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HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 376

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 450/08, Beschluss v. 26.11.2008, HRRS 2009 Nr. 376


BGH 5 StR 450/08 - Beschluss vom 26. November 2008 (LG Berlin)

Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe (Einbeziehung einer zum Erlass reifen, zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe); Recht auf Verfahrensbeschleunigung (rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 20 Abs. 3 GG; § 55 StGB; § 56 StGB; § 56f StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine Strafaussetzung zur Bewährung steht einer Einbeziehung einer früher erkannten Freiheitsstrafe auch dann nicht entgegen, wenn die neu zu bildende Gesamtstrafe nicht mehr aussetzungsfähig ist.

2. Dies gilt grundsätzlich selbst dann, wenn die Bewährungszeit aus den früheren Strafen abgelaufen ist. Allerdings hat der Tatrichter die Härten zu berücksichtigen, die sich aus dieser Gesamtstrafsituation ergeben. Denn ohne dass ein Widerrufsgrund nach § 56f StGB gegeben wäre, wird der Angeklagte im Ergebnis nach Ablauf der Bewährungszeit so gestellt, als wäre die Strafaussetzung widerrufen worden. Außerdem hat der Tatrichter in den Blick zu nehmen, wie lange die Taten bereits zurückliegen, für die auf die Strafe erkannt wurde, die nach Einbeziehung doch noch zur Vollstreckung ansteht.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 10. April 2008 nach § 349 Abs. 4 StPO im Gesamtstrafausspruch aufgehoben. Die weitergehende Revision wird gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen bewaffneten unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und unter Einbeziehung anderweitig rechtskräftig verhängter Einzelstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

1. Gegen die Höhe der gebildeten Gesamtstrafe bestehen durchgreifende Bedenken. Die Strafzumessungserwägungen lassen nicht erkennen, ob das Landgericht bedacht hat, dass die aus den einbezogenen Einzelstrafen ursprünglich gebildete Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren mit Strafaussetzung zur Bewährung aus dem Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 20. Juli 2005 zum Erlass anstand.

Die Einbeziehung dieser Einzelstrafen erfolgte zwar zu Recht. Denn eine Strafaussetzung zur Bewährung steht einer Einbeziehung auch dann nicht entgegen, wenn die neu zu bildende Gesamtstrafe nicht mehr aussetzungsfähig ist (vgl. BGHSt 7, 180, 182; 36, 378). Dies gilt grundsätzlich selbst dann, wenn die Bewährungszeit aus den früheren Strafen abgelaufen ist (vgl. hierzu BVerfG - Kammer - NJW 1991, 558). Ein Ausnahmefall, bei dem die nicht erlassene Strafe so zu behandeln ist, als wäre sie erlassen (vgl. BGH NStZ 1993, 235), lag zum Zeitpunkt der Entscheidung des Landgerichts nicht vor. Die Eröffnung des hiesigen Verfahrens erfolgte am 24. Mai 2007 noch innerhalb der bis 19. Juli 2007 andauernden Bewährungszeit. Auf einen Straferlass konnte der Angeklagte bei dieser Sachlage im Blick auf die Gesamtstrafenbildung nicht vertrauen (vgl. BGH aaO).

Allerdings hätte die Strafkammer die sich aus dieser Gesamtstrafsituation ergebenden Härten besonders bedenken müssen. Denn ohne dass ein Widerrufsgrund nach § 56f StGB gegeben wäre, wird der Angeklagte nach Ablauf der Bewährungszeit so gestellt, als wäre die Strafaussetzung widerrufen worden (BVerfG - Vorprüfungsausschuss - wistra 1990, 262; BGH NStZ 1991, 330; 1993, 235). Dabei hätte es zudem in den Blick nehmen müssen, dass die Strafen, deren Vollstreckung nach Einbeziehung nunmehr ansteht, Taten betreffen, die fast acht Jahre zurückliegen. Zudem hat der Angeklagte die Verzögerungen im hiesigen Verfahren nicht zu vertreten, was bisher nur bei der Strafrahmenwahl berücksichtigt worden ist.

