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Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 585/98, Beschluss v. 01.12.1998, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 4 StR 585/98 - Beschluss vom 1. Dezember 1998 (LG Neubrandenburg)

Verletzung der Öffentlichkeit des Verfahrens; Beweiskraft des Sitzungsprotokolls; Anforderungen an den Ausschluß der Öffentlichkeit; Teilaufhebung bei absolutem Revisionsgrund

§ 174 Abs. 1 Satz 3 GVG; § 274 StPO; § 338 Nr. 6 StPO

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Neubrandenburg vom 2. Juli 1998 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung und wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs, mit fahrlässiger Körperverletzung und mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt und eine isolierte Sperrfrist nach § 69 a StGB bestimmt. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Die Revision hat mit einer Verfahrensbeschwerde Erfolg.

1. Der Beschwerdeführer beanstandet zu Recht, daß die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt worden sind. Am ersten Hauptverhandlungstermin beantragte die Vertreterin der Nebenklägerin (der Geschädigten im Fall der Vergewaltigung) nach einer Unterbrechung der Sitzung, die Öffentlichkeit "für die Dauer der weiteren Vernehmung" der Geschädigten auszuschließen. Der Verteidiger und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft erhielten Gelegenheit, zu dem Antrag Stellung zu nehmen. Hieran anschließend ist im Protokoll vermerkt: "Auf Anordnung des Vorsitzenden verließen sodann die anwesenden Zuschauer den Sitzungssaal" (SA Bd. III Bl. 400). Damit ist - da das Protokoll weder lückenhaft noch widersprüchlich ist und deshalb auch keine andere Deutung zuläßt (vgl. BGHSt 17, 220, 222) - bewiesen (§ 274 Satz 1 StPO), daß der nach § 174 Abs. 1 Satz 2 GVG zwingend vorgeschriebene Beschluß des Gerichts nicht ergangen, jedenfalls aber nicht verkündet worden ist. Die Anordnung des Vorsitzenden vermag den Beschluß nicht zu ersetzen, ganz abgesehen davon, daß die Anordnung nicht einmal den Ausschlußgrund erkennen läßt und deshalb auch nicht den Mindestanforderungen an die nach § 174 Abs. 1 Satz 3 GVG vorgeschriebene Begründung (vgl. dazu Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 43. Aufl. GVG § 174 Rdn. 9 m.N.) genügt. Schon dieser Verfahrensmangel begründet den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 StPO.

Darüber hinaus macht die Revision zutreffend geltend, daß - wie die Sitzungsniederschrift ausweist - an diesem Verhandlungstag die Öffentlichkeit nicht wiederhergestellt worden ist. Gleichwohl wurden am selben Verhandlungstag außer der Nebenklägerin noch vier weitere Zeugen vernommen. Auch hierdurch hat das Landgericht den Grundsatz der Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung (§ 169 Satz 1 GVG) verletzt.

2. Der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 StPO führt zur Aufhebung des Urteils insgesamt. Anders könnte es sich verhalten, wenn der unter unzulässiger Beschränkung der Öffentlichkeit durchgeführte Verhandlungsteil ausschließlich den Vorwurf der Vergewaltigung zum Nachteil der Nebenklägerin betroffen hätte (zur Möglichkeit der Teilaufhebung im Fall eines absoluten Revisionsgrundes des § 338 Nr. 6 vgl. BGHR StPO § 338 Nr. 6 Ausschluß 3 m.w.N.). Hier waren aber - wie die Gründe des angefochtenen Urteils ausweisen (UA 29, 31) - die Bekundungen der "Zeugen aus der 'Eiche'" über die Alkoholisierung des Angeklagten auch bedeutsam für die Schuldfähigkeitsbeurteilung im Zusammenhang mit der Unfallfahrt. Zu den "Zeugen aus der 'Eiche'" gehörten von den unter Ausschluß der Öffentlichkeit vernommenen Zeugen jedenfalls die Nebenklägerin sowie Daniela H. (UA 10). Im übrigen wurde, wie die Revision ebenfalls zutreffend vorträgt, an diesem Verhandlungstag auch über den Verzicht auf die zum Unfallgeschehen geladenen Zeugen verhandelt und wurden diese Zeugen im allseitigen Einverständnis entlassen (SA Bd. III Bl. 401). Auch dieser Teil der Verhandlung durfte nicht ohne Wiederzulassung der Öffentlichkeit erfolgen. Schon deshalb erfaßt der absolute Revisionsgrund auch die Verurteilung wegen der Unfallfahrt und damit das Urteil insgesamt.

Externe Fundstellen: NStZ 1999, 371; StV 2000, 242

Bearbeiter: Ulf Buermeyer