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Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 326/00, Urteil v. 07.11.2000, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 5 StR 326/00 - Urteil v. 7. November 2000 (LG Berlin)

Suchtbedingte erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit; "Beschaffungskriminalität im weiteren Sinne"; BtM-Auswirkungen; Steuerhinterziehung

§ 21 StGB; § 370 AO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Abhängigkeit von Suchtmitteln begründet nur ausnahmsweise eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit (vgl. nur BGHR StGB § 21 BtM-Auswirkungen 12 m.w.N.). Eine solche Ausnahme wird unter anderem für den Fall angenommen, daß die Angst des Abhängigen vor Entzugserscheinungen diesen unter ständigen Druck setzt und ihn zu Straftaten treibt, die unmittelbar oder mittelbar der Beschaffung des Suchtmittels dienen sollte (BGHR StGB § 21 BtM-Auswirkungen 5).

2. Begeht ein Abhängiger Vermögensdelikte unterschiedlichen Charakters, die nach seinen Angaben mittelbar der Befriedigung seiner Sucht dienen, liegt die Annahme einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit des Täters jedenfalls bei langfristiger Planung zukünftigen Suchtmittelzugriffs (z.B. Steuerdelikte) eher fern. Jedenfalls bedarf es über die Einlassung eines Angeklagten hinaus weiterer aussagekräftiger Indizien dafür, daß die angestrebten Vermögensvorteile für den fortbestehenden Zugriff auf Suchtmittel aus der Sicht des Täters unverzichtbar erscheinen und daß sie ausschließlich für diesen Zweck eingesetzt werden.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 13. Dezember 1999 im gesamten Rechtsfolgenausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betruges in 224 Fällen, Urkundenfälschung in 47 Fällen, Steuerhinterziehung in drei Fällen, unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln und fahrlässigen Besitzes einer halbautomatischen Selbstladekurzwaffe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Für die Betrugs- und Urkundsdelikte hat es Einzelstrafen zwischen drei und neun Monaten Freiheitsstrafe, im übrigen Geldstrafen verhängt. Mit ihrer Revision, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, erstrebt die Staatsanwaltschaft die Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg, so daß es eines Eingehens auf die - jedenfalls unbegründeten - Verfahrensrügen nicht bedarf.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts litt der als Chirurg tätige Angeklagte nach einem schweren Unfall im Jahr 1988 unter stärksten Schmerzen, die mit einfachen Schmerzmitteln nicht zu lindern waren. Um seine Arbeitsfähigkeit - zunächst in einer Klinik, später in seiner unter hoher Verschuldung eingerichteten eigenen Praxis - zu erhalten, bekämpfte er die Schmerzen mit Morphium. Seine tägliche Dosis steigerte sich kontinuierlich bis auf siebzig Ampullen eines zur Bekämpfung stärkster Schmerzen bestimmten morphinhaltigen Schmerzmittels. Da er zur legalen Finanzierung seiner Sucht schließlich nicht mehr in der Lage war, beschaffte sich der Angeklagte die von ihm benötigten Ampullen von 1995 bis 1998 betrügerisch durch Praxisbedarfsrezepte. Daneben nahm er im Rahmen seiner Praxis weitere betrügerische Manipulationen zum Nachteil der Krankenkassen vor, die ihm zum Teil unmittelbare wirtschaftliche Vorteile brachten, zum überwiegenden Teil ohne unmittelbare eigene Bereicherung der Förderung des Ansehens der Praxis dienten. Weiterhin gab er in den Jahren 1994 bis 1996 unzutreffende Einkommensteuererklärungen ab, die zu Steuerverkürzungen führten.

Mit Recht beanstandet die Beschwerdeführerin, daß das Landgericht - mit Ausnahme des Waffendeliktes - bei allen Straftaten des Angeklagten von einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit ausgegangen ist.

