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HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 51

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 456/10, Beschluss v. 10.11.2010, HRRS 2011 Nr. 51


BGH 5 StR 456/10 - Beschluss vom 10. November 2010 (LG Neuruppin)

Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe (Anwendungspflicht); Gesamtstrafübel (Erörterungspflicht); Strafzumessung; rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung.

§ 54 StGB; § 55 StGB; § 267 StPO; § 46 StGB; Art. 6 Abs. 1 EMRK; Art. 20 Abs. 3 GG

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 27. Mai 2010 nach § 349 Abs. 4 StPO im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben.

2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO verworfen; der Schuldspruch wird dahin klargestellt, dass der Angeklagte der Vergewaltigung in Tateinheit mit Nötigung, mit vorsätzlicher Körperverletzung und mit Fahren ohne Fahrerlaubnis schuldig ist.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen "Vergewaltigung in Tateinheit mit Nötigung, vorsätzlicher Körperverletzung und Fahrens ohne Fahrerlaubnis" zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die auf die Sachrüge und eine Verfahrensrüge gestützte Revision erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg.

1. Der Schuldspruch begegnet - wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat - keinen sachlichrechtlichen Bedenken. Auch die erhobene Verfahrensrüge hat aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts keinen Erfolg. Lediglich im Urteilstenor ist entsprechend der zutreffenden rechtlichen Würdigung durch das Landgericht das Vorliegen von Tateinheit klarzustellen.

2. Allerdings hält der Strafausspruch revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand. Angesichts eines im konkreten Unrechtsschwerpunkt nicht durch die Vergewaltigung geprägten Tatbildes ist die gleichwohl rechtsfehlerfrei aus dem Strafrahmen des § 177 Abs. 2 StGB entnommene Strafe eher hoch bemessen. Rechtlich zu beanstanden ist der Rechtsfolgenausspruch jedenfalls wegen unzureichender Beachtung zeitlicher Besonderheiten.

a) Bedenklich ist bereits, dass die Strafkammer von der Bildung einer nachträglichen Gesamtstrafe abgesehen hat. Die nachträgliche Gesamtstrafenbildung ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts, die es regelmäßig nicht dem Beschlussverfahren nach §§ 460, 462 StPO überlassen darf (BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Anwendungspflicht 3, 4; vgl. Fischer, StGB 57. Aufl. § 55 Rdn. 35). Lediglich ausnahmsweise kann von der Entscheidung in der Hauptverhandlung abgesehen werden, wenn auf Grund der zur Verfügung stehenden Unterlagen trotz sorgfältiger Vorbereitung darüber keine Entscheidung getroffen werden kann (BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Anwendungspflicht 2). Dass diese Voraussetzungen hier nicht vorlagen, liegt auf der Hand. Dies gilt zumal vor dem Hintergrund, dass die Hauptverhandlung drei Monate nach der Eröffnungsentscheidung und etwa ein Jahr nach Anklageerhebung begonnen hat; Letztere ist mehr als ein Jahr und vier Monate nach Begehung der ersichtlich alsbald ausermittelten, schon Ende 2007 begangenen Tat erfolgt. Danach waren die Gesamtstrafvoraussetzungen vorab zu klären; die Entscheidung durfte dem Beschlussverfahren nach §§ 460, 462 StPO nicht allein deshalb überlassen werden, weil die erst kurz vor Schluss der zweitägigen Beweisaufnahme vom Angeklagten aufgestellte Behauptung, eine zuvor zäsurbegründende Vorverurteilung sei vollstreckt, nicht mehr "ohne Verzögerung der Hauptverhandlung" hätte überprüft werden können. Freilich ist zweifelhaft, ob das Vorbringen des Beschwerdeführers der Vortragspflicht für eine grundsätzlich erforderliche Verfahrensrüge (vgl. BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Anwendungspflicht 2, 4) vollständig genügt.

b) Die Strafzumessung ist in diesem Zusammenhang jedenfalls deshalb sachlichrechtlich fehlerhaft, weil das Landgericht es versäumt hat, mit Rücksicht auf die Wirkungen der Strafe, die für das künftige Leben des Angeklagten zu erwarten sind (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB), das mit der Verurteilung des Angeklagten verbundene Gesamtstrafübel ausdrücklich zu erörtern. Das Tatgericht hat grundsätzlich das gesamte Gewicht der verhängten Strafe und ihrer Folgen in seine Entscheidung einzustellen (vgl. BGHSt 41, 310, 314; BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 19; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 4. Aufl. Rdn. 415 ff.). Einen Nachteil, der sich für einen Angeklagten dadurch ergibt, dass die Bildung mehrerer Strafen zu einem zu hohen Gesamtstrafenübel führt, muss es gegebenenfalls ausgleichen. Diesem rechtlichen Maßstab wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.

Das Landgericht hat nicht erkennbar bedacht, dass wegen der ungeklärten Zäsurwirkung neben der hier verhängten Freiheitsstrafe von vier Jahren die durch Urteil des Amtsgerichts Neustrelitz vom 12. Mai 2009 erkannte Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten gegen den Angeklagten möglicherweise ebenfalls vollständig vollstreckt werden muss. Aus den Urteilsgründen ist überdies ersichtlich, dass gegenwärtig weitere Freiheitsstrafen von einem Jahr und sieben Monaten und von sieben Monaten zu vollstrecken sind, die keiner weiteren Gesamtstrafbildung unterliegen. Das damit für den Angeklagten ersichtlich verbundene Gesamtstrafübel war vom Landgericht vollständig aufzuklären und innerhalb der Strafzumessung zu bewerten. Der nichtssagende Hinweis auf einen Härteausgleich wegen eventuell nicht mehr einzubeziehender Geldstrafen ist hierfür gänzlich unzureichend. Es liegt nicht fern, dass die zu verhängende Strafe jedenfalls bei notwendiger gesamter Vollstreckung der zuletzt verhängten weiteren Freiheitsstrafe niedriger zu bemessen gewesen wäre.

Da die Aufhebung wegen Begründungs- und Wertungsfehlern erfolgt, können die Feststellungen insgesamt bestehen bleiben. Das neue Tatgericht ist nicht gehindert, weitergehende Feststellungen zu treffen, sofern sie den bisherigen nicht widersprechen.

c) Das neue Tatgericht wird die notwendigen Daten und Fakten zur nachträglichen Gesamtstrafbildung vor der nach dem bisherigen Zeitablauf besonders zügig anzuberaumenden neuen Hauptverhandlung zu klären haben. Maßgeblich ist der Vollstreckungsstand zum Zeitpunkt des ersten Urteils (vgl. Fischer aaO § 55 Rdn. 37).

Beim Rechtsfolgenausspruch wird die von der Revision angesprochene Möglichkeit einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung, die sich hier aufdrängt (vgl. BGHSt 49, 342), zu prüfen sein. Sie wird gegebenenfalls, sofern sie nicht hier sogar ihrerseits Anlass für eine Strafreduzierung bieten sollte, nach Maßgabe von BGHSt 52, 124 zu kompensieren sein.

HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 51

Bearbeiter: Ulf Buermeyer