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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 185

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 179/16, Urteil v. 06.12.2016, HRRS 2017 Nr. 185


BGH 5 StR 179/16 - Urteil vom 6. Dezember 2016 (LG Saarbrücken)

Sachlich-rechtlich fehlerhafte Beweiswürdigung (Lücken bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage der minderjährigen Belastungszeugin; übertrieben Anforderungen an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit; Gedächtnisunsicherheiten als mögliche Ursache von Aussageninkonstanz).

§ 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Das Revisionsgericht muss es grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an der Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts; die revisionsrechtliche Prüfung beschränkt sich nach ständiger Rechtsprechung darauf, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind, weil die Beweiswürdigung lückenhaft, in sich widersprüchlich oder unklar ist, gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit übertriebene Anforderungen gestellt worden sind.

2. Nicht jede Inkonstanz einer belastenden Zeugenaussage begründet einen Hinweis auf mangelnde Glaubhaftigkeit insgesamt. Vielmehr können Gedächtnisunsicherheiten eine hinreichende Erklärung für festgestellte Abweichungen darstellen Dies gilt umso mehr bei einem langen Zeitraum zwischen der Tat und den einzelnen Befragungen und einer zur Tatzeit sehr jungen (hier: sieben Jahre alten) Zeugin. Schließt das Tatgericht unter Berücksichtigung dieses Maßstabs zu voreilig von einer Aussageinkonstanz auf eine fehlende Glaubhaftigkeit, kann dies einen revisiblen sachlich-rechtlichen Fehler bei der Beweiswürdigung begründen.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 5. November 2015 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist.

Insoweit wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung seiner Ehefrau unter Strafaussetzung zur Bewährung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Hingegen hat es ihn vom Vorwurf, 213 Sexualdelikte zum Nachteil seiner Stieftochter begangen zu haben, aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die gegen die Freispruchsfälle gerichtete und mit der Sachrüge geführte Revision der Staatsanwaltschaft, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat Erfolg.

I.

1. Die zugelassene Anklage hat dem Angeklagten zur Last gelegt, als Stiefvater an der am 13. Mai 1996 geborenen Nebenklägerin C. J. bereits kurze Zeit nach deren Einzug in die Wohnung des Angeklagten im Februar 2004 folgende sexuelle Handlungen begangen zu haben:

a) Am Faschingssonntag, dem 22. Februar 2004, habe der Angeklagte die Nebenklägerin im elterlichen Bett im Schlafzimmer aufgefordert, seinen Penis in den Mund zu nehmen, was diese auch tat. Die Mutter der Nebenklägerin habe kurz zuvor das Schlafzimmer verlassen und nach ihrer Rückkehr die Fortsetzung der Tat verhindert (Fall 1).

b) In einem Zeitraum von zwei Jahren, entweder vom 13. Mai 2005 bis zum 12. Mai 2007 oder von 2004 bis 2006, sei der Angeklagte mehrfach in der Woche - insgesamt in mindestens 209 Fällen - in das Zimmer der Nebenklägerin gegangen, habe ihr T-Shirt angehoben und sie an den Brüsten gestreichelt (Fälle 2 bis 210).

c) Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt im Jahr 2008 sei der Angeklagte nachts nackt in das Zimmer der im Bett liegenden Nebenklägerin gekommen. Er habe ihren Kopf gewaltsam in seine Richtung gedreht und versucht, ihr seinen Penis in den Mund zu stecken, was die Nebenklägerin durch festes Aufeinanderpressen der Lippen verhindert habe. Danach habe der Angeklagte ihr unter das Nachthemd und ihre Unterhose gegriffen und einen Finger vaginal eingeführt. Schließlich habe er die Nebenklägerin auf die linke Seite gedreht, ihr den Slip nach unten gezogen und versucht, seinen Penis anal einzuführen. Die Nebenklägerin habe dies durch Zusammendrücken ihrer Gesäßhälften jedoch verhindert (Fall 211).

d) Im Zeitraum 2007 bis 2008 habe der Angeklagte „öfters“ - mindestens zweimal - nachts die Nebenklägerin in ihrem Zimmer aufgesucht, ihr das Nachthemd hochgeschoben, in ihre Unterhose gegriffen und einen Finger vaginal eingeführt (Fälle 212 bis 213).

2. Der Angeklagte hat die Taten - auch die abgeurteilte Vergewaltigung seiner Ehefrau - bestritten. Die geschilderte „Situation an Fasching 2004“ habe es nicht gegeben. Er sei auch nachts nicht im Zimmer der Nebenklägerin gewesen.

a) Das Landgericht hat zum Vorwurf betreffend den 22. Februar 2004 festgestellt, dass der Angeklagte mit seiner Ehefrau und der Nebenklägerin auf einem Faschingsumzug und anschließend in einer Gaststätte war. In die Wohnung zurückgekehrt, ging die Nebenklägerin, da sie zu dieser Zeit bei ihren Eltern schlief, mit dem Angeklagten ins Ehebett, während ihre Mutter noch eine Weile im Wohnzimmer verblieb. Als diese ins Schlafzimmer kam, stellte sie fest, dass die Nebenklägerin unter der Decke neben dem entblößten Penis des Angeklagten lag und dass beide schliefen. Sie „scheuchte“ daraufhin ihre Tochter aus dem Bett. Als sie den Angeklagten an dem Abend oder am nächsten Tag zur Rede stellte, erwiderte er, dass er „von nichts wisse“.

b) Zu den weiteren angeklagten Taten zum Nachteil der Nebenklägerin (Fälle 2 bis 213) hat das Landgericht keine die Tathandlungen betreffenden Feststellungen getroffen.