Zur Begründung seiner Überzeugung hat das sachverständig beratene Landgericht ausgeführt, im Tatzeitraum sei die Kontrolle des Angeklagten über das eigene Verhalten von dem alles beherrschenden Gedanken an das Suchtmittel und die Angst vor dem Entzug in starkem Maße in den Hintergrund gedrängt worden. Die erhebliche Herabsetzung seines Hemmungsvermögens sei auch bei den Betrugshandlungen, die nicht unmittelbar der Beschaffung von Morphium gedient hätten, sowie den Urkunds- und Steuerdelikten zum Tragen gekommen, weil diese "Beschaffungskriminalität im weiteren Sinne" zum Gegenstand gehabt hätten. Die ungestörte Befriedigung seiner Sucht sei für den Angeklagten zumindest subjektiv an den Fortbestand seiner Praxis, die den in der Vergangenheit eingespielten ungehinderten Zugriff auf Morphium gewährleistete, gebunden gewesen. Die einer finanziellen Bereicherung dienenden Straftaten habe der Angeklagte, der keine erkennbaren Vermögenswerte angehäuft habe, in erster Linie begangen, um sich seine mit Schulden belastete und jedenfalls keinen Reichtum abwerfende Praxis als "Existenzgrundlage" auch unter Suchtgesichtspunkten zu erhalten.

Dem kann in dieser Allgemeinheit nicht gefolgt werden. Zwar begegnet die vom Landgericht im Anschluß an die auf zutreffender Tatsachengrundlage aufbauenden Ausführungen des Sachverständigen getroffene Wertung, der Angeklagte sei im Tatzeitraum in hohem Maße morphinabhängig gewesen, für sich genommen keinen Bedenken. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs begründet die Abhängigkeit von Suchtmitteln aber nur ausnahmsweise eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit (vgl. nur BGHR StGB § 21 BtM-Auswirkungen 12 m.w.N.). Eine solche Ausnahme wird unter anderem für den Fall angenommen, daß die Angst des Abhängigen vor Entzugserscheinungen diesen unter ständigen Druck setzt und ihn zu Straftaten treibt, die unmittelbar oder mittelbar der Beschaffung des Suchtmittels dienen sollte (BGHR StGB § 21 BtM-Auswirkungen 5).

Soweit das Landgericht diese Voraussetzungen im Tatkomplex II 1 der Urteilsgründe, der die unmittelbare Beschaffung des Morphiums mittels Praxisbedarfsrezepten betrifft, für gegeben erachtet hat, läßt dies Rechtsfehler nicht erkennen. Anders verhält es sich jedoch in den Tatkomplexen II 2-5. Begeht ein Abhängiger Vermögensdelikte unterschiedlichen Charakters, die nach seinen Angaben mittelbar der Befriedigung seiner Sucht dienen, liegt die Annahme einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit des Täters jedenfalls bei langfristiger Planung zukünftigen Suchtmittelzugriffs - wie sie hier insbesondere in den vom Angeklagten begangenen Steuerdelikten zum Ausdruck kommt - eher fern. Jedenfalls bedarf es über die Einlassung eines Angeklagten hinaus weiterer aussagekräftiger Indizien dafür, daß die angestrebten Vermögensvorteile für den fortbestehenden Zugriff auf Suchtmittel aus der Sicht des Täters unverzichtbar erscheinen und daß sie ausschließlich für diesen Zweck eingesetzt werden. Daran fehlt es hier. Das Landgericht hat weder im einzelnen dargelegt, daß die Arztpraxis des Angeklagten in ihrer finanziellen Existenz akut bedroht war, noch hat es Feststellungen dazu getroffen, daß der Angeklagte Vermögensvorteile, die ihm aus seinen Straftaten zugeflossen sind, unmittelbar für den Fortbestand seiner Arztpraxis eingesetzt hat. Der Umstand, daß der Angeklagte "keine erkennbaren Vermögenswerte angehäuft" hat, reicht hierfür nicht aus, da er die Möglichkeit offen läßt, daß der Angeklagte den Erlös seiner Straftaten benutzt hat, um einen insgesamt hohen Lebensstandard zu finanzieren.

Auch soweit die abgeurteilten Taten von dem aufgezeigten Rechtsfehler nicht unmittelbar betroffen sind, hebt der Senat das Urteil im gesamten Rechtsfolgenausspruch auf, da zwischen den Taten ein enger motivatorischer Zusammenhang besteht, der auch für die Festsetzung der Einzelstrafen im Verhältnis untereinander von Bedeutung sein kann. Der neue Tatrichter wird unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB in Bezug auf die einzelnen Fallgruppen die Persönlichkeit des Angeklagten, dessen schicksalhafte Suchtverstrickung und den Erfolg seiner Bemühungen, sich von der Sucht zu lösen, bei der Straffindung zu berücksichtigen haben. Schließlich wird auch der weitere Zeitablauf von Belang sein.

Externe Fundstellen: NStZ 2001, 85

Bearbeiter: Karsten Gaede