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HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 1129

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 443/08, Beschluss v. 29.10.2008, HRRS 2008 Nr. 1129


BGH 5 StR 443/08 - Beschluss vom 29. Oktober 2008 (LG Berlin)

Beweiswürdigung zur uneingeschränkten Schuldfähigkeit des Angeklagten (unzureichende Darstellung des Sachverständigengutachtens; krankhafte seelische Störung: paranoid-halluzinatorische Psychose; belastende Berücksichtigung von Verteidigungsverhalten).

§ 21 StGB; § 20 StGB; § 261 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Im Fall der Diagnose einer krankhaften seelischen Störung und eines von Größenideen geprägten, sich hinsichtlich der Demütigungen steigernden, teils außergewöhnlichen, von Sadismus geprägten Tatbildes bedarf es einer eingehenden Prüfung und Erörterung der Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB. So wären zunächst Darlegungen dazu erforderlich gewesen, auf Grund welcher Kriterien eine Beeinträchtigung des Angeklagten bei den Taten durch die krankhafte seelische Störung anzunehmen oder zu verneinen ist. Die Darstellung der Stellungnahme des Sachverständigen ist nachvollziehbar zu gestalten.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten P. wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 9. April 2008 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit es diesen Angeklagten betrifft. Aufrechterhalten bleiben die Feststellungen zum äußeren Tathergang und zum natürlichen Vorsatz des Angeklagten P. Insoweit wird dessen weitergehende Revision nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung sowie wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung und mit Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich der Angeklagte mit seiner Revision, die mit der Sachrüge den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg hat.

1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:

Der Angeklagte hatte den später Geschädigten für etwa zwei Monate bei sich wohnen lassen, bevor dieser die Wohnung heimlich verließ und dem Angeklagten dabei Geld (30 Euro) und Rauschgift (Heroin im Wert von 50 Euro) stahl. Als der Angeklagte den Geschädigten kurze Zeit darauf, am Freitag, dem 13. Juli 2007, auf der Straße traf, schlug er ihn mit seiner Tüte, in der sich eine ca. ein Zentimeter dicke, hartkantige Kunststoffmappe befand, ins Gesicht. Er forderte den Geschädigten auf, ihm in seine Wohnung zu folgen. Dem kam der Geschädigte aus Angst vor weiteren Schlägen nach. In der Wohnung schlug und trat der Angeklagte auf den Geschädigten ein. An den Misshandlungen beteiligte sich auch der Mitangeklagte S., der sich bereits in der Wohnung befand. Während die Angeklagten abwechselnd vorübergehend die Wohnung verließen, war der Geschädigte bis zum Eintreffen der Polizeibeamten am Sonntagabend daran gehindert, da der Angeklagte P. die Tür abschloss und den Schlüssel bei sich führte.

Während des Aufenthalts des Geschädigten in der Wohnung wurde er von den Angeklagten vielfach misshandelt, wobei die Tatimpulse vom Angeklagten P. ausgingen. So schlug er dem Geschädigten eine Bierflasche mit Wucht gegen den Kopf, bewarf ihn mit Gegenständen und sperrte ihn in einen Schrank. Er schlug ihn immer wieder, auch mit einem Stuhlbein und einer Gardinenstange. Zudem zwang er ihn, einen verschmutzten Tisch, Schuhsohlen und die Toilette abzulecken sowie Urin und Kot zu sich zu nehmen. Der Angeklagte urinierte dem Geschädigten in den Mund und übergoss ihn mit Urin. Er zwang ihn, sich eine Bierflasche anal einzuführen, und nahm dies mit seinem Handy auf. Er bestand darauf, dass der Geschädigte ihn mit "Großmeister" ansprach. Auch gab er ihm Sätze vor, die der Geschädigte nachsprechen musste, gelang dies nicht, schlug er ihn. Am Sonntag schließlich übergoss er den Geschädigten mit einer brennbaren Flüssigkeit und zündete seine Kleidung an. Der Angeklagte S. konnte die Flammen löschen und verließ die Wohnung. Der Angeklagte P. versuchte erneut, den Pullover des Geschädigten in Brand zu stecken. Diesem gelang es jedoch, den Pullover schnell auszuziehen.

