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HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 808

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 259/11, Beschluss v. 02.08.2011, HRRS 2011 Nr. 808


BGH 5 StR 259/11 - Beschluss vom 2. August 2011 (LG Berlin)

Totschlag (fehlerhafte Beweiswürdigung; unkritische Würdigung der Angaben eines möglichen Alternativtäters).

§ 212 StGB; § 261 StPO; § 267 Abs. 3 StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 28. Januar 2011 gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von sechs Jahren verurteilt. Die dagegen erhobene Revision des Angeklagten greift mit der Sachrüge durch. Auf die Verfahrensrüge kommt es demnach nicht mehr an.

1. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

a) Der in Berlin als drittes Kind libanesischer Eltern in einer zehnköpfigen Geschwisterreihe geborene Angeklagte entwickelte sich zu einem vergleichsweise guten Schüler. Er hielt Distanz zu den subkulturellen Milieus und pflegte Kontakte zu seiner deutschsprachigen Umgebung. Die Staatsanwaltschaft hat bisher lediglich im Juni 2009 gemäß § 45 Abs. 1 JGG von der Verfolgung einer dem Angeklagten angelasteten Körperverletzung (Schubsen einer Mitschülerin) abgesehen.

b) Der Vater des Angeklagten K. F. nahm die 1981 geborene litauische Staatsangehörige O. R. nach muslimischem Recht zu seiner Zweitfrau. Aus dieser Verbindung gingen zwei Halbbrüder des Angeklagten, der am 16. Januar 2007 geborene Ir. F. sowie der am 24. Oktober 2008 geborene N. F. hervor. Die Kinder hielten sich regelmäßig - auch für Übernachtungen - in der Familienwohnung auf, wohin sie häufig auch von dem Angeklagten aus der Wohnung ihrer Mutter verbracht worden waren.

O. R. war mit ihrem Leben unzufrieden und begann Ende des Jahres 2009 eine - freilich nur virtuelle - Liebesbeziehung zu einem jungen Mann in Aserbaidschan. K. F. versuchte, die Kontakte seiner Lebensgefährtin zu überwachen. Er nahm ihr schließlich das Notebook weg, griff sie am 21. und 22. Februar 2010 mit Schlägen an und würgte sie. O. R. sprach offen von ihrem Entschluss, sich von K. F. zu trennen und möglicherweise mit ihren Söhnen nach Litauen auszureisen.

c) Am 23. Februar 2010 fehlte der Angeklagte unentschuldigt bei dem um 8.50 Uhr beginnenden Schulausflug seiner Klasse. Auf Geheiß seines Vaters oder anderer Familienangehöriger suchte er gegen 9.00 Uhr die Wohnung der O. R. auf, um seine beiden Halbbrüder in die Familienwohnung zu verbringen. Nachdem sich die junge Frau der Wegnahme ihrer Kinder widersetzt hatte, ergriff der gerade 16 Jahre alte Angeklagte ein großes Kochmesser mit einer Klingenlänge von 20 cm und tötete die Zweitfrau seines Vaters mit 13 Stichen in den Oberkörper und den Rücken. O. R. verstarb binnen weniger Augenblicke.

d) Der Angeklagte meldete im Wege eines anonymen Notrufs um 11.08 Uhr einen Unfall in der Wohnung des Tatopfers.

Kurz nach 11.30 Uhr teilte K. F. dem von dem Wirt eines Weddinger Cafes herbeigerufenen Polizeibeamten Y. mit, sein Sohn habe ihm gesagt, er hätte "Mist gemacht" (UA S. 22), und er glaube, dass sein Sohn seine Freundin mit dem Messer verletzt hätte. Die Polizei gelangte kurze Zeit später mit Hilfe eines von K. F. stammenden und vom Wirt vermittelten Schlüssels in die Wohnung und fand dort die Leiche vor. K. F., der die Wohnung des Tatopfers selbst nicht aufsuchte, verbrachte die anschließende Zeit mit dem Bruder des Wirts, auf den er verstört wirkte und dem er von einem vorher stattgefundenen Arztbesuch berichtete.

Der Angeklagte bekundete anlässlich seiner Festnahme in der elterlichen Wohnung am frühen Nachmittag, er hätte seine Halbbrüder dorthin verbracht, und führte die Polizeibeamten zum Fundort des mit Opferblut behafteten Tatmessers in einen nahe gelegenen Park.

