden gesundheitlichen Folgen davongetragen. Die ihnen entstandenen finanziellen Schäden (Notarzt- und Hubschraubereinsatz, Versicherungsgelder etc.) von insgesamt ca. 46.000 € hat der Angeklagte mit aus dem Erbe seines leiblichen Vaters stammenden Mitteln vollständig ersetzt. Eine Wiedergutmachung immaterieller Nachteile hat keiner von ihnen geltend gemacht.

2. Der Schuldspruch erweist sich als rechtsfehlerfrei. Insbesondere liegt den ihn tragenden Feststellungen eine nicht zu beanstandende Beweiswürdigung zugrunde.

Hingegen können die Strafaussprüche keinen Bestand haben. Den Urteilsgründen lässt sich nicht entnehmen, dass das Landgericht bei der Bemessung der Strafen dem Angeklagten drohende berufsrechtliche Folgen in den Blick genommen hat. Insofern hätte bedacht werden müssen, dass der Widerruf der Approbation als Arzt in Betracht kommt (§ 5 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BÄO). Denn eine derart gravierende standesrechtliche Folge mit zumeist erheblichen wirtschaftlichen Konsequenzen ist regelmäßig bei der Prüfung zu berücksichtigen, welche Auswirkungen der Strafe auf das Leben des Täters zu erwarten sind (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB; vgl. BGH, Beschluss vom 16. Oktober 2003 - 5 StR 377/03, StV 2004, 71).

Der Senat vermag angesichts der besonderen Tatumstände nicht auszuschließen, dass die festgesetzten Strafen auf diesem Rechtsfehler beruhen (§ 337 Abs. 1 StPO). Er hebt sie daher einschließlich der ihnen zugrundeliegenden Feststellungen auf (§ 353 Abs. 2 StPO). Hiervon nicht erfasst ist die landgerichtliche Kompensationsentscheidung (vgl. BGH, Urteil vom 27. August 2009 - 3 StR 250/09, BGHSt 54, 135, 138).

3. Das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht wird zudem die im angegriffenen Urteil verneinten Voraussetzungen des § 46a Nr. 2 StGB eingehend zu prüfen haben. Nach den bisherigen Feststellungen hat der Angeklagte die herbeigeführten Schäden durch die Zahlung von etwa 46.000 € vollständig wiedergutgemacht. Auch hat er nicht nur seinen Opfern gegenüber die Verantwortung für die Taten übernommen, sondern sich mit ihnen umfassend ausgesöhnt und damit einen über die rein rechnerische Kompensation der Schäden hinausgehenden Beitrag erbracht (zu diesem Erfordernis vgl. BGH, Urteil vom 18. November 1999 - 4 StR 435/99, NStZ 2000, 205, 206; Beschluss vom 20. Januar 2010 - 1 StR 634/09, NStZRR 2010, 147). Gerade eine derartige Befriedung des Verhältnisses zwischen Täter und Opfer wollte der Gesetzgeber mit der Regelung des § 46a StGB befördern.

Bei vergleichbaren Feststellungen wird das neue Tatgericht daher zu entscheiden haben, ob die Schadenswiedergutmachung vom Angeklagten erhebliche persönliche Leistungen oder einen persönlichen Verzicht erfordert hat. Hiergegen spräche nicht, dass die vom Angeklagten eingesetzten Mittel aus dem Erbe seines leiblichen Vaters stammten, denn zum Zeitpunkt der Zahlungen waren sie Teil seines eigenen Vermögens, das er freiwillig einsetzte (vgl. BGH, Urteil vom 25. Mai 2001 - 2 StR 78/01, NStZ 2002, 364, 365).

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 531

Externe Fundstellen: StV 2019, 441; StV 2019, 733

Bearbeiter: Christian Becker