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HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 790

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 134/11, Urteil v. 08.06.2011, HRRS 2011 Nr. 790


BGH 5 StR 134/11 - Urteil vom 8. Juni 2011 (LG Berlin)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefährlichkeitsprognose; Verhältnismäßigkeit).

§ 62 StGB; § 63 StGB

Entscheidungstenor

Die Revision des Nebenklägers gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 6. Oktober 2010 wird verworfen.

Der Nebenkläger trägt die Kosten seines Rechtsmittels und die dem Beschuldigten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen.

Gründe

Das Landgericht hatte im Sicherungsverfahren mit Urteil vom 17. September 2009 die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Auf die Revision des Beschuldigten hatte der Senat dieses Urteil - entsprechend dem Antrag des Generalbundesanwalts - mit den Feststellungen aufgehoben, davon jedoch die Feststellungen zum äußeren Geschehensablauf der rechtswidrigen Tat ausgenommen und die Sache im Umfang der Aufhebung an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen. Nunmehr hat das Landgericht durch Urteil vom 6. Oktober 2010 den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt. Dagegen richtet sich die mit der Sachrüge geführte Revision des Nebenklägers.

1. Das Landgericht ist von folgenden Feststellungen ausgegangen:

a) Der im Zeitpunkt der Hauptverhandlung 32 Jahre alte, nicht vorbestrafte, in der Türkei geborene Beschuldigte leidet seit etwa Mitte der 90er Jahre an einer schizophrenen Störung mit paranoidhalluzinatorischer Verlaufsform, die trotz durchgängiger antipsychotischer Medikation nur unvollständig remittiert ist. In den Jahren 1997 und 1998 wurde er mehrere Monate stationär psychiatrisch behandelt, nachdem er psychische Auffälligkeiten gezeigt hatte und es unter anderem "zu grundlos aggressiven Durchbrüchen" (UA S. 8) gegenüber Dritten gekommen war. Im Oktober 2001 wurde er ein weiteres Mal stationär in einer psychiatrischen Klinik aufgenommen, nachdem er einem Mitbewohner in seiner betreuten Wohneinrichtung einen Faustschlag in das Gesicht versetzt hatte. Im Februar 2002 wurde er teilremittiert und normal gestimmt entlassen. Seitdem wurde er bis zu seiner Festnahme in dieser Sache durch eine Institutsambulanz psychiatrisch betreut, wobei er durchgängig eine "stabile Medikamenten-Compliance" aufwies. Auch während seiner einstweiligen Unterbringung im Krankenhaus des Maßregelvollzugs in dieser Sache zeigte er sich durchgehend behandlungsbereit und nahm widerspruchslos seine Medikamente ein. Sein Verhalten war ruhig und angepasst; aggressive Tendenzen waren zu keinem Zeitpunkt erkennbar. Der Beschuldigte steht seit etwa zehn Jahren unter Betreuung und hat seit 2005 zudem einen Einzelfallhelfer; zum Zeitpunkt der Anlasstat lebte er selbständig in einer gemieteten Wohnung.

b) Am Tattag, dem 16. Dezember 2008, beobachtete eine Zeugin einen Dritten bei der Entwendung einer Kamera aus einem Kraftfahrzeug und sah, wie dieser gleichzeitig mit dem Beschuldigten ein Wohnhaus betrat. Von der Entwendung der Kamera wusste der Beschuldigte nichts; er hatte den - inzwischen rechtskräftig verurteilten - Täter, einen ihm nicht näher bekannten Hausbewohner, nur zufällig vor dem Haus getroffen. Die Zeugin machte eine uniformierte Polizeibeamtin auf das Geschehen aufmerksam, die an der Wohnung des Beschuldigten klingelte. Als er die Tür öffnete, forderte die Beamtin ihn auf, aus der Wohnung herauszutreten und die Hände nach vorne zu nehmen. Dieses Verhalten war dem Beschuldigten nicht erklärlich und versetzte ihn in Furcht. "Er ging davon aus, dass man ihm etwas Böses antun wolle und schlug sofort die Wohnungstür zu" (UA S. 12). Eine realistische Einschätzung der Situation und eine adäquate Reaktion waren ihm vor dem Hintergrund seiner Erkrankung und der auch damals nicht vollständig remittierten psychotischen Symptomatik nicht möglich.

Auf Anforderung der Polizistin erschienen nun weitere sieben Polizeibeamte, unter ihnen der Nebenkläger, an der Wohnungstür. Sie klingelten, klopften und riefen: "Aufmachen, Polizei!" Der psychotische Beschuldigte nahm die Situation als zunehmend bedrohlich wahr. Nach weiteren Versuchen, die Tür zu öffnen, setzten die Beamten eine Ramme ein. Als die Polizisten in seine Wohnung eindrangen, geriet der Beschuldigte in Todesangst. In wahnhafter Realitätsverkennung nahm er an, dass die Beamten ihn töten wollten; er wollte sich nicht kampflos geschlagen geben. Er stach mit mindestens bedingtem Tötungsvorsatz mehrmals gezielt in den Oberkörper des Nebenklägers und verletzte diesen lebensgefährlich durch drei Stiche mit seinem Klappmesser in den Bauch und den Thorax.

