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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 150/94, Urteil v. 21.06.1994, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 4 StR 150/94 - Urteil vom 21. Juni 1994 (LG Magdeburg)

BGHSt 40, 198; Vollrausch (Merkmale und Voraussetzungen der Annahme eines pathologischen Rausches).

§ 20 StGB; § 63 StGB; § 323a StGB

Leitsatz

Zum pathologischen Rausch. (BGHSt)

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 23. August 1993 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten freigesprochen und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Die vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft, die eine Verurteilung des Angeklagten wegen Vollrausches erstrebt, hat bereits mit der Sachrüge Erfolg, so daß es eines Eingehens auf die Verfahrensrüge nicht bedarf.

I. 1. Nach den Feststellungen trank der alkoholabhängige Angeklagte am Tattag ab Mittag Bier, Wein und Schnaps in erheblichem Maße. Gegen Mitternacht kam es zwischen ihm und seinem Zechgenossen H. in der Wohnung des Angeklagten zu einem Streit, in dessen Verlauf der Angeklagte seinem Opfer mit einem Hammer und einer Holzleiste auf Kopf und Körper schlug. Nachdem H. bewußtlos geworden war, brachte ihm der Angeklagte mit einem Sägeblatt Verletzungen im Hals- und Genitalbereich bei und stieß ihm ein metallenes Tischbein zweimal mit Wucht in den Mund. Anschließend ließ er den Sterbenden in der Wohnung zurück, zerschlug gegen 0.45 Uhr von der Straße aus die Fenster seiner Wohnung und griff mit einem Schaufelstiel einen Passanten an, dem er zurief, er solle seine Tochter in Ruhe lassen. H. verstarb wenig später an den Folgen der schweren Verletzungen.

Der Angeklagte wurde unmittelbar im Anschluß an seinen Angriff auf den Passanten festgenommen und noch in den frühen Morgenstunden verhört. Er berief sich auf einen gegen 22 Uhr des Vortages einsetzenden, bis zu seiner Festnahme fortdauernden Erinnerungsverlust. Eine ihm um 2.13 Uhr entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 2,25 Promille.

2. Nach der Überzeugung des sachverständig beratenen Landgerichts war die Schuldfähigkeit des Angeklagten zum Zeitpunkt der Tötung seines Zechgenossen und des tätlichen Angriffs gegen den Passanten infolge eines pathologischen Rausches aufgehoben. Da ein solcher pathologischer Zustand erstmals bei dem Angeklagten eingetreten sei, könne ihm auch wegen des Sichberauschens kein Schuldvorwurf im Sinne des § 323a StGB gemacht werden.

II. Diese Beurteilung der Schuldfähigkeit begegnet rechtlichen Bedenken.

1. Ein pathologischer Rausch tritt nach der im psychiatrischen Schrifttum einhellig vertretenen Auffassung äußerst selten auf (vgl. Arbab-Zadeh/Prokop/Reimann, Rechtsmedizin, 1977, S. 378; Langelüddeke/Bresser, Gerichtliche Psychiatrie 4. Aufl. S. 71; Rasch, Forensische Psychiatrie, 1986, S. 197; Ponsold, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin 3. Aufl. S. 257; Finzen, Harrer/Frank in Venzlaff, Psychiatrische Begutachtung, 1986, S. 269, 419). Seine Abgrenzung als ein durch Alkohol ausgelöster "Dämmerzustand", der mit einem Alkoholrausch qualitativ nicht vergleichbar ist, von einem sogenannten abnormen oder komplizierten Rausch, bei dem lediglich eine quantitative Steigerung der Alkoholwirkung eintritt, die sich in einer außergewöhnlich starken Ausprägung einzelner rauschtypischer Merkmale, wie Streitsucht oder Gereiztheit, äußert, ist schwierig (vgl. Bresser, Forensia 1984, 45, 52 ff; Langelüddeke/Bresser aaO S. 70). Die Annahme eines pathologischen Rausches, der zwar wie der normale oder abnorme Alkoholrausch unter die von § 323a StGB erfaßten Rauschzustände fällt (vgl. BGHSt 1, 196), vom Betroffenen aber bei erstmaligem Auftreten in der Regel nicht vorhersehbar und deshalb schuldlos herbeigeführt ist, bedarf daher einer eingehenden Begründung; dabei sind die in der forensischen Psychiatrie im Zusammenhang mit dieser seltenen psychopathologischen Erscheinungsform erörterten typischen Ausgestaltungsmerkmale zu berücksichtigen.

Diesen Anforderungen werden die Ausführungen des Landgerichts nicht gerecht.

2. Ein pathologischer Rausch entsteht fast immer aufgrund einer Hirnschädigung oder schwerwiegenden körperlichen Erkrankung, die eine Alkoholunverträglichkeit zur Folge haben. In der Regel tritt er bei einer niedrigen Alkoholkonzentration auf. Sein Ablauf ist gekennzeichnet durch rasches, gleichzeitiges Einsetzen von vitaler Erregung, Bewußtseinsstörung und einem massiven Affektausbruch, der durch Angst und Wut gekennzeichnet ist. Gelegentlich kommen auch Wahnvorstellungen vor. Die Erlebniszusammenhänge haben keine durchschaubaren Sinnbezüge mehr. Körperliche Anzeichen, wie sie bei einem Alkoholrausch üblicherweise zu beobachten sind - Torkeln, Taumeln oder verwaschene Sprache - fehlen. Dem laienhaften Betrachter vermittelt der Berauschte eher den Eindruck eines Geisteskranken als den eines Volltrunkenen. Das anfallsartige Geschehen endet in der Regel in einem narkoseartigen Schlaf, aus dem der Betroffene fast immer ohne Erinnerung erwacht (zu den genannten Verlaufskriterien vgl. Arbab-Zadeh/Prokop/Reimann aaO; Bresser aaO S. 52, 53; Langelüddeke/Bresser aaO S. 70, 71; Mallach/Hartmann/ Schmidt, Alkoholwirkung beim Menschen, 1987, S. 78; Ponsold aaO S. 258).