Die am Abend des Tattages durchgeführte polizeiliche Vernehmung des K. F. als Zeuge wurde wegen geltend gemachter gesundheitlicher Probleme abgebrochen. Der Vater des Angeklagten war bis zu der am 2. November 2011 begonnenen Hauptverhandlung nicht erreichbar. Sein Rechtsanwalt trug dann vor, sein Mandant mache - wie es auch die übrigen Familienangehörigen taten - von seinem Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO Gebrauch. Die Staatsanwaltschaft hat ein gegen K. F. wegen Beteiligung an dem Tötungsverbrechen geführtes Ermittlungsverfahren nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

2. Das Landgericht hat sich von der (alleinigen) Täterschaft des Angeklagten, der sich zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens in einer Vernehmung zur Sache eingelassen hat, aufgrund einer Gesamtschau folgender Umstände überzeugt:

Sehr geringe Spuren von Opferblut am linken Schuh des Angeklagten und am rechten Hosenbein seiner Jeanshose belegten einen unmittelbaren Kontakt des Angeklagten mit dem Tatgeschehen. Die Verteilung der Blutanhaftungen entlang einer Linie deute auf Abschleuderspuren hin, wie sie typischerweise unter anderem bei schnell ausgeführten Bewegungen mit als Tatwerkzeug eingesetzten Messern entstehen können. Der rechte Schuh des Angeklagten habe einen Abdruck am Tatort in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Tatbegehung hinterlassen. Der Angeklagte habe durch Offenbaren des Messerverstecks und die Äußerung gegenüber seinem Vater Täterwissen offenbart; den Notruf des Angeklagten hat das Landgericht lediglich ergänzend herangezogen.

3. Die Jugendkammer hat aufgrund der Beweislage denkbare alternative Geschehensabläufe verneint, namentlich ein Vorschieben des jugendlichen Angeklagten, um die Aufdeckung der Täterschaft eines anderen Familienmitglieds, insbesondere des verdächtigen Vaters, zu vermeiden, und eine Tatbegehung durch diesen im Beisein des Angeklagten, wobei es zu den Blutanhaftungen hätte kommen können (UA S. 30 f.).

Ein Vorschieben des Angeklagten nach der Tat sei ausgeschlossen, weil der Angeklagte bei dieser Annahme ab 8.50 Uhr am Schulausflug teilgenommen hätte. Hinweise auf eine Anwesenheit des K. F. am Tatort zur Tatzeit hätten sich nicht ergeben. Im Gegenteil sprächen die Bekundungen der Zeugen, mit denen der Vater des Angeklagten die Zeit nach der Tat verbracht hatte, für dessen Alibi, einen Arztbesuch (UA S. 31 f.).

4. Die Beweiswürdigung enthält - auch eingedenk des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs - sachlichrechtlich beachtliche Fehler. Sie geht zum Teil von einem unzutreffenden Beurteilungsmaßstab aus und ist lückenhaft. Hierdurch hat es das Landgericht unterlassen, ein sogar im Urteil angesprochenes Alternativgeschehen - eine Beihilfehandlung des Angeklagten - näherer Prüfung und Würdigung zu unterziehen, ferner eine denkbare Mittäterschaft des Angeklagten oder eine Tat des Angeklagten nach Anstiftung durch Familienangehörige (vgl. BGH, Urteil vom 16. November 2006 - 3 StR 139/06, NJW 2007, 384, 387, insoweit nicht in BGHSt 51, 144 abgedruckt).

a) Das Landgericht hat seine Überzeugung von der (alleinigen) Täterschaft des Angeklagten auch auf Bekundungen von dessen Vater gegenüber Dritten gestützt, insbesondere dem eigens herbeigerufenen Polizeibeamten, dem Täterwissen des Angeklagten mitgeteilt worden sei. Dabei ist das Landgericht ersichtlich von dem Beweiswert der Bekundungen des Vaters des Angeklagten als einer - spontan erfolgten - neutralen Zeugenaussage ausgegangen, ohne darauf Bedacht zu nehmen, dass es sich um die Darstellung eines wegen des Vorhandenseins eines Tatmotivs selbst verdächtigen Zeugen handelt, der seine Angaben zur eigenen Entlastung und hier sogar zur Belastung eines anderen eingesetzt haben könnte (vgl. Brause NStZ 2007, 505, 510).

