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HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 1013

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 375/07, Beschluss v. 25.09.2007, HRRS 2007 Nr. 1013


BGH 5 StR 375/07 - Beschluss vom 25. September 2007 (LG Leipzig)

Anwendung von allgemeinem Strafrecht auf einen Heranwachsenden (Entwicklungsrückstände; Einbeziehung aller Lebensbereiche; Jugendverfehlung bei "Jähtaten"; Anwendung von Jugendstrafrecht im Zweifel).

§ 105 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 JGG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Prüfung des § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG darf sich nicht nur an schulischen Belangen orientieren und andere Bereiche der Lebensführung unberücksichtigt lassen (vgl. BGH NStZ-RR 2006, 187 f.). Sie muss sicht zudem auf die Tatzeit beziehen.

2. Für die Anwendung des § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG kommt es nicht allein darauf an, ob der Heranwachsende in seiner Entwicklung zurückgeblieben ist oder ob er sich altersgemäß entwickelt hat, sondern darauf, ob es sich bei ihm um einen noch in der Entwicklung befindlichen, noch prägbaren Menschen handelt (BGHSt 36, 37, 40; BGHR JGG § 105 Abs. 1 Nr. 1 Entwicklungsstand 2).

3. Eine Jugendverfehlung im Sinne von § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG kann auch bei schweren Gewaltdelikten gegeben sein. Auch diese Taten können nach ihrem äußeren Erscheinungsbild oder nach den Beweggründen des Täters Merkmale jugendlicher Unreife aufweisen (BGHR JGG § 105 Abs. 1 Nr. 2 Jugendverfehlung 1 und 2). Es stellt einen Erörterungsmangel dar, wenn dies für eine "Jähtat" des bis dahin nicht durch aggressives Verhalten aufgefallenen Angeklagten zu Lasten des Liebhabers seiner Mutter nicht erörtert wird. Für Jugendliche typisches Verhalten offenbart sich insbesondere in einem Mangel an Ausgeglichenheit, Besonnenheit und Hemmungsvermögen (BGH aaO).

4. Bleiben nach Ausschöpfung aller Aufklärungsmöglichkeiten Zweifel zum Entwicklungsstand nach § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG oder zu den Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG verbleiben, wird Jugendstrafrecht anzuwenden sein (BGHSt 36, 37, 40; BGHR JGG § 105 Abs. 1 Nr. 2 Jugendverfehlung 1; BGH NStZ-RR 2003, 186, 188).

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Leipzig vom 23. April 2007 nach § 349 Abs. 4 StPO im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den zur Tatzeit 19 Jahre und zwei Monate alten Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten ist zum Schuldspruch aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet, hat jedoch betreffend den Strafausspruch mit der Sachrüge Erfolg.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts erstach der bisher nicht strafrechtlich in Erscheinung getretene Angeklagte den Liebhaber seiner Mutter, den er zuvor nur einmal flüchtig gesehen hatte. Das alkoholisierte Opfer war hinter den Angeklagten getreten, der gerade Geschirr spülte, und hatte ihm kräftig an die Schultern gefasst. Der hierdurch überraschte Angeklagte fühlte sich zudem von möglicherweise beleidigenden Äußerungen des Mannes gekränkt, nahm das gerade von ihm abgewaschene Küchenmesser und versetzte ihm damit einen tödlichen Stich in die Brust. Als der Geschädigte ein paar Schritte zurücktaumelte und den Angeklagten beschimpfte, stach dieser ihm erneut in den Oberkörper. Sodann flüchtete der Angeklagte aus der Wohnung seiner Mutter. Kurz darauf stellte er sich der Polizei.

