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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 136/94, Beschluss v. 21.04.1994, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 4 StR 136/94 - Beschluss vom 21. April 1994 (LG Saarbrücken)

BGHSt 40, 120; Recht auf den gesetzlichen Richter (willkürliche Zuständigkeitserklärung durch ein Gericht; Beachtung vom Rechtsmittelgericht von Amts wegen).

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 6 StPO; § 269 StPO; § 24 GVG; § 74 GVG

Leitsatz

Das Revisionsgericht hat gemäß § 6 StPO von Amts wegen und nicht nur auf eine entsprechende Verfahrensrüge zu beachten, dass das Landgericht sich an Stelle des Amtsgerichts (objektiv) willkürlich für sachlich zuständig erklärt und damit gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters verstoßen hat. (BGHSt)

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 25. Oktober mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens, an das Amtsgericht Ottweiler - Strafrichter - zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Diebstahls in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt.

Der frühere Verteidiger des Angeklagten hat gegen das Urteil "namens und in Vollmacht des Angeklagten" Revision eingelegt, diese "auf das Strafmaß beschränkt" und die Verletzung materiellen Rechts ohne nähere Ausführungen gerügt. Der nunmehr von dem Angeklagten gewählte Verteidiger hat unbeschränkt Revision eingelegt und bezüglich der durch den früheren Verteidiger erklärten Rechtsmittelbeschränkung "Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand" beantragt.

1. Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung des Urteils und zur Verweisung der Sache an das Amtsgericht - Strafrichter -, weil das Landgericht zu Unrecht (willkürlich) seine sachliche Zuständigkeit bejaht hat. Auf die Frage, ob die Revision wirksam auf den Strafausspruch beschränkt worden ist, kommt es daher nicht an; denn die fehlende sachliche Zuständigkeit ist als Prozeßhindernis auch bei einem teilrechtskräftigen Urteil zu beachten (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 41. Aufl. Einl. Rdn. 154). Einer Entscheidung über den gestellten Wiedereinsetzungsantrag bedarf es somit ebenfalls nicht.

2. Die Staatsanwaltschaft hat gegen den Angeklagten drei Anklagen zum Landgericht erhoben:

Am 13. April 1993 klagte sie ihn wegen eines Vergehens des Diebstahls an, weil er am 2. August 1992 ein Auto gewaltsam geöffnet und daraus einen Verstärker und zwei Lautsprecher im Gesamtwert von 300 DM sowie einen Führerschein entwendet habe; als Beweismittel bezeichnete sie die "geständige Einlassung des Angeschuldigten" (Az. 10 Js 33387/92).

Noch an demselben Tage erhob sie gegen den Angeklagten eine weitere Anklage zum Landgericht, in der sie ihm "Vergehen gemäß §§ 2, 21 StVG, 242 I, 243 I 2 Nr. 1, 53 StGB" vorwarf, weil er am 19. November 1992 ein Kraftfahrzeug ohne die dazu erforderliche Fahrerlaubnis geführt sowie einen Pkw gewaltsam geöffnet und aus diesem das Autoradio sowie einen grünen Parka entwendet habe; hier hatte sich der Angeklagte zum Tatvorwurf nicht eingelassen (Az. 10 Js 33079/93 c).

Zwei Tage später, am 15. April 1993, erhob die Staatsanwaltschaft gegen den Angeklagten die dritte Anklage zum Landgericht. Sie beschuldigte ihn eines Vergehens des Diebstahls, weil er am 11. März 1992 "in stark angetrunkenem Zustand" bei einem Pkw eine Scheibe eingeschlagen und aus dem Fahrzeug eine Mappe mit den Fahrzeugpapieren sowie eine Musikkassette entnommen habe; der Angeschuldigte habe die Tat gestanden (Az. 10 Js 33257/92).

Das Landgericht ließ die Anklagen in drei getrennten Beschlüssen (Az. - 3 - 12/93, 13/93 und 15/93) jeweils am 8. Juni 1993 zur Hauptverhandlung zu und verband die Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung. In der Hauptverhandlung wurde das Verfahren bezüglich des Vorwurfs des Fahrens ohne Fahrerlaubnis nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt. Wegen der übrigen Taten beantragte der Staatsanwalt eine Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten; diesem Antrag entsprach das Gericht.