3. Ihre Überzeugung, der Angeklagte habe in einem pathologischen Rauschzustand gehandelt, stützt die Schwurgerichtskammer im Anschluß an die Ausführungen des Sachverständigen im wesentlichen auf "das absolut ungewöhnliche Verhalten des Angeklagten sowohl bei der Tötung des Andreas H. als auch sein anschließendes, völlig unmotiviertes Verhalten direkt nach der Tat" sowie auf die vom Angeklagten behauptete Gedächtnislücke.

Daß das Verhalten des Angeklagten gegenüber seinem Zechgenossen - wie für den pathologischen Rausch bezeichnend - jeden Realitätsbezug vermissen läßt, liegt jedoch keineswegs auf der Hand. Vielmehr geht die Strafkammer selbst davon aus, daß der Angeklagte die brutalen Gewalthandlungen im Verlauf eines Streits mit seinem Opfer begangen hat. Angesichts der Persönlichkeitsstruktur des Angeklagten, die durch eine Aggressionshemmung im nüchternen Zustand gekennzeichnet ist, und seiner erheblichen Alkoholisierung zur Tatzeit hätte es einer Auseinandersetzung mit der naheliegenden Möglichkeit bedurft, daß das Verhalten des Angeklagten lediglich Ausdruck einer extrem stark ausgeprägten alkoholbedingten Enthemmung, nicht aber eines pathologischen Ausnahmezustandes war. Insoweit mangelt es auch an Angaben darüber, wie sich der Angeklagte bislang nach dem Genuß von Alkohol verhalten hat.

Ob, wie das Schwurgericht meint, dem Streit des Angeklagten mit dem Passanten jeglicher Sinnbezug fehlt, kann nur unter Berücksichtigung der persönlichen Beziehungen jenes Passanten, der den Angeklagten zumindest "vom Biertrinken her" kannte (UA 12), beurteilt werden. Hierzu enthalten die Urteilsgründe jedoch keine Feststellungen.

Soweit das Landgericht auf die von dem Angeklagten behauptete Erinnerungslücke abstellt, wird nicht deutlich, ob es dabei die Möglichkeit einer Schutzbehauptung oder eines Verdrängungsprozesses in Betracht gezogen hat. Hierfür hätte schon deshalb Anlaß bestanden, weil die Erinnerungslücke nach der Darstellung des Angeklagten nicht auf das affektive Geschehen begrenzt sein, sondern schon etwa zwei Stunden früher eingesetzt haben soll, mithin auch Ereignisse erfassen würde, die mit den Aggressionshandlungen in keinem unmittelbaren Zusammenhang stehen, wohl aber Rückschlüsse auf die Täterschaft des Angeklagten ermöglichen.

Auch lassen die Urteilsgründe nicht erkennen, daß das Gericht das Fehlen typischer, wenn auch nicht in jedem Einzelfall auftretender Begleitumstände des pathologischen Rausches in die Beurteilung des Geisteszustandes des Angeklagten einbezogen hat. So setzt es sich nicht damit auseinander, daß der Angeklagte entgegen den beim pathologischen Rausch häufigen Befunden gerade keine körperliche Erkrankung oder hirnorganischen Schäden aufweist (UA 22), daß er auf einen Augenzeugen den Eindruck gemacht hat, er sei "völlig betrunken" (UA 13), nicht aber geistig verwirrt gewesen. Soweit ersichtlich, ist der Angeklagte im Anschluß an seine unmittelbar nach den Taten erfolgte Festnahme auch nicht in einen den pathologischen Ausnahmezustand üblicherweise beendenden Tiefschlaf gefallen.

Zwar schließt nach den in der psychiatrischen Literatur beschriebenen Unsicherheiten bei der Diagnosestellung das Fehlen eines häufig anzutreffenden Begleitumstandes einen pathologischen Rausch nicht zwingend aus. Weicht das Gesamtbild jedoch - wie hier - in mehrfacher Hinsicht von der typischen Erscheinungsform des pathologischen Rausches ab, so bedarf es besonders eingehender Darlegung, weshalb ein solcher Zustand gleichwohl für gegeben erachtet wird. Da es hieran fehlt, muß die Schuldfähigkeit des Angeklagten - wegen der Schwierigkeit der Beurteilung tunlichst unter Hinzuziehung eines weiteren Sachverständigen - erneut geprüft werden.

III. Sollte der neue Tatrichter wiederum zu der Annahme eines pathologischen Rausches gelangen, so wird er bei dem Angeklagten, der sich bereits im Übergangsstadium von der psychischen zur physischen Alkoholabhängigkeit befindet, jedoch bislang keine Behandlungsbereitschaft gezeigt hat, unter Berücksichtigung der während seiner vorläufigen Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gewonnenen Erkenntnisse bei bestehender Wiederholungsgefahr die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu erwägen haben (vgl. BGHSt 7, 35; 10, 57; 34, 313; Hanack in LK 11. Aufl. § 63 Rdn. 63 ff, 72).

Externe Fundstellen: BGHSt 40, 198; NJW 1994, 2426; NStZ 1994, 480; StV 1994, 650

Bearbeiter: Rocco Beck