2. Die Revision beanstandet mit der zulässig erhobenen, auf eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK gestützten Verfahrensrüge weiterhin zu Recht, dass das Landgericht eine Entscheidung über die Kompensation für die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung unterlassen hat.

a) Dem liegt im Wesentlichen folgender Verfahrensablauf zugrunde:

Nachdem der Angeklagte am 24. Februar 2002 im unmittelbaren Anschluss an die Tat - polizeilich überwachter Betäubungsmittelverkauf an einen verdeckten Ermittler - festgenommen worden war, wurde ihm am 25. Februar 2002 der Tatvorwurf eröffnet und Haftbefehl gegen ihn erlassen. Am 24. April 2002 schloss die Polizei die Ermittlungen hinsichtlich des Tatvorwurfs zunächst ab. Es erfolgten dann die Verfahrensabtrennung hinsichtlich eines weiteren Mitbeschuldigten und die ergebnislose Beiziehung von Mitteilungen aus anderen Verfahren. Am 27. Juni 2002 wurde der Angeklagte auf seinen Antrag hin von der Untersuchungshaft verschont. Der Staatsanwalt vermerkte am 6. Mai 2004, dass das Verfahren wegen Überlastung nicht ordnungsgemäß habe gefördert werden können. Auf seinen auf Verhältnismäßigkeitsgründe gestützten Antrag hob das Amtsgericht am 13. Mai 2004 sämtliche Haftbefehle auf. Am 9. Dezember 2004 vermerkte die nunmehr zuständige Staatsanwältin, dass "zur Zeit keine Kapazität zur Förderung der Sache" bestehe. Durch Verfügung vom 22. April 2005 ordnete der neu zuständige Staatsanwalt weitere Ermittlungen an, die die Polizei am 24. Mai 2005 abschloss. Am 16. März 2006, mithin über vier Jahre nach der Eröffnung des Tatvorwurfs, wurde Anklage erhoben. Dem Angeklagten wurde darin der Sachverhalt zur Last gelegt, der bereits Gegenstand des Haftbefehls war.

Nach Zustellung der Anklage vermerkte die Vorsitzende der Strafkammer am 18. April 2006, dass "zwischen dem 1. Juli 2005 und dem 16. März 2006 keine erkennbare Förderung des Verfahrens" erfolgt sei. Am 6. Juni, 7. August, 25. September, 19. Oktober, 16. November, 11. Dezember 2006, 22. Januar und 5. März 2007 verfügte sie, dass das Verfahren wegen vorrangiger Haftsachen nicht terminiert werden könne. Am 2. April 2007 sandte sie die Akten unter Hinweis auf Widersprüchlichkeiten im Anklagesatz an die Staatsanwaltschaft zurück. Die geänderte Anklageschrift ging am 16. April 2007 beim Landgericht ein. Nach Zustellung beschloss die Strafkammer am 24. Mai 2007 die Eröffnung des Hauptverfahrens. Drei Tage später wurden Hauptverhandlungstermine für den 5., 10. und 19. Juli 2007 festgesetzt. Am 20. Juni 2007 meldete sich bei Gericht der neue Verteidiger des Angeklagten; er teilte unter Bezugnahme auf ein aktuelles Betreuungsgutachten - ein dieselbe Diagnose beinhaltendes Gutachten war bereits im Jahre 2002 zu den Akten gelangt - Zweifel hinsichtlich der vollen Schuldfähigkeit des Angeklagten mit und gab zu bedenken, dass der "faktische Handlungsablauf" unstreitig sei. Im Termin am 5. Juli 2007 beantragte der Verteidiger eine psychiatrische Begutachtung des Angeklagten. Das Gericht setzte daraufhin die Hauptverhandlung aus und beschloss am 30. Juli 2007 die psychiatrische Untersuchung. Ein in Aussicht genommener neuer Hauptverhandlungstermin am 8. Januar 2008 konnte "wegen einer vorrangigen Unterbringungssache" nicht stattfinden. Zwischen dem 23. Januar und dem 6. Februar 2008 ging das vorbereitende Gutachten bei Gericht ein. Am 10. März 2008 beraumte die Vorsitzende Hauptverhandlungstermin für den 10. und 16. April 2008 an. Am 10. April 2008 erging schließlich das Urteil gegen den Angeklagten und zwei nichtrevidierende Mitangeklagte.

