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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 737/95, Urteil v. 07.03.1996, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 4 StR 737/95 - Urteil vom 7. März 1996 (LG Kaiserslautern)

BGHSt 42, 73; Beweisverwertungsverbot für die Aussage eines Arztes, nachdem der Patient die Entbindung von der Schweigepflicht widerrufen hat; Recht des Angeklagten auf ein prozeßordnungsgemäßes Verfahren (Justizförmigkeit; Rechtskreistheorie).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO; § 261 StPO

Leitsätze

1. Zur Unzulässigkeit der Verwertung der Aussage eines zeugnisverweigerungsberechtigten Arztes nach Widerruf der Entbindung von der Schweigepflicht. (BGHSt)

2. Die aus der "Rechtskreistheorie" beim Verstoß gegen andere Verfahrensnormen, namentlich des § 55 StPO, hergeleiteten Erwägungen für eine Einschränkung der prozessualen Befugnisse des Angeklagten sind auf den Regelungsbereich der §§ 53, 53a StPO nicht übertragbar (BGHSt 33, 148, 153, 154 m.w.N.). (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kaiserslautern vom 4. August 1995 im gesamten Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags und wegen Körperverletzung, beides begangen zum Nachteil seiner Ehefrau Ludmilla K., zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts beanstandet, hat mit einer auf die Verletzung der §§ 53 Abs. 1 Nr. 3, 261 StPO gestützten Verfahrensrüge zum Strafausspruch Erfolg; im übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I. Nachdem die Ehefrau des Angeklagten am 19. November 1994 nach einem tätlichen Angriff ihres Ehemannes schwerverletzt in ein Krankenhaus eingeliefert worden war, wurde sie dort am 28. November 1994 richterlich vernommen. Nach Belehrung gemäß § 52 Abs. 3 StPO machte sie Angaben zum Tatgeschehen vom 19. November 1994 und zu einer weiteren Auseinandersetzung mit ihrem Ehemann im September 1994, die ebenfalls eine stationäre Krankenhausbehandlung zur Folge gehabt hatte. Im Rahmen dieser mit Hilfe einer Dolmetscherin geführten Vernehmung befreite sie die behandelnden Ärzte von ihrer Schweigepflicht.

In der Folgezeit wandte sie sich in mehreren Schreiben an die Staatsanwaltschaft und das Gericht mit dem Wunsch, ihre Anzeige zurückzuziehen; sie wolle keine Bestrafung ihres Ehemannes. In einem Brief vom 1. Juni 1995, der sich an das Gericht richtet, heißt es unter anderem: "Warum kommt bei mir in Krankenhaus so früh ... Wenn sie alle kommt später ein, zwei Tage, dann ich gar nichts gesagt ... Aber ich will jetzt alles zurück".

In der Hauptverhandlung am 25. Juli 1995 machte die Zeugin von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht als Angehörige des Angeklagten Gebrauch; sie wurde anschließend entlassen. Am selben Tage wurde der Arzt Dr. D. vernommen, der Ludmilla K. am 19. November 1994 operiert hatte. Nachdem der sachverständige Zeuge bereits mit seiner Aussage zur Sache begonnen hatte, teilte ihm der Vorsitzende mit, daß die Geschädigte ihn von der Schweigepflicht entbunden habe. Danach machte der Arzt weitere Angaben.

Der Arzt Dr. F., der die Geschädigte am 10./11. September 1994 behandelt hatte, war am 20. Juli 1995 von der Berichterstatterin als beauftragter Richterin vernommen worden. Die Richterin hatte ihn zu Beginn seiner Vernehmung darauf hingewiesen, daß Ludmilla K. ihn von der Verschwiegenheitspflicht befreit habe. Das Protokoll über die Vernehmung des sachverständigen Zeugen Dr. F. wurde gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 4 StPO durch Verlesung in die Hauptverhandlung eingeführt, nachdem die Staatsanwaltschaft, der Verteidiger und der Angeklagte sich damit einverstanden erklärt hatten.

II. Die Aussagen der behandelnden Ärzte hätten zur Urteilsfindung nicht herangezogen werden dürfen, da sie unter Verstoß gegen § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO herbeigeführt worden sind.

1. Ein Patient, der die ihn behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht befreit hat, kann diese Erklärung jederzeit mit der Folge widerrufen, daß den Ärzten ein Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 53 Abs. 1 StPO - wieder - zusteht (RGSt 57, 63, 66; BGHSt 18, 146, 149). Von dieser Möglichkeit hat die Ehefrau des Angeklagten noch vor der Vernehmung der Ärzte Dr. D. und Dr. F. als sachverständige Zeugen Gebrauch gemacht. Da für Willenserklärungen im Zusammenhang mit der Entbindung von der Schweigepflicht nicht auf den mutmaßlichen, sondern nur auf den zweifelsfrei erklärten Willen des in seinen Geheimhaltungsinteressen Betroffenen abzustellen ist (h.M.; vgl. Dahs in Löwe/Rosenberg StPO 24. Aufl. § 53 Rdn. 63 m.w.N.), liegt ein wirksamer Widerruf allerdings nicht schon in dem von der Zeugin K. wiederholt geäußerten Wunsch, ihre Anzeige und die ihren Ehemann belastenden Angaben zurückziehen zu wollen. Mit Schreiben vom 1. Juni 1995 hat sie aber unter direkter Bezugnahme auf ihre Vernehmung vom 28. November 1994 im Krankenhaus alles zurückverlangt. Diese Äußerung stellt einen ausdrücklichen Widerruf sämtlicher von ihr bei jener Gelegenheit abgegebenen Erklärungen dar. Er umfaßt auch die im Rahmen der bezeichneten Vernehmung erfolgte Befreiung der Ärzte von der Schweigepflicht. Einer wörtlichen Bezugnahme hierauf bedurfte es - zumal in Anbetracht der begrenzten deutschen Sprachkenntnisse der Zeugin - nicht.

2. Die von der beauftragten Richterin beziehungsweise dem Vorsitzenden des erkennenden Gerichts in Verkennung des von der Zeugin K. erklärten Widerrufs erfolgten Hinweise an die sachverständigen Zeugen Dr. D. und Dr. F. auf eine (fort)bestehende Befreiung von der Schweigepflicht waren somit objektiv falsch. Sie haben das Recht des Angeklagten auf ein prozeßordnungsgemäßes Verfahren verletzt.

Steht einem Arzt nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO ein Zeugnisverweigerungsrecht zu, so obliegt es ausschließlich seiner freien Entscheidung, ob er sich nach Abwägung widerstreitender Interessen zur Aussage entschließt (BGHSt 18, 146, 147). Weder haben der Angeklagte oder ein in seinen Geheimhaltungsinteressen berührter Zeuge einen Anspruch darauf, daß der Arzt von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht (BGHSt 9, 59, 61), noch darf das Gericht die Entschließung des Zeugen durch Hinweise oder Empfehlungen beeinflussen (BGHSt 18, 146, 147; Lenckner in Arzt und Recht, 1966, S. 189, 194). Von Ausnahmen abgesehen, in denen es die gerichtliche Fürsorgepflicht gebieten kann, den Arzt über offensichtliche Irrtümer aufzuklären (vgl. Dahs aaO Rdn. 59), hat sich das Gericht jeder Einflußnahme auf die Entscheidung des Zeugnisverweigerungsberechtigten zu enthalten (Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 42. Aufl. § 53 Rdn. 6 m.w.N.). Vor allem darf eine Einmischung nicht durch falsche Hinweise erfolgen, die dem Zeugen die Wahlmöglichkeit zwischen Aussage und Aussageverweigerung von vornherein abschneiden. Dies aber ist hier geschehen.

Wie sich aus dem Fehlen einer Belehrungspflicht im Rahmen des § 53 StPO ergibt, hat der Gesetzgeber bei den dort aufgeführten Berufsgruppen die Kenntnis über Ausmaß und Grenzen des Zeugnisverweigerungsrechts als selbstverständlich vorausgesetzt (vgl. auch BGH VRS 41, 93, 94). Ein Arzt, der vom Richter darauf hingewiesen wird, sein Patient habe ihn von der Verschwiegenheitspflicht befreit, wird sich - ohne Inanspruchnahme eines Ermessensspielraums - entsprechend § 53 Abs. 2 StPO zur Aussage verpflichtet glauben. Dies gilt jedenfalls dann, wenn ihm - wie hier - Umstände, die gegen eine (noch) wirksame Entbindung von der Schweigepflicht sprechen könnten, nicht bekannt sind, sondern nur durch das Gericht vermittelt werden können. Die falsche Auskunft führt daher unmittelbar zu einer Beeinträchtigung der Entschließungsfreiheit des Arztes, auch ohne daß ihm das Recht zur Aussageverweigerung ausdrücklich abgesprochen wäre (h.L.; vgl. Alsberg/Nüse/Meyer 5. Aufl. S. 498; Dahs aaO Rdn. 67; Fezer JuS 1978, 472; Paulus in KMR § 53 Rdn. 57; Pelchen in KK StPO § 53 Rdn. 56; Welp in Gallas-Festschrift, 1973, S. 391, 408; a.A. RGSt 57, 63, 65; 71, 21).

Zwar muß der Angeklagte die Entscheidung des Arztes auszusagen grundsätzlich auch dann hinnehmen, wenn diese von einem in den Verantwortungsbereich des Arztes fallenden Irrtum beeinflußt ist. Dies gilt aber entgegen der Auffassung des Reichsgerichts (RGSt 57, 63, 65) nicht, wenn der Irrtum - wenn auch unbeabsichtigt - durch das Gericht hervorgerufen ist. Nicht die aufgrund einer falschen Vorstellung getroffene Entschließung des Arztes als solche, sondern die unzulässige Einflußnahme des Gerichts verletzt die Rechte des Angeklagten (vgl. auch Peters Gutachten für den 46. Deutschen Juristentag, 1966, S. 127). Dem steht nicht entgegen, daß der Angeklagte nicht zu dem durch das Zeugnisverweigerungsrecht unmittelbar geschützten Personenkreis gehört. Die aus der "Rechtskreistheorie" beim Verstoß gegen andere Verfahrensnormen, namentlich des § 55 StPO, hergeleiteten Erwägungen für eine Einschränkung der prozessualen Befugnisse des Angeklagten sind auf den Regelungsbereich der §§ 53, 53a StPO nicht übertragbar (BGHSt 33, 148, 153, 154 m.w.N.).

3. Die Rüge, die Aussage des sachverständigen Zeugen Dr. D. hätte zur Urteilsfindung nicht herangezogen werden dürfen, kann der Angeklagte erheben, obwohl weder er selbst noch sein Verteidiger gemäß § 238 Abs. 2 StPO einen Gerichtsbeschluß über ein dem Zeugen zustehendes Aussageverweigerungsrecht herbeigeführt haben.

Für Sachleitungsanordnungen, zu denen auch Hinweise und Belehrungen gehören (Gollwitzer in Löwe/Rosenberg aaO § 238 Rdn. 17), sind dem Vorsitzenden vielfach Freiräume in der Gestaltung eingeräumt; dem entspricht es, daß der Angeklagte, der sich durch solche Anordnungen in seinen prozessualen Rechten beeinträchtigt fühlt, hierüber zunächst gemäß § 238 Abs. 2 StPO die Entscheidung des erkennenden Gerichts herbeiführen kann und zum Erhalt der Rügebefugnis in der Revision auch herbeiführen muß. Hat sich der Vorsitzende aber über Verfahrensvorschriften hinweggesetzt, die keinerlei Entscheidungsspielraum zulassen, so scheidet eine Präklusion der Revisionsrüge bei Verzicht auf den in § 238 Abs. 2 StPO vorgesehenen Zwischenrechtsbehelf aus. So hat der Bundesgerichtshof die Revision auch ohne vorherige Anrufung des Gerichts durchgreifen lassen, wenn der Vorsitzende eine von Amts wegen gebotene unverzichtbare Maßnahme unterlassen hat (BGHSt 3, 368; 38, 260, 261 m.w.N.) oder wenn das Gericht die Aussage eines Zeugen verwertet hat, den der Vorsitzende unter Verstoß gegen ein absolutes Vereidigungsverbot vereidigt hat (BGHSt 20, 98, 99).

Für den Eingriff in die Entschließungsfreiheit eines Zeugen, dem der Gesetzgeber zu seinem Schutz ein Zeugnisverweigerungsrecht eingeräumt hat, gelten die für die genannten Fälle entwickelten Grundsätze in gleicher Weise. Der falsche Hinweis auf eine angeblich fortbestehende Entbindung von der Schweigepflicht gegenüber einem nach § 53 StPO zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen führt deshalb zu einem Beweisverwertungsverbot (vgl. auch BGHR StPO § 52 Abs. 3 Satz 1 Belehrung 3), dessen Nichtbeachtung bei der Urteilsfindung auch ohne entsprechenden Gerichtsbeschluß gerügt werden kann (ebenso Dahs aaO Rdn. 67; Paulus in KMR § 53 Rdn. 57; Peters aaO; a.A. RGSt 71, 21, 23; Pelchen aaO Rdn. 56).

4. Ebensowenig steht das von dem Angeklagten und seinem Verteidiger gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 4 StPO erklärte Einverständnis mit der Verlesung der Niederschrift über die richterliche Vernehmung des Zeugen Dr. F. der Rüge einer unzulässigen Verwertung dieser Aussage entgegen. Es hatte nur die Wirkung, das Fehlen der Voraussetzungen des § 251 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 StPO auszugleichen. Verfahrensmängel, die - wie hier - keine zur Disposition des Angeklagten stehenden Regelungen betreffen und zu einem Beweisverwertungsverbot geführt haben, können durch das Einverständnis der Prozeßbeteiligten nicht "geheilt" werden (Gollwitzer in Löwe/Rosenberg aaO § 251 Rdn. 49; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 251 Rdn. 10).

5. Auf den Verfahrensverstößen kann das Urteil allerdings nur in den Strafaussprüchen beruhen. Das Landgericht hat die die Schuldsprüche tragenden Feststellungen aufgrund der Einlassung des Angeklagten, insbesondere aber der in zulässiger Weise in die Hauptverhandlung eingeführten Angaben der Geschädigten bei ihrer richterlichen Vernehmung getroffen. So hat es für die Annahme eines versuchten Tötungsdelikts entscheidend auf die von Ludmilla K. wiedergegebene Äußerung des Angeklagten gegenüber dem Sohn des Ehepaares, "Deine Mama ist tot, ich habe mein Werk getan", abgestellt. Die ärztlichen Befunde werden insoweit allenfalls zur zusätzlichen Stützung der vom Schwurgericht ohnehin nicht in Zweifel gezogenen Glaubwürdigkeit der Zeugin herangezogen. Demgegenüber liegt es nach den Urteilsgründen nahe, daß den Feststellungen der Tatfolgen die Angaben der behandelnden Ärzte zugrunde liegen. Art und Umfang der dem Opfer zugefügten Verletzungen hat das Landgericht ausdrücklich straferschwerend gewertet.

Die Möglichkeit nachteiliger Auswirkungen des festgestellten Verfahrensfehlers auf die Strafzumessung wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Zeuge Dr. D. schon vor der falschen Belehrung mit seiner Aussage begonnen hatte. Aus Letzterem kann nicht geschlossen werden, er hätte auch nach Hinweis auf einen inzwischen erfolgten Widerruf der Entbindung von der Schweigepflicht - unter Verstoß gegen § 203 StGB - Angaben zu den Verletzungen der Ludmilla K. gemacht. Für die nach dem falschen Hinweis erfolgte Teilaussage war der Verfahrensverstoß ursächlich. Zur Urteilsfindung hat das Gericht ersichtlich auch diesen Teil der Aussage des Zeugen Dr. D. herangezogen.

Externe Fundstellen: BGHSt 42, 73; NJW 1996, 2435; NStZ 1996, 348; StV 1996, 355

Bearbeiter: Rocco Beck