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HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 44

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 421/10, Beschluss v. 09.12.2010, HRRS 2011 Nr. 44


BGH 5 StR 421/10 - Beschluss vom 9. Dezember 2010 (LG Berlin)

Sicherungsverwahrung; Gefahrenprognose (zwingend zu erörternde Umstände; erstmalige Therapie; fehlende Gewaltausübung); Verhältnismäßigkeit.

§ 66 StGB; § 62 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 StGB liegt - soweit die formellen Voraussetzungen gegeben sind - im pflichtgemäßen Ermessen des Tatgerichts. Daher müssen die Urteilsgründe nachvollziehbar erkennen lassen, dass und aus welchen Gründen das Tatgericht von seiner Ermessensbefugnis Gebrauch gemacht hat. Dabei sind die nach dem Zweck des § 66 Abs. 2 StGB erheblichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen.

2. Wesentliche gegen die Anordnung der Sicherungsverwahrung sprechende Umstände sind vom Tatrichter zwingend zu erörtern. Ein solcher Umstand ist etwa anzunehmen, wenn ein Angeklagter, der wegen einer auf seiner pädophilen Neigung beruhenden Straftat erstmals zu einer längeren Freiheitsstrafe verurteilt wird, bislang praktisch nicht therapiert wurde, eine Therapie nun aber während des erstmaligen längeren Aufenthalts im Strafvollzug zu erwarten ist. Ebenso liegt es, wenn ein Angeklagter sexuelle Handlungen an Kindern stets nur "einvernehmlich" vornahm und keinerlei Gewalt anwendete.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 25. März 2010 gemäß § 349 Abs. 4 StPO im Ausspruch über die Anordnung der Sicherungsverwahrung aufgehoben.

2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet nach § 349 Abs. 2 StPO verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit Körperverletzung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet.

1. Nach den Feststellungen der Strafkammer nahm der mehrfach einschlägig vorbestrafte, homosexuell-pädophile und mit dem HI-Virus infizierte Angeklagte im Juni 2009 über einen Zeitraum von mehr als zwei Tagen sexuelle Handlungen mit dem 13-jährigen D. vor (Oralverkehr an dem Jungen; Reiben des Glieds am Anus des Jungen; Penetration und orale Stimulation des Angeklagten durch den Jungen, letztere unter Verwendung eines Kondoms). Für dieses Tatgeschehen verhängte die Strafkammer eine Einzelstrafe von vier Jahren und sechs Monaten. Des Weiteren wurde der Angeklagte zu zwei Einzelstrafen von jeweils einem Jahr und neun Monaten verurteilt, weil er einen zehn- und einen elfjährigen Jungen mehrfach an deren unbedeckte Geschlechtsteile gefasst hatte.

3 Der Angeklagte wendet sich gegen diese Verurteilung und macht die Verletzung formellen und sachlichen Rechts geltend. Die Revision hat hinsichtlich der Anordnung der Sicherungsverwahrung Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

2. Die Unterbringung nach § 66 Abs. 2 StGB, dessen formelle Voraussetzungen gegeben sind, liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Tatgerichts. Daher müssen die Urteilsgründe nachvollziehbar erkennen lassen, dass und aus welchen Gründen das Tatgericht von seiner Ermessensbefugnis Gebrauch gemacht hat (BGH, Beschluss vom 28. September 1990 - 5 StR 414/90, BGHR StGB § 66 Abs. 2 Ermessensentscheidung 4; Beschluss vom 4. Januar 1994 - 4 StR 718/93, BGHR StGB § 66 Abs. 2 Ermessensentscheidung 5 m.w.N.). Dabei müssen sie die nach den Zweckvorstellungen der Vorschrift erheblichen Gesichtspunkte berücksichtigen.

Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Die Strafkammer hat wesentliche Umstände nicht erwogen, die gegen die Anordnung der Sicherungsverwahrung sprechen können. Sie lässt vor allem unberücksichtigt, dass der Angeklagte bislang praktisch nicht therapiert wurde, was nunmehr bei für ihn erstmaligem Vollzug einer längeren Freiheitsstrafe zu erwarten ist.

Darüber hinaus hat sich das Landgericht nicht damit auseinandergesetzt, dass die an D. - einverständlich - vorgenommenen sexuellen Handlungen nach ihrer Intensität und dem Grad ihrer Eignung, schwerwiegende seelische Schäden beim Opfer hervorzurufen, nicht nur von den beiden übrigen abgeurteilten Taten, sondern auch von denjenigen Taten deutlich abweichen, derentwegen der Angeklagte vorbestraft ist. Insoweit kam es allenfalls zu Berührungen der geschädigten Jungen an deren unbedeckten Geschlechtsteilen und gelegentlich zum Onanieren vor den Kindern. Schwere Tatfolgen bei den Geschädigten wurden nicht festgestellt. Der Angeklagte wendete nie Gewalt an, sondern nutzte von ihm geschaffene "spielerische" Situationen aus, um die sexuellen Handlungen an den Jungen vorzunehmen. Reagierten die Kinder ablehnend, ließ er von ihnen ab. Diese Gesichtspunkte sind von wesentlicher Bedeutung für die Beurteilung des Ausmaßes der vom Angeklagten ausgehenden Gefahr. Sie hätten deshalb bei der Ausübung des Ermessens bedacht werden müssen. Die Einschätzung der Strafkammer, dass "unter Berücksichtigung der hohen Zahl der Opfer in der Vergangenheit und den drei Opfern der hier zu beurteilenden Taten" die Anordnung der Sicherungsverwahrung unerlässlich und verhältnismäßig sei, betont einseitig zulasten des Angeklagten diesen Teilaspekt seiner bislang begangenen Taten.

Bei dem hier vorliegenden Ermessensfehler bedurfte es keiner Aufhebung von Feststellungen.

HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 44

Bearbeiter: Ulf Buermeyer