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HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 610

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 567/11, Beschluss v. 24.05.2012, HRRS 2012 Nr. 610


BGH 5 StR 567/11 - Beschluss vom 24. Mai 2012 (LG Berlin)

BGHSt 57, 239; Durchbrechung der Verwaltungsrechtsakzessorietät im Aufenthaltsstrafrecht (formell bestandskräftige Visa von Drittstaatsangehörigen; Vorabentscheidungsverfahren).

§ 95 Abs. 6 AufenthG; § 96 AufenthG; § 97 AufenthG

Leitsätze

1. Durch arglistige Täuschung der zuständigen Behörden des Ausstellermitgliedstaats über den wahren Reisezweck erlangte, jedoch formell bestandskräftige Visa von Drittstaatsangehörigen schließen deren Strafbarkeit wegen illegaler Einreise und illegalen Aufenthalts (§ 95 Abs. 1 Nr. 2, 3 AufenthG) sowie eine Strafbarkeit gemäß den hieran anknüpfenden Schleusungstatbeständen der §§ 96, 97 AufenthG nach § 95 Abs. 6 AufenthG verfassungsrechtlich unbedenklich nicht aus; Unionsrecht steht dem nicht entgegen (im Anschluss an die Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union durch Urteil vom 10. April 2012 in der Rechtssache C-83/12 PPU). (BGHSt)

2. Bei § 95 Abs. 6 AufenthG handelt es sich nicht um einen eigenständigen Straftatbestand, sondern um eine Gleichstellungsklausel in Bezug auf das in § 95 Abs. 1 Nr. 2, 3 AufenthG normierte negative Tatbestandsmerkmal des Fehlens eines erforderlichen Aufenthaltstitels. Die Vorschrift bewirkt bei Vorliegen ihrer tatbestandlichen Voraussetzungen trotz Vorhandensein eines verwaltungsrechtlich formell bestandskräftigen Aufenthaltstitels eine Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG, die ihrerseits den Anknüpfungspunkt für die "Schleusungstatbestände" nach §§ 96, 97 AufenthG bilden können. (Bearbeiter)

3. Aus der Gleichstellung des Handelns auf Grund eines erschlichenen Aufenthaltstitels mit dem Handeln ohne Aufenthaltstitel folgt, dass im Rahmen der Strafvorschriften des § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG die mit einem erschlichenen Aufenthaltstitel erfolgte Einreise als unerlaubt und die Ausreisepflicht somit als vollziehbar anzusehen ist (vgl. § 58 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG). Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass § 95 Abs. 6 AufenthG für die entsprechenden Fälle des § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG keine ausdrückliche Regelung über eine solche Ausreisepflicht enthält. (Bearbeiter)

4. § 95 Abs. 6 AufenthG lockert die Akzessorietät der betroffenen Strafrechtsbestimmungen zum - unionsrechtlich ausgeformten - Verwaltungsrecht. Dies ist auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, da ein verfassungsrechtlich anzuerkennender Vertrauensschutz mangels schutzwürdigen Vertrauens der geschleusten Personen und der diese unterstützenden Mitglieder der Schleuserorganisationen offensichtlich nicht gegeben ist. Auch der Grundsatz der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung (vgl. dazu etwa BVerfGE 116, 164 mwN) steht der (rückwirkenden) "Annulierung" einer durch die Beteiligten rechtsmissbräuchlich erlangten rechtswidrigen Erlaubnis nicht entgegen. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 23. August 2011 wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete und auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten bleibt - nach Erledigung des Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof der Europäischen Union - im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO ohne Erfolg. Der Erörterung bedarf nur Folgendes:

1. Das Landgericht hat im Wesentlichen festgestellt:

a) Der Angeklagte gehörte vietnamesischen Banden an, deren Ziel es war, vietnamesische Staatsbürger illegal nach Deutschland zu verbringen. Eine Bande ging in der Weise vor, dass der ungarischen Botschaft in Vietnam vorgespiegelt wurde, bei gegen ein Entgelt von 11.000 bis 15.000 $ zu schleusenden vietnamesischen Staatsbürgern handele es sich um Mitglieder touristischer Reisegruppen. Die vorgeblichen Reisegruppen bestanden jeweils aus 20 bis 30 Personen. In der irrigen Annahme, dass die Reisen tatsächlich stattfinden würden, erteilte die ungarische Botschaft den Betroffenen Touristenvisa, die einen kurzen Aufenthalt in allen Schengenstaaten ermöglichten. Die Reisen wurden in den ersten Tagen zum Schein gemäß Reiseprogramm durchgeführt, bevor die Betroffenen dem vorab gefassten Tatplan entsprechend von Paris aus in die jeweiligen Zielländer - zumeist Deutschland - weiter transportiert wurden. Die in Berlin eintreffenden Geschleusten wurden zunächst in so genannten "Safehouses" untergebracht, bis sie dann von in Deutschland ansässigen Verwandten abgeholt und anderweitig einquartiert wurden.