Gleiches gilt, soweit das Landgericht ausschließlich aus Bekundungen des Vaters des Angeklagten dessen Betroffensein über die angeblich nicht von ihm begangene Tat und sogar ein Alibi für die Tatzeit für erwiesen erachtet hat. In der Sache hat das Landgericht hierdurch ein allein von einem Tatverdächtigen selbst bekundetes Alibi akzeptiert. Auch der Notruf hätte unter dem Aspekt eines denkbaren Vertuschungsplans betrachtet werden müssen.

b) Das Landgericht hat die von dem psychiatrischen Sachverständigen vorgetragenen Umstände, dass der jugendliche Angeklagte in tradierte familiäre Hierarchien eingefügt sei, die Existenz der Zweitfrau des Vaters als Angelegenheit der Erwachsenensphäre betrachte und dass der Angeklagte "offenbar grundsätzlich nicht zur Gewaltanwendung neigt", als nicht entscheidend gegen die angenommene situativ entstandene Tatmotivation des Angeklagten sprechend bewertet (UA S. 29). Eine hierfür angesichts nicht fernliegender abweichender Geschehensabläufe zur Erfüllung des Gebots der erschöpfenden Beweiswürdigung notwendige Begründung hat das Landgericht indes nicht dargelegt.

Die Prüfung, ob der Angeklagte zur Verbergung der Täterschaft eines anderen vorgeschoben sein könnte, bleibt ebenfalls lückenhaft. Das Landgericht behandelt lediglich den Fall, dass die Familie des Angeklagten diesen nach der Tat als Täter präsentiert haben könnte (UA S. 30), nicht aber einen hier eher näher liegenden früher ansetzenden Vertuschungsplan, der mit dem fehlenden Schulbesuch des Angeklagten in Einklang stünde.

c) Soweit das Landgericht angenommen hat (UA S. 26), dass der Angeklagte anstelle seines Vaters die Kinder aus der Wohnung der Getöteten geholt haben könnte, weil dieser zu befürchten hatte, die Mutter werde ihn nach den Übergriffen vom Vortage nicht einlassen, hätte dies als Ansatz genommen werden müssen, ein sich angesichts der Beweislage aufdrängendes Alternativgeschehen, eine dolose Mitwirkung des Angeklagten als Türöffner für den Haupttäter, in Betracht zu ziehen (vgl. auch BGH, Beschlüsse vom 16. Februar 2005 - 5 StR 490/04 - und vom 18. Januar 2009 - 5 StR 578/08, StV 2009, 176, 177).

5. Die Sache bedarf demnach insgesamt neuer Aufklärung und Bewertung. Der Senat, dem eine eigene Würdigung der Beweise versagt ist, darf keinesfalls - erst recht nicht entgegen der Wertung des Landgerichts - die Blutspur an der Hose des Angeklagten zur Begründung von dessen Alleintäterschaft heranziehen. Es ist deshalb nicht möglich, das Beruhen des Urteils auf den Mängeln der Beweiswürdigung auszuschließen.

Nur ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die bisherige Würdigung von DNA-Spuren, ohne dass diese für sich als durchgreifend fehlerhaft betrachtet werden müsste, in weiteren Zusammenhängen Bedenken ausgesetzt ist.

Das Landgericht hat erwogen, es mache für einen anderen innerfamiliären Täter wenig Sinn, den Angeklagten anzuweisen, er solle der Polizei den Fundort des Messers zeigen, um so möglicherweise den Verdacht auf ihn zu lenken. Dafür sei auch aus laienhafter Sicht das Risiko zu groß, dass Spuren des wahren Täters an dem Messer entdeckt werden würden (UA S. 21). Diese Annahme steht in einem Spannungsverhältnis zu dem festgestellten Umstand, dass DNA-Spuren des Täters auf dem Messer gar nicht zu erwarten gewesen wären (UA S. 21). Soweit hierfür als ausschlaggebend auch die nur kurze Zeit des Hautkontakts des Täters mit dem Messer angenommen worden ist, muss erörterungsbedürftig bleiben, warum 13 heftige Messerstiche DNA-Anhaftungen von der - ersichtlich als unbedeckt bewerteten - Täterhand nicht begründen müssen, demgegenüber aber DNA-Spuren beim Anpacken der Schuhe des Angeklagten beim Aufräumen ohne Weiteres gelegt werden (UA S. 12).

HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 808

Bearbeiter: Ulf Buermeyer