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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 199/92, Urteil v. 29.10.1992, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 4 StR 199/92 - Urteil vom 29. Oktober 1992 (LG Essen)

BGHSt 38, 376; nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts; Unanwendbarkeit des Geschäftsverteilungsplans, wenn das Gericht von Anfang sachlich unzuständig ist (Verbindung; Zuständigkeit).

§ 338 Nr. 1 StPO; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 237 StPO

Leitsatz

Die Bestimmung im Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts, eine Strafkammer bleibe auch im Fall des Ausscheidens des ihre Zuständigkeit (allein) begründenden Angeklagten für die anderen Angeklagten zuständig, ist unanwendbar, wenn das Landgericht zur Verhandlung gegen den ausgeschiedenen Angeklagten von Anfang an sachlich unzuständig war. Verhandelt die Strafkammer gleichwohl gegen den anderen Angeklagten, so ist der Revisionsgrund des § 338 Nr. 1 StPO gegeben. (BGHSt)

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 13. August 1991 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an die für den Angeklagten zuständige Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betruges zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren sowie zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 500 DM verurteilt. Der Angeklagte beanstandet mit seiner Revision das Verfahren und rügt die Verletzung sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensbeschwerde Erfolg.

1. Am 5. Oktober 1989 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage zur Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Essen (dort eingegangen am 3. November 1989) gegen Francesco L., Karl Heinz G. und Kurt Heinz K.. Hierin legte sie L. einen gemeinsam mit dem anderweitig verfolgten Nunzio C. begangenen (fortgesetzten) "Stoßbetrug" mit einem Gesamtschaden von über 1,3 Millionen DM zur Last; G. und K. warf sie die Unterschlagung dreier Gabelstapler im Gesamtwert von 158.000 DM vor. Die Staatsanwaltschaft führte im Anklagesatz aus, daß diese Gabelstapler von L. und C. im Rahmen ihres betrügerischen Handelns beschafft worden seien, es diesen jedoch nicht mehr gelungen sei, die Gabelstapler zu verkaufen, bevor C. seine Geschäftstätigkeit eingestellt habe und Anfang 1989 ins Ausland geflüchtet sei. Weiter legte die Staatsanwaltschaft dar, daß der in C. Unternehmen, der Firma "F.S.", angestellte G. Ende 1988 bemerkt habe, daß der Betrieb aufgelöst werde. Möglicherweise ohne von dem betrügerischen Handeln des L. zu wissen, hätten er und K., der gelegentlich für die Firma "F.S." als Fahrer tätig gewesen sei, ebenfalls Anfang 1989 die Gabelstapler vom Gelände der Firma an einen anderen Ort gebracht, um sie auf eigene Rechnung zu verkaufen. Bevor dies gelungen sei, seien beide festgenommen worden.

2. Nach dem Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts Essen für das Jahr 1989 bestimmt sich die zuständige Wirtschaftsstrafkammer bei mehreren Angeklagten nach dem Anfangsbuchstaben des Familiennamens des ältesten Angeklagten. Ferner ist dort geregelt, daß die einmal begründete Zuständigkeit erhalten bleibt, wenn dieser Angeklagte "später aus irgendeinem Grund aus dem Verfahren ausscheidet" (Nr. IV. 3. des Geschäftsverteilungsplanes).

Der älteste Angeklagte war der Angeklagte G.. Für den Anfangsbuchstaben "G" war die XI. Strafkammer als Wirtschaftsstrafkammer zuständig; für "L", also den Angeklagten L., wäre hingegen die I. Strafkammer als Wirtschaftsstrafkammer zuständig gewesen. Die Strafsache wurde dem Vorsitzenden der XI. Strafkammer vorgelegt; die XI. Strafkammer trennte am 6. Februar 1990 das Verfahren gegen G. und K. gemäß § 2 Abs. 2 StPO vom Verfahren gegen L. ab und eröffnete das Hauptverfahren vor dem Amtsgericht - Schöffengericht - Bottrop. Die Staatsanwaltschaft legte hiergegen kein Rechtsmittel ein. Mit Beschluß vom 5. Februar 1991 ließ die XI. Strafkammer die Anklage gegen L. zur Hauptverhandlung zu, führte diese durch und verkündete das angefochtene Urteil.

3. Nach dem Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts hätte die für "L" und nicht die für "G" zuständige Wirtschaftsstrafkammer entscheiden müssen.

a) Zutreffend ist allerdings, daß gemäß Nr. IV. 3. des Geschäftsverteilungsplans unter den Wirtschaftsstrafkammern des Landgerichts bei Eingang der Sache zunächst die XI. Wirtschaftsstrafkammer für das Verfahren gegen die drei Angeklagten L., G. und K. zuständig war. Nach dem Wortlaut dieser Regelung blieb die geschäftsplanmäßige Zuständigkeit der XI. Wirtschaftsstrafkammer für das Verfahren gegen den Angeklagten L. auch erhalten, als die Angeklagten G. und K., die diese Zuständigkeit erst begründeten, infolge der Abtrennung des Verfahrens gegen sie ausschieden.

b) Der Geschäftsverteilungsplan kann aber nicht die gesetzliche Regelung der sachlichen Zuständigkeit abändern (vgl. auch Mayr in KK-StPO 2. Aufl. § 74 c GVG Rdn. 2). Dementsprechend darf die genannte Bestimmung des Geschäftsverteilungsplans nicht angewandt werden, wenn das Landgericht zur Verhandlung gegen die ausgeschiedenen Angeklagten von Anfang an sachlich unzuständig war.

c) Das Landgericht war hier für das Verfahren gegen die Angeklagten G. und K. sachlich nicht zuständig.

