hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 22/03, Beschluss v. 22.07.2003, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 5 StR 22/03 - Beschluss vom 22. Juli 2003 (LG Hamburg)

Spezialitätsgrundsatz (Auslieferung; abweichende Beurteilung durch die Gerichte des ersuchenden Staates; Begriff der prozessualen Tat); Vorlage nach dem EuGH-Gesetz (Zweifel).

§ 72 IRG; EU-Übereinkommen über das vereinfachte Auslieferungsverfahren vom 10. März 1995; Art. 51 lit. a SDÜ; Art. 10 des Übereinkommens über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 27. September 1996; § 1 Abs. 2 EuGH-Gesetz; § 264 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Gerichte des ersuchenden Staates sind nicht gehindert, innerhalb des historischen Lebenssachverhaltes die Tat abweichend rechtlich oder tatsächlich zu beurteilen, soweit insofern ebenfalls Auslieferungsfähigkeit besteht (BGH NStZ 1986, 557).

2. Der nationale Tatrichter des ersuchenden Staates ist nicht gehindert, einzelne Teilakte der Verurteilung zugrunde zu legen, auch wenn diese in dem Auslieferungshaftbefehl nicht enthalten sind (BGH NStZ 1995, 608).

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 16. Oktober 2002 wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Ergänzend bemerkt der Senat:

Es kann dahinstehen, ob der Spezialitätsgrundsatz nach dem EU-Übereinkommen über das vereinfachte Auslieferungsverfahren vom 10. März 1995 hier schon deshalb nicht anwendbar ist, weil der Angeklagte der vereinfachten Auslieferung zugestimmt hat (Art. 9 des genannten Übereinkommens), obwohl er ausdrücklich nicht auf den Schutz des Grundsatzes der Spezialität verzichtet hat. Eine Verletzung des Spezialitätsgrundsatzes (vgl. § 72 IRG) ist nämlich schon deshalb nicht gegeben, weil die als einheitliches Delikt ausgeurteilte strafbare Handlung des Angeklagten nicht einen anderen Lebenssachverhalt erfaßt als die dem internationalen Haftbefehl vom 28. November 2000 zugrundeliegenden Taten im Sinne des Art. 51 lit. a SDÜ, Art. 10 des Übereinkommens über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 27. September 1996.

Die Gerichte des ersuchenden Staates sind nicht gehindert, innerhalb des historischen Lebenssachverhaltes die Tat abweichend rechtlich oder tatsächlich zu beurteilen, soweit insofern ebenfalls Auslieferungsfähigkeit besteht (BGH NStZ 1986, 557; Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen 2003 Rdn. 94). Da im vorliegenden Fall die strafrechtliche Bewertung der Vorgänge als Betrug unverändert geblieben ist, liegt ein Verstoß gegen den Spezialitätsgrundsatz nicht vor. Der nationale Tatrichter des ersuchenden Staates ist nicht gehindert, einzelne Teilakte der Verurteilung zugrunde zu legen, auch wenn diese in dem Auslieferungshaftbefehl nicht enthalten sind (BGH NStZ 1995, 608; Schomburg in Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen 3. Aufl. § 72 IRG Rdn. 21). Durch die rechtsfehlerfreie Annahme einer einheitlichen Handlung, die alle durch den Angeklagten oder seine Helfer begangenen Betrugshandlungen zu einer einheitlichen Tat verklammert, stellen sich die einzelnen durch Täuschung bewirkten Schädigungen einzelner Kunden als unselbständige Bestandteile einer einheitlichen prozessualen Tat im Sinne des § 264 StPO dar, auf die sich die Auslieferungsbewilligung insgesamt erstreckt (BGH NStZ-RR 2000, 333, 334).

Bei der hier vorliegenden Fallgestaltung ist nicht zu besorgen, daß dem ersuchten Staat Prüfungsbefugnisse abgeschnitten sein könnten, die eine einschränkende Auslegung des prozessualen Tatbegriffes nach § 264 StPO erfordern könnten. Ob solche Fallgestaltungen überhaupt denkbar sind, braucht der Senat hier nicht zu entscheiden. Im vorliegenden Fall sind sowohl der zeitliche Rahmen (von Oktober 1994 bis September 1996) der im Haftbefehl genannten und später ausgeurteilten Taten als auch ihre Begehungsweise identisch. Allein der Umstand, daß zusätzliche, wiederum gleichartige Einzeltaten in der Hauptverhandlung einbezogen wurden, läßt - auch wenn sie den schon nach Haftbefehl und Auslieferungsbewilligung beträchtlichen Gesamtschuldumfang noch verdoppelt haben mögen - keine Anhaltspunkte erkennen, die für die Auslieferungsbewilligung des ersuchten Staates von Bedeutung sein könnten. Bei dieser Sachlage sieht der Senat auch keinen Raum für denkbare Zweifel bei der Auslegung (vgl. BGHSt 48, 52, 65 f.), die eine Vorlage nach § 1 Abs. 2 des EuGH-Gesetzes erforderlich machen könnten (BGHSt 47, 326, 333 ff.).

Externe Fundstellen: NStZ 2003, 684

Bearbeiter: Karsten Gaede