Die Jugendkammer hat auf den zur Tatzeit heranwachsenden Angeklagten allgemeines Strafrecht angewendet. Der Angeklagte sei nicht mehr einem Jugendlichen gleichzusetzen (§ 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG). Er entspreche in der Entwicklung einem "normalen 19-jährigen Heranwachsenden", Anhaltspunkte für Entwicklungsrückstände seien demgegenüber nicht ersichtlich. So sei er in den letzten drei Jahren durch die arbeitsbedingte Abwesenheit seiner Mutter häufig auf sich gestellt gewesen und habe eigenverantwortlich Entscheidungen getroffen. Ob es sich bei der Tat um eine Jugendverfehlung (§ 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG) handelt, hat die Jugendkammer nicht erörtert.

2. Die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht hat keinen Bestand.

Bereits die Ablehnung der Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG begegnet Bedenken. Die landgerichtliche Wertung zur Entscheidungsfähigkeit des Angeklagten orientiert sich unter Verweis auf die dargestellten Ausführungen des Sachverständigen nur an schulischen Belangen und lässt andere Bereiche der Lebensführung unberücksichtigt (vgl. BGH NStZ-RR 2006, 187 f.; BGH bei Böhm NStZ 1990, 530; Eisenberg, JGG 12. Aufl. § 105 Rdn. 20 und 22). Die zum Beleg für den Reifegrad maßgeblich herangezogene realistische Zukunftsplanung des Angeklagten - Besuch einer geeigneten Schule zur Erlangung des Fachabiturs, um studieren zu können - bezieht sich nicht auf die Tatzeit, sondern auf den Zeitpunkt der Begutachtung.

Zudem ist zu besorgen, die Jugendkammer könnte verkannt haben, dass es nicht allein darauf ankommt, ob der Heranwachsende in seiner Entwicklung zurückgeblieben ist oder ob er sich altersgemäß entwickelt hat, sondern darauf, ob es sich bei ihm um einen noch in der Entwicklung befindlichen, noch prägbaren Menschen handelt (BGHSt 36, 37, 40; BGHR JGG § 105 Abs. 1 Nr. 1 Entwicklungsstand 2).

Ein durchgreifender Rechtsfehler liegt jedenfalls darin, dass sich die Jugendkammer nicht damit auseinandersetzt, ob es sich bei der Tat um eine Jugendverfehlung im Sinne von § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG handelt, was auch bei schweren Gewaltdelikten der Fall sein kann. Denn auch diese Taten können nach ihrem äußeren Erscheinungsbild oder nach den Beweggründen des Täters Merkmale jugendlicher Unreife aufweisen (BGHR JGG § 105 Abs. 1 Nr. 2 Jugendverfehlung 1 und 2). Für die Jähtat des bis dahin nicht durch aggressives Verhalten aufgefallenen Angeklagten zu Lasten des Liebhabers seiner Mutter kann dies nicht ohne weiteres ausgeschlossen werden.

Für Jugendliche typisches Verhalten offenbart sich insbesondere in einem Mangel an Ausgeglichenheit, Besonnenheit und Hemmungsvermögen (BGH aaO), was auch in der Tat des Angeklagten durch fehlende Beherrschung und Unterdrückung seiner durch eine bloße Beleidigung hervorgerufenen Gefühle zu Tage getreten sein könnte. Dabei wäre auch zu beachten gewesen, dass die Tat möglicherweise durch eine besonders enge Bindung an die Mutter, die seit der Umsiedlung nach Deutschland im Jahre 2000 allein mit ihren beiden Söhnen lebt, motiviert gewesen sein kann (vgl. hierzu Eisenberg aaO Rdn. 30).

Sollten nach Ausschöpfung aller Aufklärungsmöglichkeiten Zweifel zum Entwicklungsstand nach § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG oder zu den Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG verbleiben, wird Jugendstrafrecht anzuwenden sein (BGHSt 36, 37, 40; BGHR JGG § 105 Abs. 1 Nr. 2 Jugendverfehlung 1; BGH NStZ-RR 2003, 186, 188).

HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 1013

Externe Fundstellen: NStZ 2008, 696; StV 2008, 121

Bearbeiter: Karsten Gaede