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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 313

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 216/22, Beschluss v. 17.01.2023, HRRS 2023 Nr. 313


BGH 4 StR 216/22 - Beschluss vom 17. Januar 2023 (LG Münster bei dem Amtsgericht Bocholt)

Schwerer sexuelle Missbrauch von Kindern (sexuelle Handlungen vor einem Kind); Strafzumessung (Doppelverwertungsverbot); verminderte Schuldfähigkeit.

§ 176a StGB; 176 StGB; § 46 Abs. 3 StGB; § 21 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Die Strafbarkeit von sexuellen Handlungen „vor“ einem Kind gemäß § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB aF ist nach § 184h Nr. 2 StGB auf solche Handlungen beschränkt, die von dem Kind wahrgenommen werden. Darüber hinaus ist es erforderlich, dass der Täter das Kind in der Weise in das sexuelle Geschehen einbezieht, dass für ihn gerade die Wahrnehmung der sexuellen Handlung durch das Tatopfer von handlungsleitender Bedeutung ist, es ihm hierauf also ankommt.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil der Jugendkammer ‒ Jugendschutzkammer ‒ des Landgerichts Münster bei dem Amtsgericht Bocholt vom 15. Februar 2022

a) im Schuldspruch im Fall II. 2. e) der Urteilsgründe dahin geändert, dass die Angeklagte des sexuellen Missbrauchs von Kindern schuldig ist;

b) mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben

aa) in den Fällen II. 2. a), b) und c) der Urteilsgründe sowie

bb) im gesamten Strafausspruch.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in kinderpornographischer Absicht in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich die Angeklagte mit ihrer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel erzielt den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

1. Die Verurteilung wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in kinderpornographischer Absicht gemäß § 176a Abs. 3, § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB idF vom 27. Januar 2015 in den Fällen II. 2. a), b) und c) der Urteilsgründe kann nicht bestehen bleiben, weil die Urteilsgründe nicht ergeben, dass die Angeklagte sexuelle Handlungen „vor“ einem Kind im Sinne von § 184h Nr. 2 StGB vorgenommen hat.

a) Die Strafbarkeit von sexuellen Handlungen „vor“ einem Kind gemäß § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB aF ist nach § 184h Nr. 2 StGB auf solche Handlungen beschränkt, die von dem Kind wahrgenommen werden. Darüber hinaus ist es erforderlich, dass der Täter das Kind in der Weise in das sexuelle Geschehen einbezieht, dass für ihn gerade die Wahrnehmung der sexuellen Handlung durch das Tatopfer von handlungsleitender Bedeutung ist, es ihm hierauf also ankommt (vgl. BGH, Urteil vom 9. Dezember 2015 - 2 StR 261/15 Rn. 5; Beschluss vom 21. Oktober 2014 - 1 StR 79/14, BGHSt 60, 44 Rn. 19; Urteil vom 12. Mai 2011 - 4 StR 699/10 Rn. 4; Urteil vom 14. Dezember 2004 - 4 StR 255/04, BGHSt 49, 376, 378 ff.; offen BGH, Beschluss vom 18. Dezember 2018 - 3 StR 427/18 Rn. 5 f.; Beschluss vom 13. November 2012 - 3 StR 370/12 Rn. 4).

b) Von diesen Maßgaben ist das Landgericht im Rahmen seiner rechtlichen Würdigung zwar ausgegangen (UA 21), hat aber in den Fällen II. 2. a), b) und c) der Urteilsgründe keine entsprechenden konkreten Tatsachen festgestellt. Nach den insoweit unter Ziffer II. der Urteilsgründe getroffenen Feststellungen duschte die Angeklagte am 11. Januar 2017 zusammen mit ihrer sechsjährigen Tochter. „In Gegenwart des Kindes“ führte sie sich einen Massagestab in ihre Vagina ein und „manipulierte daran“ (Fall 2. a)). Am 4. Februar 2017 badeten die beiden Kinder der Angeklagten. Mit entblößtem Genitalbereich begab sich die Angeklagte vor die Badewanne und befriedigte sich selbst, indem sie einen Massagestab in ihre Vagina einführte (Fall 2. b)). Letzteres tat sie ebenfalls am 17. Februar 2017 beim gemeinsamen Duschen mit ihrem knapp fünfjährigen Sohn (Fall 2. c)). Von dem Geschehen fertigte die Angeklagte jeweils Videoaufnahmen, die sie ‒ wie von vornherein beabsichtigt ‒ per WhatsApp an ihren gesondert verfolgten Sexualpartner versandte, der eine dominante Rolle („Dom“) ihr als „Sub“ gegenüber innehatte.

c) Diese Feststellungen tragen den Schuldspruch nicht. Denn aus ihnen ergibt sich weder eine Wahrnehmung der sexuellen Handlungen durch die Kinder noch die handlungsleitende Bedeutung einer solchen Wahrnehmung für die Angeklagte.

Auch der Gesamtheit der Urteilsgründe ist hierzu nichts zu entnehmen. Die in der Beweiswürdigung mitgeteilten Angaben eines Kriminalbeamten zum Inhalt der Videoaufnahmen sprechen eher dagegen. So wirkte im Fall 2. a) die seitlich hinter der Angeklagten stehende Tochter während der sexuellen Handlungen „offensichtlich abgelenkt und mit dem Duschen beschäftigt“. Im Fall 2. b) saßen die Kinder in der Badewanne und spielten im Wasser, während ihnen die Angeklagte beim Einführen des Massagestabs den Rücken zuwandte. Im Fall 2. c) stand der Sohn der Angeklagten seitlich hinter seiner Mutter und beobachtete nur „anfänglich das Geschehen“ (UA 17). Ob hiervon die sexuellen Handlungen erfasst sind, bleibt unklar. Für die verfahrensgegenständlichen Taten ohne Aussagekraft ist zudem die Einlassung der Angeklagten, wonach die Kinder „auch immer mehr bei ihr mitbekommen“ hätten (UA 13).

