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Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 465/00, Beschluss v. 07.02.2001, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 5 StR 465/00 - Beschluß v. 7. Februar 2001 (LG Göttingen)

Zweifelsgrundsatz; Umfang der Aufklärungspflicht; Verminderte Schuldfähigkeit

§ 244 Abs. 2 StPO; § 261 StPO; § 21 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Göttingen vom 23. Juli 1999 nach § 349 Abs. 4 StPO im Ausspruch über die Höhe der Jugendstrafe mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte unter Freisprechung im übrigen wegen besonders schwerer Körperverletzung (§ 225 Abs. 1 StGB a. F.) zu drei Jahren Jugendstrafe verurteilt. Die Revision der Angeklagten führt - dem Antrag des Generalbundesanwalts entsprechend - zur Aufhebung des Ausspruchs über die Höhe der Jugendstrafe, im übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Die Verfahrensrügen sind offensichtlich unbegründet. Ergänzend zum Antrag des Generalbundesanwalts merkt der Senat lediglich an, daß für eine Verletzung des § 52 StPO im Zusammenhang mit der beanstandeten Verwertung von Krankenunterlagen nichts ersichtlich ist. Sie könnte allenfalls im Blick auf §§ 53, 97 StPO oder deren entsprechende erweiterte Anwendung problematisch sein (vgl. BGHSt 42, 73 und die von der Revision zitierte Entscheidung des OLG Celle NJW 1965, 362). Eine ausreichend substantiierte Rüge derartiger Rechtsverletzungen ist dem Revisionsvorbringen indes nicht zu entnehmen.

2. Die Beweiswürdigung, mit der sich der Tatrichter davon überzeugt hat, daß die Angeklagte am Vormittag des 5. August 1997 zweimal bewußt mit heftiger Gewalt auf den besonders empfindlichen Kopf ihres erst vier Monate alten Sohnes J eingewirkt und dadurch leichtfertig einen zweifachen Schädelbruch des Kindes und schwerste Hirnverletzungen verursacht hat, in deren Folge das Kind erblindete, dauernd erheblich entstellt wurde sowie in Lähmung und Geisteskrankheit verfiel, ist nicht zu beanstanden.

3. Zwar hat die Angeklagte die Tat nicht eingestanden; der Tatrichter ist bei solcher Sachlage grundsätzlich auch nicht zur Feststellung besonders entlastender Begleitumstände aufgrund lediglich denkgesetzlich nicht ausschließbarer Mutmaßungen gehalten. Hier lagen aber tatsächlich Anhaltspunkte dafür vor, daß Anlaß für die Tatbegehung der Angeklagten eine "tiefgreifende Bewußtseinsstörung im Sinne einer akuten Belastungssituation" (dazu UA S. 97 ff.) war. Der Senat hält sie insgesamt mit dem Generalbundesanwalt für so schwerwiegend, daß der Tatrichter sie unter Berücksichtigung des Zweifelsgrundsatzes letztlich nicht hätte verwerfen dürfen.

Es gab Hinweise von Helfern und Beobachtern, die - ungeachtet der vielen Aktivitäten des Ehemannes - auf eine latente Überforderung der Angeklagten mit der Versorgung von vier kleinen, teils überaus pflegebedürftigen Kindern hindeuteten (vgl. UA S. 100). Für ein sonstiges Tatmotiv der Angeklagten war nichts ersichtlich. Ihr Nachtatverhalten, indem sie alsbald Hilfe holte, sprach nicht allein gegen die Annahme eines Tötungsvorsatzes oder vorsätzlicher Beibringung der schweren Verletzungsfolgen (vgl. UA S. 82), sondern letztlich auch gegen die vom Landgericht als "näherliegend" erachtete Variante bewußter gezielter Aggression gegen den Säugling in unbeobachteter Situation (UA S. 101).

a) Das stellt den Schuldspruch nicht in Frage. Mit dem Generalbundesanwalt entnimmt der Senat der Gesamtschau des Urteils, insbesondere angesichts der Feststellungen über das sonstige Verhalten der Angeklagten und über ihr unmittelbares Nachtatverhalten, trotz entsprechender weitergehender Andeutungen des psychiatrischen Sachverständigen (UA S. 98), daß eine Einschränkung der Einsichtsfähigkeit oder eine Aufhebung der Steuerungsfähigkeit sicher auszuschließen war.