2. Die Beweiswürdigung zu den einzelnen Tatbeiträgen des Angeklagten weist keine Rechtsfehler auf. Soweit allerdings die sachverständig beratene Strafkammer eine relevante Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit des Angeklagten bei den Taten verneint hat, kann das Urteil keinen Bestand haben.

a) Im Anschluss an den Sachverständigen hat das Landgericht hierzu ausgeführt, dass der Angeklagte seit mehreren Jahren an einer paranoid-halluzinatorischen Psychose leide. Die Symptome dieser Störung, wie akustische Halluzinationen, Denk- und Affektstörungen sowie eine verzerrte Wahrnehmung, machten sich aber nicht durchgehend bemerkbar. Im Hinblick auf seine Krankheit verfolge der Angeklagte ein System der "doppelten Buchführung", wobei er die psychotischen Symptome abschirme und sich nach außen realitätsgerecht verhalte. Die Störung habe sich auf die Taten nicht ausgewirkt, er sei in der Lage gewesen, "entsprechende Symptome zu unterdrücken". Die Taten wiesen wegen des vorhergegangenen Diebstahls durch den Geschädigten auf eine "realitätsgerechte und nachvollziehbare Tatmotivation". Einige Verhaltensweisen seien zwar auffällig; "ausreichender Ausdruck seiner Psychose" seien sie allerdings nicht. Schließlich versuche der Angeklagte auch nicht, sein Verhalten wahnhaft zu rechtfertigen, was aber bei einer psychotischen Beeinträchtigung bei den Taten zu erwarten wäre.

b) Diese Erwägungen halten revisionsrechtlicher Kontrolle nicht stand (BGHSt 49, 347, 356). Angesichts der Diagnose einer krankhaften seelischen Störung und des von Größenideen geprägten, sich hinsichtlich der Demütigungen steigernden, teils außergewöhnlichen, von Sadismus geprägten Tatbildes hätte es einer eingehenden Prüfung und Erörterung der Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB bedurft. So wären zunächst Darlegungen dazu erforderlich gewesen, aufgrund welcher Kriterien eine Beeinträchtigung des Angeklagten bei den Taten durch die krankhafte seelische Störung anzunehmen oder zu verneinen ist. Ohne dies ist die sachverständige Stellungnahme, es gebe zwar Auffälligkeiten, aber diese reichten nicht aus, der sich die Strafkammer ohne weitere eigene Erörterungen angeschlossen hat, nicht nachvollziehbar. Eine nähere Auseinandersetzung wäre auch hinsichtlich der Feststellung, der Angeklagte habe Symptome unterdrücken können, erforderlich gewesen. So ergibt sich weder, wie sich diese Symptome ausgewirkt, noch, aufgrund welcher Umstände der Sachverständige von der Beherrschbarkeit derselben durch den Angeklagten ausgegangen ist.

Von einer solchen Darstellung war das Landgericht auch nicht etwa im Hinblick auf den "realen Bezug" für die Auswahl des Opfers befreit. Denn dies nimmt den Verlauf der Tat, insbesondere die sich steigernde Gewalt und die zunehmende Demütigung des Opfers nicht hinreichend in den Blick.

Bedenken begegnet darüber hinaus, dass das Fehlen von krankheitsbedingten Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit mit dem Verteidigungsverhalten des Angeklagten begründet wird. Geht die Strafkammer einerseits noch davon aus, dass der Angeklagte wegen seines "Systems der doppelten Buchführung" psychotische Symptome krankheitsbedingt nicht offenbare, knüpft sie andererseits an das Ausbleiben einer solchen Offenbarung ein Beweisanzeichen gegen eine psychotische Beeinflussung.

3. Das neue Tatgericht wird unter Hinzuziehung eines anderen Sachverständigen die Schuldfähigkeit des Angeklagten umfassend neu zu prüfen haben. § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO wird dabei zu beachten sein. Sollte es erneut eine Strafe gegen den Angeklagten verhängen, wird zu prüfen sein, inwieweit eine Gesamtstrafe mit der Freiheitsstrafe von sechs Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 7. September 2007 zu bilden ist. Eine zwischenzeitliche Vollstreckung dieser Strafe hätte unberücksichtigt zu bleiben, da grundsätzlich nach Aufhebung einer Gesamtstrafe in der erneuten Verhandlung die Gesamtstrafbildung gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 StGB nach Maßgabe der Vollstreckungssituation zum Zeitpunkt der ersten Verhandlung zu erfolgen hat, damit dem Revisionsführer ein erlangter Rechtsvorteil durch nachträgliche Gesamtstrafbildung nicht durch sein Rechtsmittel genommen wird (BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Erledigung 1 und 2). Ob jedoch die Voraussetzungen für die Bildung einer Gesamtstrafe vorliegen, kann der Senat nicht beurteilen, da für die der Verurteilung vom 7. September 2007 zugrunde liegende Tat der Begehungszeitpunkt nicht mitgeteilt wird. Wäre diese vor der Verurteilung vom 24. Juli 2006 begangen worden, käme dieser Verurteilung Zäsurwirkung zu und schiede eine Gesamtstrafbildung aus.

HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 1129

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2009, 41

Bearbeiter: Karsten Gaede