Die weitere Bande machte sich den Umstand zunutze, dass vietnamesische Arbeitskräfte in Schweden als Beerenpflücker auf wenige Monate befristete Arbeitsvisa erlangen konnten, die einen Aufenthalt im Schengenraum erlaubten. Bei der Beantragung der Visa wurde den zuständigen Behörden vorgespiegelt, dass die zu schleusenden Personen als Beerenpflücker arbeiten wollten, während sie in Wahrheit planten, sich unmittelbar nach ihrer Ankunft in Schweden weiter nach Deutschland oder in andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union schleusen zu lassen.

b) Dem - wenngleich nicht wegen ausländerrechtlicher Straftaten, jedoch nicht unerheblich vorgeahndeten - Angeklagten liegt im Einzelnen zur Last:

aa) Am 21. Juni 2010 nahm er mit zwei anderen Bandenmitgliedern sechs vietnamesische Staatsbürger in Empfang, die mit erschlichenen ungarischen Touristenvisa von Paris kommend in Berlin eingetroffen waren. Mit einem Mittäter sorgte er dafür, dass diese und drei weitere geschleuste Personen durch Verwandte oder Bekannte abgeholt und untergebracht wurden. Dafür erhielt er 500 €. Dem Plan entsprechend tauchten die vietnamesischen Staatsbürger nach ihrer Ankunft in Deutschland unter (Tat 1).

bb) Am 4. Juli 2010 holte er mit zwei Bandenmitgliedern zehn in gleicher Weise nach Berlin verbrachte vietnamesische Staatsbürger ab und sorgte für deren Unterbringung. Er erhielt Geldleistungen in unbekannter Höhe (Tat 2).

cc) Am 17. Juli 2010 fuhren der Angeklagte und ein Mittäter nach Schweden, um den Transport einer Gruppe von vietnamesischen Staatsangehörigen nach Berlin zu organisieren. Diese hatten unter Hilfestellung der Bande schwedische Arbeitsvisa als Beerenpflücker erschlichen. Jeder vietnamesische Staatsangehörige hatte für die Schleusung 2.000 € an den Angeklagten zu zahlen. Der Mittäter fuhr mit vier geschleusten Personen am 19. Juli 2010 nach Berlin. Deren Unterbringung in Berlin wurde von einem weiteren Mittäter durchgeführt (Tat 3).

dd) Anschließend organisierten der deswegen in Schweden verbliebene Angeklagte und sein dorthin zurückgekehrter Mittäter nach gleichem Muster die Schleusung weiterer vietnamesischer Staatsbürger nach Berlin. Auch diese Personen mussten jeweils 2.000 € an den Angeklagten bezahlen. In der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 2010 wurden acht vietnamesische Staatsangehörige von Schweden nach Berlin verbracht, wo deren Aufnahme und Unterbringung organisiert wurde (Tat 4).

2. Der Schuldspruch wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern (§ 97 Abs. 2 i.V.m. § 96 Abs. 1 Nr. 1 lit. a und b i.V.m. § 95 Abs. 1 Nr. 3 und § 96 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) wird von den Feststellungen getragen. Entgegen vormaliger Rechtslage (hierzu BGH, Urteil vom 27. April 2005 - 2 StR 457/04, BGHSt 50, 105) schadet es dabei nicht, dass die geschleusten Personen zur Tatzeit jeweils über Visa verfügten, die formal die Einreise in den Schengenraum und den dortigen Aufenthalt erlaubten. Denn nach dem durch Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970, 1988) eingeführten § 95 Abs. 6 AufenthG steht für die Tatbestände nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG einem Handeln ohne erforderlichen Aufenthaltstitel ein Handeln aufgrund eines durch falsche Angaben erschlichenen Aufenthaltstitels gleich.