Näher in Betracht zu ziehen war allein die Möglichkeit eines affektiven Ausnahmezustandes der Angeklagten bei Begehung der Tat, in dessen Folge ihre Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert war.

b) Auch die Annahme der Voraussetzungen des § 21 StGB könnte allerdings - ungeachtet einer gegenteiligen Andeutung im Urteil (UA S. 112) - die Verhängung von Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld (§ 17 Abs. 2, § 105 Abs. 1 JGG) nicht in Frage stellen. Dies folgt aus der - wenn auch naheliegend in engstem zeitlichem Zusammenhang erfolgten - wiederholten Gewaltausübung und insbesondere aus den leichtfertig verursachten vielfältigen schwersten Verletzungsfolgen. Auch in dieser Beurteilung befindet sich der Senat in Übereinstimmung mit dem Antrag des Generalbundesanwalts.

c) Danach berührt der Rechtsfehler nur die Bemessung der Höhe der Jugendstrafe gemäß §§ 18, 105 JGG.

Im Rahmen der Erwägungen hierzu vermißt der Senat indes - anders als die Revision und ihr folgend der Generalbundesanwalt - eine ausdrückliche Erörterung der Frage, ob nach den Maßstäben des Erwachsenenstrafrechts ein minder schwerer Fall in Betracht zu ziehen gewesen wäre, nicht. Ein solcher konnte im Blick auf die Tatfolgen und die Begleitumstände der Tat ohne weiteres als ausgeschlossen angesehen werden. Selbst das Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB würde an dieser Beurteilung nichts ändern.

Die Erwägungen des Tatrichters zur Bestimmung der Höhe der Jugendstrafe lassen für sich auch sonst keinen Rechtsfehler erkennen. Die Wertung der Revision, die Höhe der Strafe begründe die Besorgnis, der Tatrichter habe der Angeklagten dabei weitere Verletzungen des Tatopfers und den Tod von dessen Zwillingsbruder zugerechnet, obgleich sie hierfür nicht schuldig gesprochen worden sei, ist nicht nachvollziehbar.

Der. Senat hat danach sogar erwogen, ob er, auch im Blick auf die strafmildernde Berücksichtigung des situativen Umfeldes der Angeklagten bei Begehung der Tat (UA S. 113 f.), eine Auswirkung einer etwa rechtsfehlerhaften Ablehnung des § 21 StGB auf die Bemessung der Jugendstrafe sicher ausschließen kann. Der Senat hat dies letztlich verneint; er folgt mithin im Ergebnis dem Antrag des Generalbundesanwalts. Diese Entscheidung erfolgt nicht zuletzt auch im Blick auf eingetretene erhebliche Verfahrensverzögerungen seit Erlaß des angefochtenen Urteils, die naheliegend für sich einer Aufrechterhaltung des Strafausspruchs entgegengestanden hätten.

Der neue Tatrichter wird bei Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen des § 21 StGB auszuschließen sind, erneut den psychiatrischen Sachverständigen zu befragen und insbesondere eine etwa veränderte Einlassung der Angeklagten zur Tatbegehung zu berücksichtigen haben. Bei der Bemessung der Jugendstrafe wird er neben der mildernden Berücksichtigung der genannten Verfahrensverzögerungen namentlich auf die weitere Verarbeitung der Tat durch die Angeklagte und auf ihre aktuelle persönliche und soziale Situation Bedacht zu nehmen haben.

Bearbeiter: Karsten Gaede