3. Es ist offenkundig, daß das Landgericht für jede einzelne der erhobenen Anklagen sachlich unzuständig war. Daß für die jeweils angeklagten Taten eine Freiheitsstrafe von mehr als vier Jahren (§ 24 Abs. 1 Nr. 2 GVG) nicht in Betracht kommen konnte (hinsichtlich des Vergehens des vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis beträgt die gesetzliche Höchststrafe ohnehin nur ein Jahr), bedarf keiner näheren Ausführungen. Daran ändert es auch nichts, daß der Angeklagte erheblich und einschlägig vorbestraft ist. Eine besondere Bedeutung der einzelnen Fälle (§ 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG) ist ebenfalls ersichtlich nicht gegeben und wurde von der Staatsanwaltschaft in den Anklageschriften auch nicht behauptet.

Allerdings hatte die Staatsanwaltschaft in den Verfahren 10 Js 33079/93 c und 10 Js 33257/92 jeweils bereits in der Anklageschrift Verbindung mit dem Verfahren 10 Js 33387/92 und im Verfahren 10 Js 33387/92 Verbindung mit dem Verfahren 10 Js 33079/93 c beantragt. Warum sie die drei Verfahren nicht selbst verbunden und sogleich gemeinsam angeklagt hatte, bleibt dabei unverständlich; sachliche Gründe sind hierfür nicht erkennbar.

Auch für das verbundene Verfahren war das Landgericht offensichtlich unzuständig: Durch die Verbindung hatte die Sache keine besondere Bedeutung erlangt (§ 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG) und eine Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als vier Jahren lag außerhalb des Möglichen, wie bereits durch den Antrag der Staatsanwaltschaft und das diesem entsprechende Urteil des Gerichts augenfällig belegt wird. Eine Freiheitsstrafe von mehr als vier Jahren gegen einen zwar einschlägig vorbestraften, aber weithin geständigen Autoaufbrecher, der nur einen geringfügigen Schaden angerichtet hatte, liegt so weit außerhalb der zu erwartenden Strafe, daß weder die Staatsanwaltschaft bei Anklageerhebung noch das Gericht bei der Eröffnung des Hauptverfahrens hiermit auch nur im entferntesten hätten rechnen können. Damit fehlte es an der sachlichen Zuständigkeit des Landgerichts.

4. Die sachliche Zuständigkeit ist als Prozeßvoraussetzung nach § 6 StPO in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu beachten. Allerdings bestimmt § 269 StPO, daß sich ein Gericht nicht für unzuständig erklären dürfe, weil die Sache vor ein Gericht niederer Ordnung gehöre. Dies gilt aber dann nicht, wenn das höhere Gericht willkürlich gehandelt hat; denn damit verstößt es gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und entzieht damit den Angeklagten seinem gesetzlichen Richter (BGHSt 38, 172, 176; BGH NStZ 1992, 397; GA 1970, 25). So liegt es hier: Das Landgericht ist nicht etwa nur einem Irrtum erlegen, indem es seine Zuständigkeit bejahte. Als es sich in diesem Fall für zuständig erklärte, mißachtete es die aus § 24 GVG zu entnehmende gesetzliche Erwägung, Fälle der kleineren und mittleren Kriminalität den Amtsgerichten zuzuweisen. Diese Entscheidung des Gesetzgebers ist durch das am 1. März 1993 in Kraft getretene Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege (BGBl. 1993 I S. 50) noch verstärkt worden, durch das die Strafobergrenze in § 24 Abs. 1 Nr. 2 GVG von drei Jahren auf vier Jahre heraufgesetzt worden ist. Für die Annahme des Landgerichts, es sei hier zuständig, fehlte somit jeder sachliche Grund. Das Landgericht entfernte sich damit so weit von den gesetzlichen Maßstäben, daß seine Entscheidung unter keinem Gesichtspunkt mehr vertretbar war; damit handelte es (objektiv) willkürlich und entzog dadurch den Angeklagten seinem gesetzlichen Richter (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 41. Aufl. § 16 GVG mit zahlr. Nachw. aus der Rechtsprechung).

5. Der Angeklagte hat mit seiner Revision allerdings nicht gerügt, daß das Landgericht unzuständig und er willkürlich seinem gesetzlichen Richter entzogen worden sei. Diesen Rechtsverstoß hat der Senat aber von Amts wegen zu beachten.