a) Die Voraussetzungen des § 95 Abs. 6 AufenthG sind erfüllt. Die zu schleusenden Personen gaben - unterstützt durch im angefochtenen Urteil teils benannte Bandenmitglieder - gegenüber den Amtsträgern der ungarischen Botschaft in Vietnam bewusst wahrheitswidrig vor, zu touristischen Zwecken bzw. zum Zweck des Beerenpfückens in Schweden für einen Kurzaufenthalt in den Schengenraum einreisen zu wollen (vgl. Art. 21 der nach deren Art. 58 Abs. 2 ab dem 5. April 2010 geltenden Verordnung [EG] Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft, ABl. L 243 vom 15. September 2009, S. 1 - Visakodex - i.V.m. Art. 5 Abs. 1 lit. a, c, d und e der Verordnung [EG] Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen, ABl. L 105 vom 13. April 2006, S. 1 - Schengener Grenzkodex -). Demgegenüber hatten sie von Anfang an die Absicht, dauerhaft in Deutschland zu bleiben, was der Erteilung der Visa zwingend entgegenstand (vgl. Art. 21 Abs. 1 Visakodex, Art. 5 Abs. 1 lit. e Schengener Grenzkodex; Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl., § 6 Rn. 22). Nur aufgrund der Fehlvorstellung der Amtsträger über den wahren Zweck der Reisen wurden die Visa nach den Feststellungen erteilt. Soweit das Landgericht die Festnahme eines Angehörigen der ungarischen Botschaft erwähnt (UA S. 9), steht dies den Feststellungen zu Irrtümern der maßgebenden Funktionsträger nicht entgegen. Im Übrigen wären andernfalls Fälle der Kollusion nach § 95 Abs. 6 AufenthG gegeben, die zu demselben Ergebnis führen würden.

Für die Annahme deutscher Strafgewalt irrelevant ist, dass sich die Vorgänge zum Erschleichen der Visa im Ausland abgespielt haben. Das gilt schon deswegen, weil es sich bei § 95 Abs. 6 AufenthG nicht um einen eigenständigen Straftatbestand, sondern um eine Gleichstellungsklausel in Bezug auf das in § 95 Abs. 1 Nr. 2, 3 AufenthG normierte (negative) Tatbestandsmerkmal des Fehlens eines erforderlichen Aufenthaltstitels handelt (vgl. Wohlers JZ 2001, 850, 853 f.; aM wohl Stoppa in Huber, Aufenthaltsgesetz, 2010, § 95 Rn. 368 ff.; Schott, Einschleusen von Ausländern, 2. Aufl., S. 280 ff.).

b) § 95 Abs. 6 AufenthG stellt für die Fälle des unerlaubten Aufenthalts und der unerlaubten Einreise (§ 95 Abs. 1 Nr. 2, 3 AufenthG) ein Handeln aufgrund eines solchermaßen erlangten Aufenthaltstitels einem Handeln ohne den erforderlichen Aufenthaltstitel gleich. Die Vorschrift bewirkt in den relevanten Fällen trotz Vorhandensein eines verwaltungsrechtlich formell bestandskräftigen Aufenthaltstitels eine Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG, die ihrerseits den Anknüpfungspunkt für die "Schleusungstatbestände" nach §§ 96, 97 AufenthG bilden können (aM Schott, aaO, S. 283 f.).

aa) Dass der Gesetzgeber diese Rechtsfolge herbeiführen wollte, unterliegt keinem Zweifel. Unter anderem mit der Einführung des § 95 Abs. 6 AufenthG reagierte er auf das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 27. April 2005 (BGHSt aaO). Darin wurde entschieden, dass ausländerrechtlichen Erlaubnissen für die verwaltungsakzessorischen Straftatbestände des Aufenthaltsgesetzes Tatbestandswirkung zukommt, weswegen rechtsmissbräuchlich erlangte, jedoch formell wirksame Einreise- oder Aufenthaltsgenehmigungen (Visa) die Strafbarkeit wegen illegaler Einreise und illegalen Aufenthalts (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3, auch i.V.m. § 96 Abs. 1 AufenthG) ausschließen (BGHSt aaO, S. 110 ff.). Der Behebung von Strafbarkeitslücken aufgrund dieser Entscheidung dienten verschiedene im genannten Gesetz enthaltene Maßnahmen (hierzu Regierungsentwurf, BT-Drucks. 16/5065 S. 164, 182 f., 199). Mit dem an § 330d Nr. 5 StGB angelehnten § 95 Abs. 6 AufenthG wollte der Gesetzgeber sämtliche Fälle erfassen, "in denen die strafbefreiende Genehmigung auf unlautere Weise erlangt worden ist" (BT-Drucks. 16/5065 S. 199; vgl. hierzu auch den diesbezüglichen Hinweis in BGHSt aaO, S. 115).