aa) Bei einer Anklage allein gegen die Angeklagten G. und K. wäre die Zuständigkeit des Landgerichts nach § 74 GVG für dieses Verfahren nicht gegeben gewesen. Es lag kein Verbrechen vor (§ 74 Abs. 1 Satz 1 GVG). Auch war wegen der vor dem Verkauf erfolgten Sicherstellung der Geräte und der zumindest teilweisen Geständnisse der beiden Angeklagten - trotz ihrer Vorstrafen und trotz des hohen Wertes der Gabelstapler- eine höhere Freiheitsstrafe als drei Jahre nicht zu erwarten. Eine besondere Bedeutung des Falles war weder gegeben noch wurde sie von der Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift behauptet (§ 74 Abs. 1 Satz 2 GVG).

bb) Auch die Verbindung der Anklagen gegen L. einerseits und G. und K. andererseits vermochte hinsichtlich dieser beiden später ausgeschiedenen Angeklagten eine Zuständigkeit des Landgerichts nicht zu begründen.

Entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts konnte die Staatsanwaltschaft die Verfahren nicht entsprechend § 237 StPO miteinander verbinden. Die Verbindung nach dieser Bestimmung setzt beim Gericht anhängige Strafsachen voraus und kann nur von diesem vorgenommen werden (vgl. BGHSt 20, 219, 220 f; Rosenmeier, Die Verbindung von Strafsachen im Erwachsenenstrafrecht, 1973, S. 31). Im übrigen vermag eine Verbindung nach § 237 StPO nicht eine neue Zuständigkeit zu begründen (BGHSt 37, 15, 19); ob diese Vorschrift erfordert, daß der Spruchkörper vor der Verbindung nur für eines der Verfahren (so BGHSt 26, 271, 273/274) oder aber für beide Verfahren (so Kleinknecht/Meyer StPO 40. Aufl. § 237 Rdn. 3) zuständig war, kann hier dahingestellt bleiben.

Zwischen den Strafsachen bestand auch kein sachlicher Zusammenhang im Sinne des § 3 StPO. Sie durften deshalb nicht von der Staatsanwaltschaft verbunden bei Gericht anhängig gemacht werden (§ 2 Abs. 1 Satz 1 StPO).

Der Begriff des Zusammenhangs in § 3 StPO ist zwar nicht auf die Teilnahme im Sinne des materiellen Strafrechts beschränkt. Es genügt vielmehr eine strafbare, in dieselbe Richtung zielende Mitwirkung an einer Tat (BGH NJW 1988, 150). Dabei entspricht der in dieser Vorschrift verwendete Tatbegriff dem des § 264 Abs. 1 StPO (vgl. BT-Drucks. 7/550 S. 289; Kleinknecht/Meyer aaO § 3 Rdn. 3 m.w.N.).

Die Handlungen von L. sowie G. und K. stellten keinen einheitlichen Lebensvorgang dar. Nach dem im Anklagesatz geschilderten und so auch weitgehend verwirklichten Tatplan L. sollten die Waren - auch die Gabelstapler - weiterverkauft werden, ohne deren Lieferanten zu bezahlen; die hierbei erzielten Erlöse sollten zwischen ihm und C. aufgeteilt werden. Dieses Vorhaben konnte jedoch hinsichtlich der Gabelstapler infolge der fehlgeschlagenen Verkaufsbemühungen C. bis zu dessen Flucht nicht mehr verwirklicht werden. Der Lebensvorgang, der G. und K. mit dem als Unterschlagung gewerteten Ansichbringen und Weiterverkauf der Gabelstapler zur Last gelegt wurde, grenzte sich von diesem Verhalten L. s bereits nach Ort, Zeit und Tatumständen derart ab, daß bei natürlicher Betrachtungsweise kein einheitlicher geschichtlicher Vorgang gegeben war (vgl. BGHSt 35, 60, 64; 35, 86, 88). Es lagen damit nicht nur sachlich-rechtlich, sondern auch prozessual selbständige Taten vor. Zudem war nach dem Anklagesatz G. und K. das betrügerische Handeln des L. möglicherweise nicht bekannt. Es fehlte mithin auch an einer in die gleiche Richtung zielenden Mitwirkung dieser beiden an der Tat L. und an der sicheren Feststellung der inneren Verknüpfung dieser Vorgänge.

4. Bei Abweichungen vom Geschäftsverteilungsplan findet § 338 Nr. 1 StPO nur Anwendung, wenn objektiv Willkür oder sonstiger Rechtsmißbrauch vorliegt (Kleinknecht/Meyer aaO § 338 Rdn. 7 m.w.N.). Auch diese Voraussetzung ist hier gegeben. Die XI. Strafkammer hatte ihre Unzuständigkeit für das Verfahren gegen die Angeklagten G. und K. zutreffend erkannt und daher - ohne daß etwa weitere Ermittlungen nach § 202 StPO angeordnet worden wären - dieses sogleich abgetrennt und vor dem Schöffengericht eröffnet. Sie hätte aber sodann das Verfahren gegen L. in rechtlich gebotener Auslegung und Anwendung des Geschäftsverteilungsplans an die für den Buchstaben "L" zuständige Wirtschaftsstrafkammer abgeben müssen. Indem sie dies nicht tat, handelte sie objektiv willkürlich (vgl. BGHSt 38, 172; BGH NStZ 1992, 397; Pikart in KK-StPO 2. Aufl. § 338 Rdn. 22).

5. Der Verfahrensverstoß muß zur Aufhebung des Urteils und entsprechend § 355 StPO zur Verweisung der Sache an die für den Angeklagten zuständige Wirtschaftsstrafkammer führen.

Externe Fundstellen: BGHSt 38, 376; NJW 1993, 672; NStZ 1993, 248; StV 1993, 61

Bearbeiter: Rocco Beck