b) Das Landgericht hat zwar neben weiteren erheblichen strafmildernden Umständen bei der Strafrahmenwahl berücksichtigt, dass die Tat bereits mehrere Jahre zurückliege, "ohne dass die Verfahrensverzögerung dem Angeklagten zuzurechnen" wäre (UA S. 21). Indes hat es das Landgericht aber versäumt, Art, Ausmaß und Ursache der Verfahrensverzögerung konkret zu ermitteln und im Urteil darzustellen (vgl. hierzu BVerfG - Kammer - StV 1993, 352; BGHSt - GS - 52, 124, 146). Eine gesonderte Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung hat es nicht erwogen. Dies erweist sich als rechtsfehlerhaft.

c) Die dargestellte Verfahrensweise und die Gesamtverfahrensdauer (vgl. hierzu BGH NStZ 2004, 504; NStZ-RR 2007, 150, 151) von über sechs Jahren wird angesichts des begrenzten Umfangs der erforderlichen Ermittlungen und der geringen Komplexität des aufzuklärenden Lebenssachverhalts den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK nicht gerecht.

Von der Eröffnung des Tatvorwurfs bis zur Anklageerhebung ist das Verfahren über längere Zeiträume nicht angemessen gefördert worden, wie sich aus den Vermerken der jeweils zuständigen Staatsanwälte ergibt. Dabei fällt ins Gewicht, dass gegen den Angeklagten zwar nur bis zum 27. Juni 2002 Untersuchungshaft vollzogen wurde, er danach aber bis zum 13. Mai 2005 durch die Außervollzugsetzung des Haftbefehls unter Auflagen besonders belastet war (vgl. hierzu BVerfG StV 2003, 30; - Kammer - 2006, 87, 88; BGH StraFo 2008, 297). Nach Eingang der Anklage bei Gericht ist das Verfahren auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass es sich um keine Haftsache handelte, nicht in der gebotenen Weise gefördert worden. Aus den Vermerken der Strafkammervorsitzenden ergibt sich, dass der Terminierung der Sache in angemessener Frist nicht nur ein vorübergehend bestehender Engpass in der Verhandlungskapazität entgegenstand (vgl. hierzu BVerfG StV 2003, 30; BGH, Beschluss vom 21. Februar 2008 - 4 StR 666/07).

d) Der Aufhebung von Feststellungen bedurfte es bei den hier vorliegenden Wertungsfehlern nicht.

3. Die nunmehr gebotene Kompensation für die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung hat das neue Tatgericht im Wege des Vollstreckungsmodells (BGHSt - GS - 52, 124) nachzuholen. Es wird zunächst festzustellen haben, welcher Zeitraum zwischen der Eröffnung des Tatvorwurfs und dem Urteil bei zeitlich angemessener Verfahrensgestaltung als erforderlich anzusehen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Mai 2008 - 3 StR 75/08 Rdn. 6). Dieser Zeitraum ist bei der Berechnung der Dauer der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nicht zu berücksichtigen. Sodann ist festzulegen, welcher bezifferte Teil der Gesamtstrafe zur Kompensation der Verzögerung als vollstreckt gilt, da die bloße Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verzögerung als Kompensation in diesem Fall offensichtlich nicht ausreicht. Bei der Bemessung sind vor allem die Art und Schwere des Tatvorwurfs, der Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrens, das Maß des Fehlverhaltens der Strafverfolgungsorgane sowie die mit dem andauernden Verfahren verbundenen Belastungen für den Beschuldigten als maßgebende Kriterien festzustellen und zu berücksichtigen (BGHSt - GS - 52, 124, 146; BGH, Beschluss vom 14. Mai 2008 - 3 StR 75/08 Rdn. 8; BGH, Urteil vom 9. Oktober 2008 - 1 StR 238/08 Rdn. 9).

HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 376

Bearbeiter: Ulf Buermeyer