2. Sachverständig beraten gelangt die Strafkammer zu der Überzeugung, dass die Anlasstat "aus einer Kombination eines reaktiv bedingten Angst- bzw. Panikzustandes und der psychischen Grundstörung einer schizophrenen Erkrankung" (UA S. 21) des Beschuldigten resultierte; seine Steuerungsfähigkeit sei dadurch aufgehoben gewesen. Die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus hat sie abgelehnt, da sie keine hinreichende Wahrscheinlichkeit sah, dass von ihm infolge seines Zustandes künftig erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind.

3. Die Revision des Nebenklägers ist - entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts - unbegründet. Ausgehend von den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen ist die Ablehnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht zu beanstanden. Das gilt ungeachtet des kritischen, vom Landgericht auch nicht verkannten Ausgangspunktes des Falles, dass die verfahrensgegenständliche Tat nach ihrer Schwere (§ 62 StGB) als Anlasstat für eine Unterbringung nach § 63 StGB in Frage kommt und auch auf die fortdauernde paranoide schizophrene Störung des Beschuldigten zurückzuführen ist.

Gleichwohl verneint das Landgericht - dem Sachverständigen folgend - eine hinreichende Gewissheit, "dass aufgrund des zur Schuldunfähigkeit führenden Zustandes des Beschuldigten eine bestimmte oder doch gewisse, über eine bloße Möglichkeit hinausgehende Wahrscheinlichkeit für die Begehung weiterer erheblicher rechtswidriger Taten bestehe und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich sei" (UA S. 23). Entsprechend den Hinweisen des Senats in seinem Aufhebungsbeschluss vom 14. April 2010 stellt die Schwurgerichtskammer dabei zum einen darauf ab, dass die Anlasstat in einer von dem Beschuldigten subjektiv als äußerst bedrohlich empfundenen Ausnahmesituation begangen wurde; dass sich eine derartige Ausnahmesituation wiederholen könnte, schätzt die Schwurgerichtskammer als äußerst fernliegend ein. In ihre Würdigung bezieht sie zum anderen das Verhalten des Beschuldigten seit dem Jahr 2002 ein, dem sie keine Hinweise auf eine Gefährlichkeit zu entnehmen vermag. Seitdem er durch die Institutsambulanz medizinisch betreut wird, hatte der Beschuldigte keine Störungen des Rechtsfriedens mehr verursacht. In den vergangenen Jahren hatte er durchgängig eine gute "Medikamenten-Compliance" gezeigt; es ist deshalb nicht damit zu rechnen, dass er seine Medikamente in Zukunft eigenmächtig absetzen könnte. Akute Krankheitsschübe sind daher nicht zu erwarten. Schließlich berücksichtigt die Schwurgerichtskammer, dass selbst die in den Jahren vor 2002 aufgetretenen Krankheitsschübe nicht zu solch schweren Störungen des Rechtsfriedens geführt haben, die den mit einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus verbundenen schwerwiegenden Eingriff hätten rechtfertigen können.

Die Wertungen des Landgerichts sind nicht zu beanstanden: Eine allgemeine Bereitschaft des Beschuldigten zu brutalen und lebensgefährlichen Verletzungshandlungen kann aus der Tat, freilich nur angesichts der Besonderheiten der Auslösersituation, nicht hergeleitet werden; dem Verhalten des Beschuldigten ist auch eine "Neigung zu wahnhaften reaktiv bedingten Angst- und Panikzuständen", die der Generalbundesanwalt als Ausgangspunkt für die Gefährlichkeitsbeurteilung heranzieht, nicht zu entnehmen. Der Beschuldigte wurde in seiner Wohnung, mithin in seinem persönlichen Schutz- und Rückzugsraum, von einer Übermacht von Polizeikräften in einer in erheblichem Maße Angst auslösenden Weise bedrängt. Zur ursprünglichen Entstehung dieser Situation hatte der Beschuldigte nichts beigetragen; eine Konfrontation hatte er nicht gesucht, sich vielmehr bis zum Eindringen der Polizisten in seine Wohnung aus Angst gerade passiv verhalten. Auch aus seinem Verhalten während der letzten Jahre ergeben sich keinerlei Hinweise darauf, dass der Beschuldigte aufgrund seiner Krankheit dazu neigt, in soziale Konfliktsituationen hineinzugeraten und in diesen aus inadäquaten Panikreaktionen heraus Gewalthandlungen zu begehen.

HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 790

Bearbeiter: Ulf Buermeyer