bb) In § 95 Abs. 6 AufenthG hat der gesetzgeberische Wille auch unter dem Blickwinkel des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebots (Art. 103 Abs. 2 GG) hinreichenden Niederschlag gefunden. Für die illegale Einreise erscheint dies eindeutig und wird im Schrifttum soweit ersichtlich auch nicht bestritten (vgl. MünchKomm-StGB/Gericke, 1. Aufl., § 95 AufenthG Rn. 107). Gleiches gilt indessen entgegen vereinzelten Stimmen in der Literatur (Gericke, aaO, § 95 AufenthG Rn. 28; Schott, aaO, S. 282 f.) auch in Bezug auf § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (so im Ergebnis der Großteil des Schrifttums, vgl. Senge in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Stand April 2010, § 95 AufenthG Rn. 11a; Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl., § 95 AufenthG Rn. 22; Mosbacher in GK/AufenthG, Stand Juli 2008, § 95 Rn. 57; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Oktober 2010, § 95 AufenthG Rn. 110; Brocke, NStZ 2009, 546, 548).

Allerdings ersetzt § 95 Abs. 6 AufenthG ausdrücklich nur das Fehlen des erforderlichen Aufenthaltstitels und erwähnt die weitere in § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG enthaltene Voraussetzung einer vollziehbaren Ausreisepflicht nicht. Der Umstand, dass ein formell bestandskräftiger Aufenthaltstitel grundsätzlich eine vollziehbare Ausreisepflicht hindert, führt indessen nicht dazu, dass die ausdrücklich auch auf § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zielende Regelung des § 95 Abs. 6 AufenthG "fehlgeschlagen" ist (so Gericke, aaO; Schott, aaO). Aus der Gleichstellung des Handelns auf Grund eines erschlichenen Aufenthaltstitels mit dem Handeln ohne Aufenthaltstitel folgt vielmehr auch, dass im Rahmen der Strafvorschriften des § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG die mit einem erschlichenen Aufenthaltstitel erfolgte Einreise als unerlaubt und die Ausreisepflicht somit als vollziehbar anzusehen ist (vgl. § 58 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG). Ausdrücklicher Erwähnung im Gesetzestext bedarf dies nicht zwingend.

c) Über eine Duldung verfügten die eingeschleusten Personen nicht.

Im Hinblick darauf, dass sie sich im Bundesgebiet von vornherein vor den Behörden verborgen haben, stellt sich die Frage eines die Erfüllung des Tatbestands ausschließenden hypothetischen Duldungsanspruchs (hierzu BVerfG - Kammer - NStZ 2003, 488, 489) mithin nicht (BGH, Urteil vom 6. Oktober 2004 - 1 StR 76/04, BGHR AuslG § 92 Unerlaubter Aufenthalt 4 mwN; Beschluss vom 2. September 2009 - 5 StR 266/09, BGHSt 54, 140, 142).

d) § 95 Abs. 6 AufenthG lockert im vorbezeichneten Umfang die Akzessorietät der betroffenen Strafrechtsbestimmungen zum - unionsrechtlich ausgeformten - Verwaltungsrecht. Im Hinblick darauf, dass zur Beurteilung unionsrechtlicher Zulässigkeit eines solchen Konzepts einschlägige oder übertragbare Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht ersichtlich gewesen ist (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 24. Oktober 2011 - 2 BvR 1969/09 Rn. 25, und vom 22. September 2011 - 2 BvR 947/11 Rn. 14, jeweils mwN), hat der Senat dem Gerichtshof der Europäischen Union mit Beschluss vom 8. Februar 2012 (vgl. auch BGH, Beschluss vom 10. Januar 2012 - 5 StR 351/11, wistra 2012, 152) gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. a, Abs. 3 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

"Sind die die Erteilung und Annullierung eines einheitlichen Visums regelnden Art. 21, 34 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (ABl. L 243 vom 15. September 2009, S. 1, Visakodex - VK) dahin auszulegen, dass sie einer aus der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften resultierenden Strafbarkeit wegen Einschleusens von Ausländern in Fällen entgegenstehen, in denen die geschleusten Personen zwar über ein Visum verfügen, dieses aber durch arglistige Täuschung der zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaates über den wahren Reisezweck erlangt haben?"