Ebenso wenig versteht sich mit Blick auf die jeweiligen Körperpositionen von selbst, dass es der Angeklagten auf eine Wahrnehmung ihrer sexuellen Handlungen durch die Kinder angekommen wäre und sie daher - was für einen Schuldspruch nach § 176a Abs. 3 StGB aF aufgrund der Inbezugnahme von § 176 Abs. 6 StGB aF bereits genügen würde (vgl. Renzikowski in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 176a Rn. 32; Eschelbach in Matt/Renzikowski, StGB, 2. Aufl., § 176a Rn. 25) - zumindest versucht hätte, vor ihren Kindern sexuelle Handlungen vorzunehmen, die Gegenstand einer zu verbreitenden kinderpornographischen Schrift sein sollten. Beweiswürdigende Erwägungen hierzu enthält das Urteil nicht. Dass die Angeklagte ihre Kinder in das sexuelle Geschehen einzubeziehen gedachte, folgt auch nicht schon aus ihrem festgestellten Bestreben (UA 6), den Bitten ihres Sexualpartners nachzukommen, ihr zusehen zu können, wie sie sich unter der Dusche in Gegenwart der Kinder selbst befriedige.

d) Der Senat kann insbesondere angesichts der vorhandenen Videoaufnahmen nicht ausschließen, dass ein neues Tatgericht noch Feststellungen wird treffen können, die eine Verurteilung der Angeklagten tragen.

2. Der Schuldspruch im Fall II. 2. e) der Urteilsgründe ist ebenfalls rechtsfehlerhaft. Insoweit hat das Landgericht festgestellt, dass die Angeklagte am 15. April 2017 bei einem gemeinsamen Bad mit ihrer Tochter erklärte, sie könne sich als Frau schöne Gefühle machen, und sich einen Finger vaginal einführte.

Damit hat die Angeklagte unter Einbeziehung des ihre sexuelle Handlung wahrnehmenden Kindes eine Tat gemäß § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB aF begangen. Die für den ergangenen Schuldspruch nach § 176a Abs. 3 StGB aF erforderliche Absicht, diese Tat zum Gegenstand einer kinderpornographischen Schrift zu machen, ist den Urteilsgründen jedoch nicht zu entnehmen. Die von der Angeklagten „in der Folgezeit“ gefertigten und versandten Fotografien betrafen keine sexuellen Handlungen vor dem Kind.

Der Senat folgt - auch im Blick auf die von der Strafkammer vorgenommene, mit dem ergangenen Schuldspruch korrespondierende Verfahrensbeschränkung gemäß § 154a StPO - dem Antrag des Generalbundesanwalts, den Schuldspruch in diesem Fall dahin zu ändern, dass die Angeklagte des sexuellen Missbrauchs eines Kindes gemäß § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB aF schuldig ist. Dem steht § 265 StPO nicht entgegen, denn es ist auszuschließen, dass sich die geständige Angeklagte anders als geschehen hätte verteidigen können.

3. a) Die Aufhebung des angefochtenen Urteils in den Fällen II. 2. a), b) und c) sowie die Schuldspruchänderung im Fall II. 2. e) der Urteilsgründe führen zum Wegfall der jeweiligen Einzelstrafen. Dies entzieht der Gesamtstrafe die Grundlage.

b) Darüber hinaus weist die Strafzumessung einen Rechtsfehler auf, der zur Aufhebung des gesamten Strafausspruchs führt. Die Strafkammer hat bei der Zumessung aller Einzelstrafen straferschwerend berücksichtigt, dass die Angeklagte „bei der Ausführung der Taten bewusst ihre eigenen Interessen, nämlich die Aufrechterhaltung und Förderung ihrer Beziehung […], über das Interesse ihrer Kinder gestellt“ und „diese zum Objekt im Rahmen der Auslebung ihrer masochistischen Neigungen gemacht“ habe. Mit diesen Erwägungen hat die Strafkammer der Angeklagten der Sache nach die Begehung der Taten angelastet und damit gegen das Doppelverwertungsverbot gemäß § 46 Abs. 3 StGB verstoßen (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Januar 2014 - 3 StR 318/13 Rn. 5; Beschluss vom 14. Dezember 2004 - 4 StR 237/04 Rn. 11).

4. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

Das neue Tatgericht hat aufgrund der Aufhebung des Strafausspruchs mit den zugehörigen Feststellungen auch die Voraussetzungen und die Anwendbarkeit des § 21 StGB ‒ ohne jede Bindung an das insoweit nicht mehr existente erste Urteil ‒ zu prüfen (vgl. BGH, Beschluss vom 9. November 2022 - 4 StR 383/22 Rn. 5; Beschluss vom 19. Mai 2020 - 4 StR 610/19 Rn. 6; jew. mwN). Im Falle der erneuten Annahme eines Eingangsmerkmals aufgrund einer Sexualpräferenzstörung (vgl. hierzu Kaspar in SSW-StGB, 5. Aufl., § 20 Rn. 74 ff. mwN) wird es dabei zu bedenken haben, dass die - aus einem Bemühen, die Anfertigung der Videos zu verbergen, abgeleitete - Erkenntnis der Angeklagten, die vorgenommenen sexuellen Handlungen seien falsch, entgegen den Ausführungen im angefochtenen Urteil (UA 19) als solche nur ihre Unrechtseinsicht, nicht aber ihre Steuerungsfähigkeit belegen könnte.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 313

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede