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Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 68/94, Beschluss v. 08.11.1994, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 4 StR 68/94 - Beschluss vom 8. November 1994 (OLG Jena)

BGHSt 40, 325; Entschädigung bei Strafrechtsrehabilitierung (Bemessung der zu Unrecht erlittenen Freiheitsentziehung bei einer Teilaufhebung).

§ 1 Abs. 1 StrRehaG; § 1 Abs. 4 StrRehaG; § 12 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 StrRehaG

Leitsatz des BGH

Wird eine Freiheitsstrafe, die der Antragsteller nur zum Teil verbüßt hat, im Wege der Rehabilitierung teilweise aufgehoben (§ 1 Abs. 1 und 4 StrRehaG), so bestimmt sich die Dauer der zu Unrecht erlittenen Freiheitsentziehung (§ 12 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 StrRehaG) nach der Differenz zwischen dem verbüßten und dem nicht aufgehobenen, mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung vereinbaren Teil der erkannten Strafe. (BGHSt)

Entscheidungstenor

Wird eine Freiheitsstrafe, die der Antragsteller nur zum Teil verbüßt hat, im Wege der Rehabilitierung teilweise aufgehoben (§ 1 Abs. 1 und 4 StrRehaG), so bestimmt sich die Dauer der zu Unrecht erlittenen Freiheitsentziehung (§ 12 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 StrRehaG) nach der Differenz zwischen dem verbüßten und dem nicht aufgehobenen, mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung vereinbaren Teil der erkannten Strafe.

Gründe

I.

1. Der Betroffene ist durch Urteil des Kreisgerichts Erfurt-Mitte vom 6. August 1973 wegen mehrfacher Verkürzung von Steuern und Abgaben gemäß §§ 176 Abs. 1 Ziff. 1 und 2, 63 Abs. 2, 64 Abs. 1 und 3, 1 Abs. 3 StGB-DDR zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt worden. Nach § 39 Abs. 5 StGB-DDR wurde festgelegt, daß der Strafvollzug in Abweichung von den allgemeinen Vollzugsbedingungen in einer anderen (hier leichteren) Vollzugsart durchzuführen war. Zusätzlich wurde gemäß § 49 Abs. 1 StGB-DDR eine Geldstrafe verhängt. Für die Dauer von fünf Jahren wurde dem Antragsteller die Erlaubnis zur Führung eines Handwerksbetriebes entzogen. Ferner wurde angeordnet, die rechtskräftige Verurteilung für die Dauer von vierzehn Tagen in der Kreisgeschäftsstelle der Handwerkskammer durch Aushang öffentlich bekanntzumachen.

Der Betroffene befand sich in dieser Sache vom 3. August 1973 bis zum 29. April 1975 in Untersuchungs- und Strafhaft. Die Vollstreckung der Reststrafe (sieben Monate) wurde zur Bewährung ausgesetzt. Die verhängte Geldstrafe hat der Betroffene voll bezahlt.

Nach den Feststellungen des vorgenannten Urteils hatte der Betroffene als Inhaber eines privaten Tischlereibetriebes in der Zeit von 1968 bis 1972 Steuern und Abgaben (Gewinnsteuer, Umsatzsteuer, Lohnsteuer, Lohnsummensteuer und Verbrauchsabgaben) in Höhe von insgesamt 396.918,02 Mark verkürzt, indem er Aufträge in nicht genehmigter "Feierabendarbeit" von seinen Arbeitern ausführen ließ, das hierfür vereinnahmte Entgelt auf private Konten leitete und bei seinen Steuererklärungen verschwieg.

2. Den Antrag des Betroffenen, das Urteil des Kreisgerichts Erfurt-Mitte für rechtsstaatswidrig zu erklären und aufzuheben, hat das Bezirksgericht Erfurt durch Beschluß vom 10. März 1993 als unbegründet zurückgewiesen.

3. Auf die hiergegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen beabsichtigt das Oberlandesgericht Jena, das Urteil des Kreisgerichts Erfurt-Mitte wegen groben Mißverhältnisses der angeordneten Rechtsfolgen zu der zugrunde liegenden Tat für rechtsstaatswidrig zu erklären und im Strafausspruch aufzuheben, soweit auf eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr und zwei Monaten (die Hälfte der festgesetzten Freiheitsstrafe) erkannt worden ist (§ 1 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 StrRehaG). Die Dauer der zu Unrecht erlittenen Freiheitsentziehung (§ 12 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 StrRehaG) möchte es auf die Hälfte der von dem Betroffenen vom 3. August 1973 bis 29. April 1975 verbüßten Strafe festsetzen.

An der letztgenannten Entscheidung sieht es sich durch einen Beschluß des Oberlandesgerichts Naumburg vom 2. März 1993 - 2 Ws (RH) 16/93 - (MDR 1993, 682) gehindert. Danach soll sich bei Teilaufhebung einer teilweise verbüßten Strafe (§ 1 Abs. 1 und 4 StrRehaG) die Dauer der zu Unrecht erlittenen Freiheitsentziehung nach der Differenz zwischen dem verbüßten und dem nicht aufgehobenen Teil der Strafe bemessen. Während das Oberlandesgericht Naumburg seine Auffassung damit begründet, es könne nicht davon ausgegangen werden, daß bei einer von vornherein rechtsstaatsgemäßen Verurteilung eine Strafaussetzung zur Bewährung gewährt und damit nur ein Teil der Strafe verbüßt worden wäre, hält das Oberlandesgericht Jena diesen Gesichtspunkt für bedeutungslos. Entscheidend sei vielmehr, daß der tatsächlich erlittene Freiheitsentzug nicht primär auf die zu Recht erfolgte Verurteilung erfolgt sei, sondern anteilig stets auch zugleich die zu Unrecht erkannte Strafe mitumfaßt habe.

Das Oberlandesgericht Jena hat deshalb die Sache gemäß § 13 Abs. 4 StrRehaG in Verbindung mit § 121 Abs. 2 GVG dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung über folgende Rechtsfrage vorgelegt:

"Ist, wenn eine im Ausgangsverfahren von einem Gericht gemäß § 1 Abs. 1 StrRehaG verhängte Strafe nur teilweise verbüßt ist, diese Strafe aber im Wege der Rehabilitierung teilweise vermindert wird, die Dauer der zu Unrecht erlittenen Freiheitsentziehung in Höhe der Differenz zwischen dem tatsächlich verbüßten Zeitraum und dem nicht aufgehobenen Teil der Verurteilung festzustellen oder ist die zu Unrecht erlittene Freiheitsentziehung derjenige Teil der verbüßten Strafe, der dem Verhältnis der insgesamt gegen den Betroffenen verhängten Strafe zu dem Umfang der Urteilsaufhebung entspricht?"

Der Generalbundesanwalt hat beantragt, wie folgt zu erkennen:

"Wird eine Verurteilung, deren Freiheitsstrafe der Antragsteller nur zum Teil verbüßt hat, im Wege der Rehabilitierung teilweise aufgehoben (§ 1 Abs. 1 und Abs. 4 StrRehaG), ist die Dauer der zu Unrecht erlittenen Freiheitsentziehung (§ 12 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 StrRehaG) nach dem Verhältnis der aufgehobenen Freiheitsstrafe zu der insgesamt verhängten Freiheitsstrafe zu berechnen."

II.

1. Die Vorlegung ist zulässig.

Wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 14. Juni 1994 zutreffend ausgeführt hat, steht ihr nicht entgegen, daß in dem vom Oberlandesgericht Naumburg entschiedenen Fall die Teilaufhebung sowohl den Schuldspruch als auch den Rechtsfolgenausspruch betraf, während das Oberlandesgericht Jena lediglich eine Teilaufhebung im Strafausspruch beabsichtigt; denn die nach § 12 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 StrRehaG zu treffende Entscheidung über die Dauer der zu Unrecht erlittenen Freiheitsentziehung stellt sich für beide Fallgestaltungen in gleicher Weise. Die abweichenden Rechtsauffassungen der Oberlandesgerichte sind daher trotz unterschiedlicher Sachverhalte für die Entscheidung des konkreten Falles erheblich.

2. Der Bundesgerichtshof teilt im Ergebnis die vom Oberlandesgericht Naumburg vertretene Rechtsauffassung.

Zum notwendigen Inhalt der zu treffenden Rehabilitierungsregelung gehört gemäß § 12 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 StrRehaG die Bestimmung der Dauer der zu Unrecht erlittenen Freiheitsentziehung. Damit soll den für Entscheidungen über soziale Ausgleichsleistungen zuständigen Stellen eine klare und verbindliche Berechnungsgrundlage gegeben werden (Begründung zu § 12 Regierungsentwurf, sub. 5, BT-Drucks. 12/1608 S. 22).

Bei der Teilaufhebung einer Entscheidung gemäß § 1 Abs. 4 StrRehaG läßt sich der rechtsstaatswidrige Teil der Freiheitsentziehung zweifelsfrei bestimmen, sofern die verhängte Strafe vollständig vollstreckt ist; er deckt sich mit der aufgehobenen Freiheitsstrafe. Ist dagegen nur ein Teil der teilweise aufgehobenen Strafe vollstreckt worden, so bedarf es der Festlegung eines Maßstabes, nachdem sich bestimmt, wieviel der vollstreckten Strafe zu Unrecht verbüßt worden ist. In Betracht kommt entweder eine Berechnung entsprechend der Differenz zwischen vollstreckter Strafe einerseits und rechtsstaatlich vertretbarer, nicht aufgehobener Strafe andererseits oder eine quotenmäßige Berechnung entsprechend dem Verhältnis von erkannter und aufgehobener Strafe. Da das Gesetz über die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet (- Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz - StrRehaG) hierüber keine ausdrückliche Regelung enthält, ist für die Auslegung von § 12 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 StrRehaG auf den Gesetzeszweck unter Berücksichtigung der Rechtsgedanken des im weiteren Sinne vergleichbaren Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG) abzustellen.

Das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz bezweckt vorrangig, "den durch den Entzug ihrer Freiheit am schwersten Betroffenen ... einen gewissen Ausgleich für das erlittene Unrecht anzubieten" (Begründung des Gesetzentwurfes aaO S. 13). Unrecht in Form von Freiheitsentzug ist den Betroffenen jedoch nur insoweit zugefügt worden, als der tatsächlich erfolgte Freiheitsentzug nicht durch eine rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechende gerichtliche Entscheidung oder sonstige strafrechtliche Maßnahme im Sinne des § 1 Abs. 5 StrRehaG abgedeckt ist. Insoweit unterscheidet sich die Situation eines von der DDR-Justiz zu Unrecht Verfolgten nicht grundlegend von der Lage dessen, der in der Bundesrepublik Deutschland Freiheitsentzug aufgrund von Strafverfolgungsmaßnahmen erlitten hat, die nicht zu einer Verurteilung geführt haben, oder aufgrund eines rechtskräftigen Urteils, dessen Freiheitsstrafe später fortgefallen oder gemildert worden ist. Letzterem steht ein Entschädigungsanspruch nach den §§ 1 bis 4 StrEG nur in dem Umfang zu, in dem der erlittene Freiheitsentzug die letztlich bestandskräftigen Rechtsfolgen überschreitet.

Keine Bedeutung wird mit dieser Regelung des Gesetzes über die Entschädigung von Strafverfolgungsmaßnahmen dem Umstand beigemessen, daß der Vollzug von Untersuchungshaft ebenso wie die Vollstreckung von Strafhaft - auch bei mehreren in einem Strafverfahren zusammengefaßten Einzeltaten - stets einheitlich in bezug auf sämtliche dem Beschuldigten zur Last gelegten Taten und in bezug auf den gesamten Schuld- und Strafausspruch erfolgen. Eine quotenmäßig berechnete Entschädigung findet nicht statt. Zwar unterscheiden sich die jeweiligen Entschädigungsansprüche in ihrem Entstehungsgrund insofern, als das Gesetz über die Entschädigung von Strafverfolgungsmaßnahmen - dem grundgesetzlich garantierten Rechtsstaatsprinzip entsprechend - eine Entschädigung ohne den Nachweis formellen oder materiellen Unrechts schon dann gewährt, wenn der Beschuldigte eine staatliche Strafverfolgungsmaßnahme nicht erwiesenermaßen zu Recht erlitten hat, während das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz an nachweisliches Unrecht eines anderen Justizsystems anknüpft. Ein unterschiedlicher Maßstab für die Berechnung rechtsstaatswidriger Haftzeiten läßt sich nach Auffassung des Senats daraus jedoch nicht herleiten.

Gegen den Grundsatz, daß nur der eine rechtsstaatlich unbedenkliche Strafe übersteigende Teil der Vollstreckung eine zu Unrecht vollzogene Freiheitsentziehung darstellt, spricht schließlich auch nicht die vom Generalbundesanwalt angestellte Überlegung, wonach die rechtsstaatsgemäße Strafe in der Regel nicht vollständig vollstreckt worden wäre, wenn die gesamte Strafe nicht voll verbüßt werden mußte.

Ist die nur teilweise Verbüßung der "Gesamtstrafe" auf eine - in der DDR vergleichsweise häufige - Amnestie zurückzuführen, scheidet ein solcher Schluß von vornherein aus; beruht sie hingegen auf einer Strafaussetzung zur Bewährung, so mag der Betroffene im Einzelfall benachteiligt sein, wenn für den rechtsstaatsgemäßen Teil der Strafe eine Strafaussetzung zur Bewährung ebenfalls oder sogar erst recht in Betracht gekommen wäre. Dieser Nachteil, der im übrigen nur an Vermutungen anknüpfen kann, ist jedoch nicht mit einem zu Unrecht erlittenen Freiheitsentzug gleichzusetzen. Anderenfalls müßte in Fällen, in denen die Vollstreckung der gesamten rechtmäßig erkannten Strafe mutmaßlich zur Bewährung ausgesetzt worden wäre, die vollstreckte Strafe nicht nur anteilig entsprechend dem Verhältnis von rechtsstaatsgemäßem und rechtsstaatswidrigem Anteil an der "Gesamtstrafe", sondern insgesamt als "zu Unrecht erlitten" bewertet werden. Dies wird aber bislang weder von den mit Rehabilitierung befaßten Gerichten noch von der einschlägigen Kommentarliteratur vertreten.

Soweit die vorzeitige Entlassung aus der Strafhaft darauf zurückzuführen ist, daß wegen besonders schwerer Haftbedingungen, etwa in einer Vollzugseinrichtung mit Schwerstarbeit oder gefährlicher Arbeit, die Strafzeitberechnung nach dem Maßstab 1 : 3 erfolgte (1 Tag erschwerter Vollzug = 3 Tage Normalvollzug), ist dem bei der Berechnung der rechtmäßig verbüßten Strafe Rechnung zu tragen. Diese wäre danach schon nach einem Drittel der regulären Strafzeit als vollständig verbüßt anzusehen, die weitere Haftzeit gemäß § 12 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 StrRehaG als zu Unrecht erlitten festzustellen. Die von dem Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht Jena für solche Fälle aufgezeigten Härten können dadurch vermieden werden.

Externe Fundstellen: BGHSt 40, 325; NJW 1995, 342; NStZ 1995, 139; NStZ 1995, 236

Bearbeiter: Karsten Gaede