Mit Urteil vom 10. April 2012 (Rechtssache C-83/12 PPU) hat der Gerichtshof auf das Vorabentscheidungsersuchen hin für Recht erkannt: "Die Art. 21 und 34 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex) sind dahin auszulegen, dass sie einer aus der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften resultierenden Strafbarkeit wegen Einschleusens von Ausländern in Fällen, in denen die geschleusten Personen, die Drittstaatsangehörige sind, über ein Visum verfügen, das sie durch arglistige Täuschung der zuständigen Behörden des Ausstellermitgliedstaats über den wahren Reisezweck erlangt haben und das nicht zuvor annulliert worden ist, nicht entgegenstehen."

Bei Anwendung dieser Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall ist das Landgericht in Einklang mit dem Unionsrecht davon ausgegangen, dass die formell vorhandenen Visa der geschleusten Personen wegen Erfüllung des § 95 Abs. 6 AufenthG einer Strafbarkeit des Angeklagten nicht entgegenstehen.

e) Auch durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken sind nicht gegeben. Die Lockerung der Verwaltungsakzessorietät hat § 95 Abs. 6 AufenthG mit § 330d Nr. 5 StGB und ähnlichen Bestimmungen (§ 34 Abs. 8 AWG, § 16 Abs. 4 CWÜAG) gemein. Einfachrechtlich liegen diese Maßnahmen im Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers. Der verfassungsrechtlich gewährleistete Vertrauensschutz ist mangels schutzwürdigen Vertrauens der geschleusten Personen und der diese unterstützenden Mitglieder der Schleuserorganisationen offensichtlich nicht verletzt (vgl. Gericke, aaO, § 95 AufenthG Rn. 107, Heine in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 330d Rn. 27 mit zahlreichen Nachweisen). Auch der Grundsatz der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung (vgl. dazu etwa BVerfGE 116, 164 mwN) hindert nicht, einer durch die Beteiligten rechtsmissbräuchlich erlangten rechtswidrigen Erlaubnis, die aus diesem Grunde von den zuständigen Verwaltungsbehörden zu "annullieren", also mit Wirkung ex tunc aufzuheben (vgl. Art. 34 Abs. 1 Visakodex) und damit aus von den Betroffenen selbst zu verantwortenden Gründen von Anfang an schwer fehlerbehaftet ist, eine die Strafbarkeit ausschließende Wirkung zu versagen (für § 330d Nr. 5 StGB hM, vgl. etwa Heine, aaO, § 330d Rn. 27; LK-StGB/Steindorf, 11. Aufl., § 330d Rn. 6; SSW-StGB/Saliger, 2009, § 330d Rn. 15; Wohlers, aaO, S. 854 f.; je mwN auch zur Gegenansicht; siehe auch Hecker in Sieber u.a., Europäisches Strafrecht, 2011, § 28 Rn. 17). Vielmehr verhilft die Regelung dem gleichfalls verfassungsrechtlich abgesicherten Gebot wirksamer Verfolgung und Ahndung von Straftaten (vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss vom 27. März 2012 - 2 BvR 2258/09 Rn. 50 mwN) zum Erfolg.

Typischerweise ist eine formell erklärte Annullierung der Visa in Konstellationen wie der hier zu beurteilenden weder vor noch nach der Einreise der geschleusten Personen faktisch möglich. Dementsprechend würden die einschlägigen Tatbestände ohne Bestand des § 95 Abs. 6 AufenthG weitgehend leerlaufen. Wenn der Gesetzgeber den vordergründigen Widerstreit der genannten Belange dahin auflöst, dass er dem Gebot effektiver Verfolgung und Ahndung von Straftaten den Vorrang gibt, so ist dies von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.

3. Eines Anfrageverfahrens zum Zweck der Vorlage an den Großen Senat für Strafsachen (§ 132 Abs. 2, 3 GVG) im Hinblick auf BGHSt aaO bedurfte es nach der seither erfolgten Gesetzesänderung nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Mai 2011 - 5 StR 394, 440, 474/10, BGHSt 56, 248, 251 mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 610

Externe Fundstellen: BGHSt 57, 239; NJW 2012, 2210; NStZ 2012, 644; StV 2013, 311

Bearbeiter: Christian Becker