3. Das - sachverständig beratene - Landgericht hat sich von den dem Angeklagten angelasteten sexuellen Übergriffen zum Nachteil seiner Stieftochter nicht zu überzeugen vermocht, weil alle von der Nebenklägerin „geschilderten Einzeltaten vor dem Hintergrund ihrer kognitiven Kompetenzen im zentralen Kern nicht hinreichend detailliert und konstant“ seien, „um den Erlebnisbezug positiv belegen zu können“ (UA S. 42 und S. 51). Ihre Angaben seien „nicht hinreichend qualitätsreich, um die Annahme einer Falschaussage, aus welcher Quelle auch immer gespeist, mit hinreichender Sicherheit zurückweisen zu können. Darüber hinaus ließen sich im Rahmen der Analyse der Entstehungsgeschichte bedeutsame Fehlerquellen für das Wirken aussageverfälschender Prozesse identifizieren, die geeignet seien, die Zuverlässigkeit der Aussage der Nebenklägerin bedeutsam einzuschränken“ (UA S. 37).

II.

1. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg, denn die Beweiswürdigung des Landgerichts (§ 261 StPO) hält sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.

a) Das Revisionsgericht muss es zwar grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an der Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts; die revisionsrechtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob ihm Rechtsfehler unterlaufen sind, weil die Beweiswürdigung lückenhaft, in sich widersprüchlich oder unklar ist, gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit übertriebene Anforderungen gestellt worden sind (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 6. November 1998 - 2 StR 636/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 16).

b) Das angefochtene Urteil weist bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin eine maßgebliche Lücke auf.

Das Landgericht hat hinsichtlich des Vorwurfs betreffend den 22. Februar 2004 (Fall 1) rechtsfehlerhaft nicht in seine Überlegungen eingestellt, dass die Mutter der Nebenklägerin deren Angaben im Wesentlichen bestätigt hat. Es hat vielmehr lediglich darauf verwiesen, dass die Zeugin eine sexuelle Handlung des Angeklagten an der Nebenklägerin nicht gesehen hat. Dabei lässt die Strafkammer außer Betracht, dass die Zeugin bekundet hat, dass sie - als sie ins Schlafzimmer gekommen sei - ihre Tochter nicht gesehen habe. Der Angeklagte habe im Bett gelegen und geschlafen, sie habe die Decke hochgehoben und gesehen, dass die Unterhose des Angeklagten heruntergezogen gewesen sei. Ihre Tochter habe mit dem Kopf neben seinem Penis gelegen (UA S. 31). Der Umstand, dass die Mutter der Nebenklägerin ihre Tochter „lediglich neben dem entblößten Penis hat liegen sehen, und nicht gesehen hat, dass sie den Penis des Angeklagten auch im Mund hatte“ (UA S. 43) ist nicht geeignet, Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin zu begründen. Das Landgericht lässt insoweit unberücksichtigt, dass die Nebenklägerin, nachdem sie von ihrer Mutter zum Verlassen des Schlafzimmers aufgefordert worden war, durchaus der Meinung gewesen sein könnte, ihre Mutter habe diesen Teil des Kerngeschehens noch mitbekommen. Im Übrigen stellt allein die Beobachtung der Mutter bei lebensnaher Betrachtung ein schwerwiegendes Indiz dafür dar, dass es zuvor zu einem sexuellen Übergriff auf die Nebenklägerin gekommen ist.

c) Soweit das Landgericht die Angaben der Nebenklägerin zum Kerngeschehen wegen teilweise unterschiedlicher Schilderungen des Vorwurfs im Ermittlungsverfahren, bei der Exploration durch den Sachverständigen und in der Hauptverhandlung als inkonstant und deshalb nicht hinreichend zuverlässig angesehen hat (UA S. 42), lässt dies besorgen, dass das Landgericht verkannt hat, dass nicht jede Inkonstanz einen Hinweis auf mangelnde Glaubhaftigkeit insgesamt begründet. Vielmehr können Gedächtnisunsicherheiten eine hinreichende Erklärung für festgestellte Abweichungen darstellen (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164, 172). Dies gilt umso mehr angesichts des langen Zeitraums zwischen der Tat und den einzelnen Befragungen der zur Tatzeit 7-jährigen Nebenklägerin.

Entgegen der Wertung des Landgerichts ist es auch nicht als „grobe“ Inkonstanz anzusehen, dass die Nebenklägerin einerseits bei ihrer polizeilichen Vernehmung die Frage, ob der Angeklagte ihren Kopf unter die Decke gedrückt habe, ausdrücklich verneint, andererseits gegenüber dem Sachverständigen und in der Hauptverhandlung bekundet hat, dass der Angeklagte ihren Kopf zu seinem Penis gedrückt habe. Gleiches gilt für ihre Aussage, dass sie den Penis des Angeklagten in den Mund genommen und daran gelutscht habe (polizeiliche Vernehmung), sie den Penis lediglich in den Mund genommen habe (Exploration) bzw. daran habe lutschen sollen (Hauptverhandlung).

2. Der Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Urteils, soweit der Angeklagte freigesprochen wurde. Die Frage der Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin ist insgesamt von der fehlerhaften Bewertung betroffen. Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass die Strafkammer, sofern sie sich im Fall 1 von einer Straftat des Angeklagten überzeugt hätte, auch in den anderen Fällen zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre. Die Sache bedarf daher, naheliegend unter Heranziehung eines neuen Sachverständigen, neuer Verhandlung und Entscheidung.

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 185

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2017, 52

Bearbeiter: Christian Becker