Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 437/01, Beschluss v. 05.02.2002, HRRS-Datenbank, Rn. X
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Göttingen vom 6. Februar 2001 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher und mit fünffacher vorsätzlicher Körperverletzung sowie wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und drei Monaten verurteilt; es hat ferner die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Das Urteil hat aufgrund einer vom Angeklagten erhobenen Verfahrensrüge keinen Bestand.
1. Die Revision beanstandet mit Recht, daß in Abwesenheit des Angeklagten, dessen Entfernung aus dem Sitzungssaal während der Zeugenvernehmung der Nebenklägerin gemäß § 247 Satz 1 StPO angeordnet worden war, ein Schreiben eines die Nebenklägerin behandelnden Psychologen an einen den Angeklagten zivilrechtlich beratenden Rechtsanwalt verlesen worden ist. Anhaltspunkte, daß die protokollierte Verlesung zu einem anderen Zweck als dem des Urkundenbeweises erfolgt wäre, liegen nicht vor. Ungeachtet eines Sachzusammenhanges zwischen dem Gegenstand dieses Urkundenbeweises und der Zeugenvernehmung, von welcher der Angeklagte verfahrensfehlerfrei ausgeschlossen war, deckte dessen Entfernung von der Vernehmung nach § 247 StPO nicht seine Abwesenheit während der Erhebung des Urkundenbeweises. Da die Verlesung nicht in Gegenwart des Angeklagten wiederholt worden ist, liegt der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO vor, der die umfassende Aufhebung des angefochtenen Urteils nach sich zieht (BGHSt 21, 332; BGHR StPO § 247 Abwesenheit 6 und 9; BGH NStZ 1997, 402; st. Rspr.).
2. Nach den Grundsätzen der ständigen Rechtsprechung müßte der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO in gleicher Weise durchgreifen wegen der wiederholten förmlichen Beweiserhebungen durch Einnahme von Augenschein in verschiedene mit der Zeugenvernehmung der Nebenklägerin zusammenhängende schriftliche Unterlagen während durch § 247 StPO nicht gerechtfertigter Abwesenheit des Angeklagten (vgl. BGHR StPO § 247 Abwesenheit 4 und 5). Auch dieser Augenschein ist nicht in Gegenwart des Angeklagten wiederholt worden. Gleiches gilt für die in seiner Abwesenheit erfolgte Verlesung des Protokolls einer polizeilichen Zeugenvernehmung der Nebenklägerin, die nach ausdrücklichem Gerichtsbeschluß der Erhebung des förmlichen Urkundenbeweises gemäß § 253 StPO diente (vgl. BGH bei Holtz MDR 1983, 450).
Zumal angesichts der Vielzahl der einschlägigen Verfahrensverstöße sieht der Senat keinen Anlaß, im vorliegenden Fall eine Änderung der Rechtsprechung mit dem Ziel zu erwägen, den Umfang der Entfernung des Angeklagten nach § 247 StPO den Grundsätzen anzupassen, die von der Rechtsprechung für den Ausschluß der Öffentlichkeit gemäß § 171b oder § 172 GVG während einer Vernehmung, also für einen Teil der Hauptverhandlung, anerkannt sind; hier findet der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 StPO keine Anwendung, wenn eine auch gesonderte förmliche Beweiserhebung im Zusammenhang mit der Vernehmung stand, von welcher die Öffentlichkeit ausgeschlossen war (vgl. BGHR GVG § 171b Abs. 1 Augenschein 1; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 45. Aufl. § 172 GVG Rdn. 17 und § 171b GVG Rdn. 12 m.w.N.; vgl. zu Überlegungen der Übertragbarkeit dieser Grundsätze auf § 247 StPO: Basdorf in Festschrift für Hannskarl Salger, 1995, S. 203, 206 f., 212 f.). Zwar erschiene die "Zusammenhangformel" gerade bei der Verfahrensweise nach § 253 StPO sachgerecht, bei der eine Verlesung in Anwesenheit des von der Protokollverlesung unmittelbar betroffenen Zeugen und damit in Abwesenheit des Angeklagten, mit dem er nach § 247 StPO nicht konfrontiert werden soll, besonders nahe liegt. Eine Anfrage nach § 132 Abs. 3 GVG kommt indes hier nicht in Betracht. Es fehlt nämlich mindestens teilweise an Belegen für eine vollständige Information des Angeklagten, die nach einer gesonderten Beweiserhebung in seiner Abwesenheit in ähnlicher, jedenfalls inhaltlich gleichwertiger Weise wie eine formgerechte Heilung nach bisheriger Rechtsprechung zu verlangen wäre.
