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Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 38/00, Beschluss v. 23.02.2000, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 5 StR 38/00 - Beschluß v. 23. Februar 2000 (LG Berlin)

Mord; Schuldunfähigkeit; Auffällige narzißtische und zwanghafte Persönlichkeitsstruktur; Krankhafte seelische Störung; Andere schwere seelische Abartigkeit; Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit; Nachtatverhalten

§ 20 StGB; § 211 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Einzelfall des Mordes bei fehlerhafter Prüfung möglicher Schuldunfähigkeit (Tötung des Vaters durch Sohn mit auffälliger narzißtischer und zwanghafter Persönlichkeitsstruktur)

2. Bei der Prüfung des § 20 StGB ist zwischen einer krankhaften seelischen Störung und einer - nicht pathologisch bedingten - schweren anderen seelischen Abartigkeit zu unterscheiden. Letztere setzt nicht voraus, daß Persönlichkeitsstörungen des Täters auf einer Krankheit beruhen oder Krankheitswert haben. Ob eine Persönlichkeitsstörung den Grad einer schweren anderen seelischen Abartigkeit erreicht, ist aufgrund einer umfassenden Gesamtbetrachtung zu beurteilen, in die neben dem Persönlichkeitsbild des Angeklagten und den Tatumständen auch sein Verhalten vor und nach der Tat einzubeziehen ist (vgl. BGHSt 34, 22, 24; BGHR StGB § 21 - seelische Abartigkeit 1, 3, 6, 9, 14)

3. Zur Berücksichtigung des Nachtatverhaltens im Rahmen des § 20 StGB (Sadistische Handlungen an der Leiche).

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 31. August 1999 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben, jedoch bleiben die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufrechterhalten; die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes an seinem Vater zu einer Jugendstrafe von acht Jahren verurteilt. Mit seiner Revision beanstandet der Angeklagte das Verfahren und rügt die Verletzung sachlichen Rechts. Die Sachrüge führt zur Aufhebung des Schuldspruchs in dem aus dem Beschlußtenor ersichtlichen Umfang, so daß es auf die mit gleicher Zielrichtung erhobenen Verfahrensrügen nicht ankommt.

Aufgrund rechtlich bedenklicher Erwägungen hält das sachverständig beratene Landgericht den zur Tatzeit 16 Jahre alten Angeklagten für uneingeschränkt schuldfähig. Eine "krankhafte psychische Anomalie" im Sinne des § 20 StGB liege nicht vor. Der überdurchschnittlich intelligente Angeklagte weise zwar eine auffällige narzißtische und zwanghafte Persönlichkeitsstruktur auf, die jedoch keinen Krankheitswert besitze. Zum Tatzeitpunkt habe er vor der Entscheidung gestanden, von dem als schwach und negativ bewerteten Vater selbst abgewertet, gekränkt und psychisch verletzt zu werden oder sich gegen diesen Vater zur Wehr zu setzen, um seine Selbstachtung und psychische Balance zu erhalten. Die Gefahr einer Identitätskrise habe aber die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten nicht erheblich gemindert oder aufgehoben, da er aufgrund seiner guten intellektuellen Ausstattung durchaus (andere) Entscheidungsmöglichkeiten gehabt hätte.

Diese Ausführungen begegnen schon deshalb rechtlichen Bedenken, weil sie nicht erkennen lassen, daß das Landgericht zwischen einer krankhaften seelischen Störung und einer - nicht pathologisch bedingten - schweren anderen seelischen Abartigkeit unterschieden hätte (vgl. BGHSt 34, 22, 24; BGHR StGB § 21 - seelische Abartigkeit 1, 3, 6, 9, 14). Letztere setzt nicht voraus, daß Persönlichkeitsstörungen des Täters auf einer Krankheit beruhen oder Krankheitswert haben. Ob eine Persönlichkeitsstörung den Grad einer schweren anderen seelischen Abartigkeit erreicht, ist aufgrund einer umfassenden Gesamtbetrachtung zu beurteilen, in die neben dem Persönlichkeitsbild des Angeklagten und den Tatumständen auch sein Verhalten vor und nach der Tat einzubeziehen ist (vgl. BGH aaO).

An einer solchen Gesamtschau fehlt es hier. Zumindest das Nachtatverhalten des Angeklagten hätte Anlaß zu weiterer Erörterung gegeben: Der Angeklagte war etwa vier Stunden nach der Tat zu dem von ihm mit einer Hantel im Schlaf erschlagenen Vater zurückgekehrt, hatte ihm Gabeln unter die Augäpfel gesteckt und eine Vielzahl weiterer sadistischer Handlungen an der Leiche vorgenommen. Ferner hatte er ihm einen Zettel in den Mund gesteckt, auf dem sinngemäß stand, der Vater habe sterben müssen, weil er seinen Sohn "genervt" habe. Später hatte der Angeklagte unter ständigem Lachen seinen Freunden von der Tötung des Vaters sowie den anschließenden "Mißhandlungen" berichtet und sie zu der Leiche geführt. Jedenfalls angesichts dieser Besonderheiten, mit denen sich das Landgericht nicht auseinandersetzt, reicht der Hinweis auf die intellektuellen Fähigkeiten des Angeklagten nicht aus, um Rückschlüsse darauf zu ziehen, inwieweit seine Steuerungsfähigkeit zur Tatzeit beeinflußt gewesen sein könnte.

Der Senat hebt das Urteil - mit Ausnahme der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen - in vollem Umfang auf, um dem neuen Tatrichter die Möglichkeit zu geben -, die Schuldfähigkeit des Angeklagten umfassend neu zu prüfen. Dabei wird es sich - schon angesichts, der Spannungen zwischen Verteidigung und bisheriger Sachverständiger - empfehlen, einen weiteren Sachverständigen mit der Begutachtung des Angeklagten zu beauftragen.

Bearbeiter: Karsten Gaede