HRRS-Nummer: HRRS 2005 Nr. 758
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 312/05, Beschluss v. 11.08.2005, HRRS 2005 Nr. 758
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 16. Februar 2005 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben. Ausgenommen sind die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen, die aufrechterhalten bleiben; insoweit wird die weitergehende Revision nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit einer Aufklärungsrüge zur Frage der Schuldfähigkeit teilweise Erfolg.
Die Feststellungen des Landgerichts zum äußeren Tathergang sind rechtsfehlerfrei getroffen. Die insoweit von der Revision geltend gemachten Einwendungen haben aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts keinen Erfolg.
Nach den Feststellungen verfolgte der Angeklagte ein 14 Jahre altes Mädchen bis zu einer Grünanlage, wo er den Oralverkehr erzwang. Seine Überzeugung von der Täterschaft des eine Einlassung zur Sache verweigernden Angeklagten hat der Tatrichter auf eine Gesamtwürdigung mehrerer Beweismittel gestützt. Das Ergebnis der Beweiswürdigung ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Gleichwohl kann der Schuldspruch keinen Bestand haben, weil der Tatrichter das Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB hier nicht ohne die von der Verteidigung beantragte Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen ausschließen durfte.
Der Tatrichter hat die Frage einer möglicherweise durch Persönlichkeitsveränderung erheblich verminderten Steuerungs- oder Einsichtsfähigkeit erörtert. Er hat eine solche erhebliche Verminderung aufgrund eigener Sachkunde ausgeschlossen, weil einerseits der Angeklagte während der zweiwöchigen Hauptverhandlung bewusstseinsklar sowie zeitlich und örtlich orientiert gewesen sei und sich situationsadäquat verhalten habe und andererseits das Tatgeschehen durch ausdauerndes, zielgerichtetes und konsequentes Verhalten des Angeklagten geprägt gewesen sei.
Der Fall weist demgegenüber insgesamt so gravierende Besonderheiten auf, dass es sich dem Landgericht hier aufdrängen musste, unter Zuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen der Frage näher nachzugehen, ob bei dem Angeklagten eine krankhafte seelische Störung oder eine schwere seelische Abartigkeit vorlag, die seine Schuldfähigkeit erheblich beeinträchtigt hat.
Der 50 Jahre alte, in Afghanistan geborene Angeklagte ist durch den Tod seiner Ehefrau - nach längerer Krebserkrankung - im Jahre 1996 "aus der Bahn" geworfen worden. Er war mit der Pflege seiner kranken Ehefrau und der Sorge für seine sechs Kinder überfordert und begann, Drogen zu konsumieren, unter anderem Heroin und Kokain, später auch Crack. Den von ihm geleiteten Autohandel gab er auf und lebte längere Zeit wie ein Obdach loser auf der Straße. Nach Verurteilungen wegen mehrerer Betäubungsmittelstraftaten wurde im November 2002 ein bestehender Strafrest zur Bewährung ausgesetzt, jedoch wurde er im folgenden Jahr erneut wegen eines Drogendelikts verurteilt. Sein Bewährungshelfer hat ihm erklärt, wenn "sein Leben wieder etwas in Ordnung komme", könne er auch wieder arbeiten.
Die Strafkammer hält es für möglich, dass sich der Angeklagte phasenweise auffällig verhält. Hiernach hat der Angeklagte aus Kleidungsstücken Gebilde gebaut, die er als Roboter bezeichnet, die ihm helfen sollen. Auch hat er aus Videobändern Girlanden gefertigt und an die Wände geklebt. Er hält sich auch bei Kälte, Regen oder Dunkelheit auf dem Balkon auf und "kommuniziert" mit seinen Pflanzen. Er behauptet, Diego Maradona zu kennen und für ihn gekocht zu haben. Er fühlt sich von einer Nordallianz verfolgt, die ihm einmal Geld geliehen habe. Um seinen Haushalt kümmert er sich nicht, seine persönlichen Angelegenheiten vernachlässigt er. Seine früher ausgezeichneten Deutschkenntnisse haben sich deutlich verschlechtert.
Hiernach war die Untersuchung der Schuldfähigkeit des Angeklagten durch einen psychiatrischen Sachverständigen unerlässlich. Der dargelegte Fehler führt zur Aufhebung des Urteils. Da nicht mit Sicherheit auszuschließen ist, dass bei der gebotenen umfassenden Beurteilung von Täterpersönlichkeit und Tat (vgl. BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 4, 16, 26) die Schuldunfähigkeit des Angeklagten (§ 20 StGB) festgestellt wird, hebt der Senat nicht nur den Strafausspruch, sondern das Urteil insgesamt auf. Die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen können jedoch bestehen bleiben, da sie von dem aufgezeigten Rechtsfehler nicht berührt werden (vgl. BGHSt 14, 30, 34).
HRRS-Nummer: HRRS 2005 Nr. 758
Bearbeiter: Karsten Gaede