3. Erhebliche Bedenken bestehen im übrigen auch an der gerügten Abwesenheit des Angeklagten während einer vom Verteidiger vorgetragenen Beanstandung der Sachleitung des Vorsitzenden im Rahmen der Befragung der Nebenklägerin durch den Verteidiger. Zwar mag insoweit eine bloße organisatorische Gestaltung der Abwesenheitsvernehmung zu erwägen sein, während der ein fortdauernder Ausschluß des Angeklagten im Sinne des § 338 Nr. 5 StPO noch unschädlich sein könnte (vgl. nur BGHR StPO § 247 Abwesenheit 11 und 13). Das eigene Verhalten des Gerichts, das für die Verhandlung über die Beanstandung die für die Dauer der Vernehmung ausgeschlossene Öffentlichkeit wieder zugelassen hat, spricht indes gegen eine solche Betrachtungsweise.
4. Der Generalbundesanwalt hat in seiner Antragsschrift letztlich zutreffend darauf verwiesen, daß die genannten förmlichen Beweiserhebungen, die in Abwesenheit des Angeklagten erfolgt sind, sachlich überflüssig gewesen sein dürften. Der damit erstrebte Beweisertrag war nämlich ersichtlich überwiegend allein durch Vorhalte an die Nebenklägerin zu erreichen, die als Teil ihrer Vernehmung während der Entfernung des Angeklagten hätten erfolgen dürfen, im übrigen jedenfalls im Rahmen von Zeugenvernehmungen der Urheber oder Empfänger verlesener oder in Augenschein genommener Urkunden bzw. der Vernehmungsperson bei dem verlesenen Protokoll. Erfolgte indes eine naheliegend zwar entbehrliche, tatsächlich aber konkret zur Aufklärung des Verfahrensgegenstandes genutzte Beweiserhebung, so kommt einer der ganz seltenen Ausnahmefälle nicht in Betracht, in dem der absolute Revisionsgrund trotz förmlicher Erfüllung der Voraussetzungen daran scheitert, daß ein Beruhen des Urteils darauf - hier auf der verfahrenswidrigen Abwesenheit des Angeklagten während jener Beweiserhebung - denkgesetzlich auszuschließen ist.
Da die Heilung einer verfahrenswidrig in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführten förmlichen Beweiserhebung regelmäßig allein durch deren Wiederholung möglich ist, nicht indes durch andersartige Beweiserhebungen zum selben Thema, nämlich etwa einen späteren dem Urkunden- oder Augenscheinbeweis inhaltlich entsprechenden Vorhalt im Rahmen der Vernehmung eines anderen Zeugen, mußte der Revisionsführer zu einer solchen Möglichkeit auch nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO nichts vortragen.
5. Vorsorglich weist der Senat noch auf folgendes hin:
Eine Protokollierung, die über § 273 Abs. 1 StPO hinausgehend zwar kein Inhaltsprotokoll ergibt, indes - gleichermaßen überflüssig - Hinweise auf Vernehmungsbehelfe, insbesondere erfolgte Vorhalte aufnimmt, ist nicht nur nutzlos, kann vielmehr den Bestand eines Urteils sogar gefährden (vgl. BGH NStZ 1999, 522, 523 m.w.N.).
Zutreffend hat das Landgericht den Vorrang einer Verfahrensweise nach § 247 StPO vor einer solchen nach § 247a StPO beurteilt (BGHR StPO § 247a Audiovisuelle Vernehmung 3; BGH StV 2002, 10, 11). Dies sollte den neuen Tatrichter, wenn sich in der neuen Hauptverhandlung die gleiche Problematik stellt, indes zusätzlich veranlassen zu erwägen, zur effektiven Information des aus dem Sitzungssaal entfernten Angeklagten eine Videosimultanübertragung der gemäß § 247 StPO in seiner Abwesenheit durchgeführten Zeugenvernehmung zu ermöglichen (vgl. BGH StV 2002, 10, 11; van Gemmeren NStZ 2001, 263, 264). Eine solche Verfahrensweise würde gegebenenfalls die Unterrichtungspflicht nach § 247 Satz 4 StPO erheblich reduzieren.
Externe Fundstellen: NStZ 2002, 384; StV 2002, 408
Bearbeiter: Karsten Gaede