Zwar hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in seinem Urteil vom 10. Januar 1969 - 5 StR 682/68 - (GA 1970, 25) erklärt, daß das Revisionsgericht die Entziehung des gesetzlichen Richters durch willkürliche Annahme der Zuständigkeit durch ein höheres Gericht nur auf eine entsprechende Verfahrensrüge beachten dürfe. Auch der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in seinem Urteil vom 8. Dezember 1992 - 1 StR 594/92 - (NJW 1993, 1607) gegen die Annahme eines von Amts wegen zu beachtenden Verfahrenshindernisses Bedenken geäußert. Der Senat teilt diese Auffassung nicht:

Der 5. Strafsenat hat sich zur Begründung seiner Ansicht lediglich auf die Entscheidung des 3. Strafsenats vom 24. März 1964 - 3 StR 60/63 - (BGHSt 19, 273) bezogen. Dieses Urteil betraf aber eine Verletzung des Brief- und Postgeheimnisses im Ermittlungsverfahren; hierzu führt der 3. Strafsenat dann allerdings allgemein aus (aaO S. 277), daß § 344 Abs. 2 StPO auch beachtet werden müsse, "wenn das Urteil wegen Verletzung einer Grundrechtsnorm über das Verfahren angegriffen wird". Er bemerkt sodann jedoch, daß etwas anderes gelten könnte, wenn die Verletzung des Brief- und Postgeheimnisses als ein Verfahrenshindernis von Amts wegen zu berücksichtigen wäre (aaO S. 278); gerade darum geht es hier aber.

Der 1. Strafsenat hat ausgeführt, es könne "schwerlich von einer wertenden Betrachtung, die bei Eröffnung des Hauptverfahrens anzustellen ist, abhängen, ob ein Verfahrenshindernis vorliegt oder nicht" (aaO S. 1608). Daß dies sehr wohl möglich ist, beweist der vorliegende Fall: Wenn bereits bei Eröffnung des Hauptverfahrens für jedermann erkennbar ist, daß eine Überschreitung des Strafrahmens des § 24 Abs. 1 Nr. 2 GVG auch nicht im entferntesten in Betracht kommen kann, läßt sich eine willkürliche Überschreitung der Zuständigkeit ohne weiteres feststellen.

Im übrigen weist der 1. Strafsenat nur noch auf § 269 StPO hin, ohne sich mit § 6 StPO auseinanderzusetzen. Wenn § 269 StPO aber gerade keine Geltung beanspruchen kann, weil ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vorliegt, muß wiederum die Regel des § 6 StPO Anwendung finden, wonach das Gericht die sachliche Zuständigkeit in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen hat. Das bedeutet, daß auch das Revisionsgericht diesen Mangel beachten muß, wenn die Vorschrift des § 269 StPO wegen willkürlicher Bejahung der Zuständigkeit nicht mehr zum Zuge kommen kann. Gerade im Gegensatz zum Fehlen der örtlichen Zuständigkeit, was die Revision mit Rücksicht auf § 16 StPO nur auf eine entsprechende Rüge hin begründen kann, ist die sachliche Zuständigkeit auch in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu beachten; § 338 Nr. 4 StPO hat daher für die sachliche Zuständigkeit keine Bedeutung (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 41. Aufl. § 338 Rdn. 32). Anders ausgedrückt: Das Fehlen der sachlichen Zuständigkeit ist unschädlich, wenn § 269 StPO eingreift. Ist diese Vorschrift aber nicht anwendbar, so bleibt es bei § 6 StPO mit der Folge, daß ein von Amts wegen zu beachtendes Verfahrenshindernis vorliegt, das zwar - im Gegensatz zu anderen Prozeßhindernissen - nicht zur Einstellung des Verfahrens, aber gemäß § 355 StPO zur Verweisung der Sache an das zuständige Gericht führt. Das ist hier der Strafrichter (§ 25 Nr. 2 GVG) beim (örtlich zuständigen) Amtsgericht Ottweiler.

6. Einer Vorlage der Sache an den Großen Senat für Strafsachen nach § 132 Abs. 2, 3 GVG bedarf es nicht: Das Urteil des 5. Strafsenats beruht nicht auf der hier abgelehnten Rechtsansicht, weil dort eine ordnungsgemäße Verfahrensrüge erhoben worden war und der Senat zudem ein willkürliches Vorgehen des Landgerichts verneint hat (insoweit in GA 1970, 25 nicht abgedruckt). Der 1. Strafsenat hat ausdrücklich erklärt, daß er zu der Frage nicht abschließend Stellung zu nehmen brauche; auch in dem von ihm entschiedenen Fall konnte außerdem ein willkürliches Handeln des Landgerichts nicht festgestellt werden.

Externe Fundstellen: BGHSt 40, 120; NJW 1994, 2369; NStZ 1994, 399; StV 1994, 414

Bearbeiter: Rocco Beck