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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 511

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 181/21, Beschluss v. 30.03.2022, HRRS 2022 Nr. 511


BGH 4 StR 181/21 - Beschluss vom 30. März 2022 (Pfälzisches OLG Zweibrücken)

Vorlage eines Oberlandesgerichts bei dem Bundesgerichtshof (entgegenstehende rechtliche Divergenz: nicht mehr vertretbares Verständnis der Entscheidung des OLG).

§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG; § 121 Abs. 2 GVG

Entscheidungstenor

Die Sache wird an das Pfälzische Oberlandesgericht Zweibrücken zurückgegeben.

Gründe

I.

Gegen die Betroffene erging am 6. Juli 2020 durch die Zentrale Bußgeldstelle des Polizeipräsidiums Rheinpfalz ein Bußgeldbescheid wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 35 km/h, gegen den die Betroffene form- und fristgerecht Einspruch einlegte. Zur Überprüfung der Verlässlichkeit der dem Ordnungswidrigkeitenvorwurf zugrundeliegenden Geschwindigkeitsmessung beantragte die Betroffene durch ihren Verteidiger sowohl gegenüber der Verwaltungsbehörde als auch dem Amtsgericht die Einsicht in verschiedene Unterlagen sowie die Übermittlung näher bezeichneter Daten, insbesondere der unverschlüsselten Rohmessdaten der gesamten Messserie. Diese Einsichts- und Übermittlungsersuchen blieben jeweils ohne Erfolg.

Das Amtsgericht Kaiserlautern hat die Betroffene mit Urteil vom 25. Januar 2021 wegen fahrlässiger Überschreitung der erlaubten Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 35 km/h zu der Geldbuße von 120 € verurteilt. Nach den amtsgerichtlichen Feststellungen überschritt die Betroffene bei der Fahrt mit einem Pkw die an der Messstelle durch Verkehrszeichen auf 70 km/h beschränkte Höchstgeschwindigkeit unter Berücksichtigung der Messtoleranz um 35 km/h, wobei die gefahrene Geschwindigkeit mit einem Messgerät ES 3.0 der Firma E. ermittelt wurde.

Gegen dieses Urteil hat die Betroffene form- und fristgerecht „Rechtsbeschwerde“ eingelegt und das Rechtsmittel mit einer Verfahrensbeanstandung und der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründet. Mit der Verfahrensrüge beanstandet sie unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung des fairen Verfahrens die unterbliebene Übermittlung der Rohmessdaten aus der gesamten mit dem Messgerät vorgenommenen Messreihe.

Das Pfälzische Oberlandesgericht Zweibrücken hat das Rechtsmittel der Betroffenen als Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gemäß § 80 Abs. 1 OWiG behandelt und die Rechtsbeschwerde zugelassen.

II.

In der Sache möchte das Pfälzische Oberlandesgericht Zweibrücken die Rechtsbeschwerde nach § 79 Abs. 5 OWiG verwerfen. Die ordnungsgemäß erhobene Verfahrensbeschwerde hält es für unbegründet, weil aufgrund vorliegender Erkenntnisse der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt sicher auszuschließen sei, dass sich aus den Rohmessdaten der gesamten Messreihe Anhaltspunkte für die Beurteilung der Verlässlichkeit der die Betroffene belastenden Einzelmessung ergeben könnten. An der beabsichtigten Verwerfung der Rechtsbeschwerde sieht sich das Pfälzische Oberlandesgericht Zweibrücken durch die Entscheidung des Thüringer Oberlandesgerichts vom 17. März 2021 (VRS 140, 33) gehindert. Das Pfälzische Oberlandesgericht Zweibrücken versteht diese Entscheidung dahin, dass es nach Ansicht des Thüringer Oberlandesgerichts den Bußgeldgerichten aus Rechtsgründen verwehrt sei, die vom Betroffenen im Rahmen eines Auskunftsersuchens geltend gemachte Relevanz der begehrten Informationen für die Verteidigung des Betroffenen einer gerichtlichen Überprüfung zu unterziehen. Es hat daher mit Beschluss vom 4. Mai 2021 (DAR 2021, 399) die Sache gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG in Verbindung mit § 121 Abs. 2 GVG dem Bundesgerichtshof zur Beantwortung folgender Rechtsfrage vorgelegt:

Liegt in der Verweigerung der Einsichtnahme in dritte Verkehrsteilnehmer betreffende Daten („gesamte Messreihe“) auch dann ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens, wenn eine Relevanz der betreffenden Daten für die Beurteilung der Zuverlässigkeit des verfahrensgegenständlichen Messvorgangs und damit für die Verteidigung des Betroffenen nicht erkennbar ist? Der Generalbundesanwalt hält die Vorlage für unzulässig und beantragt, die Sache an das Pfälzische Oberlandesgericht Zweibrücken zurückzugeben.

III.

Die Sache ist an das Pfälzische Oberlandesgericht Zweibrücken zurückzugeben, da die Vorlegungsvoraussetzungen des § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG in Verbindung mit § 121 Abs. 2 GVG nicht vorliegen. Die Annahme einer in rechtlicher Hinsicht bestehenden Divergenz durch das vorlegende Oberlandesgericht beruht auf einem nicht mehr vertretbaren Verständnis der Entscheidung des Thüringer Oberlandesgerichts vom 17. März 2021 und ist daher für den Bundesgerichtshof im Vorlegungsverfahren nicht bindend (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Dezember 1999 ? 5 AR (VS) 2/99, NStZ 2000, 222; vgl. Quentin in Satzger/ Schluckebier/Widmaier, StPO, 4. Aufl., § 121 GVG Rn. 21; Feilcke in KK-StPO, 8. Aufl., § 121 GVG Rn. 43 f. jeweils mwN).

1. Das aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgebot des Art. 20 Abs. 3 GG resultierende Recht auf ein faires Verfahren gewährleistet nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, NJW 2021, 455) dem Betroffenen im Bußgeldverfahren einen Anspruch auf Zugang zu solchen Informationen, die im Verfahren zum Zweck der Ermittlung angefallen, aber nicht Bestandteil der Bußgeldakte geworden sind, weil deren Beiziehung unter Aufklärungsgesichtspunkten nicht geboten erscheint. Da der Informationszugang des Betroffenen gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten einer sachgerechten Eingrenzung bedarf, setzt der Zugangsanspruch in sachlicher Hinsicht voraus, dass die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen aus der maßgeblichen Perspektive des Betroffenen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen. Dabei ist entscheidend, ob der Betroffene eine Information verständiger Weise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf (vgl. BVerfG aaO, Rn. 57). Bei entsprechenden Zugangsersuchen obliegt es den Bußgeldbehörden und den Gerichten, im Einzelfall zu entscheiden, ob sich das Gesuch innerhalb des durch diese Voraussetzungen gesetzten Rahmens hält (vgl. BVerfG aaO, Rn. 58).

2. Das Pfälzische Oberlandesgericht Zweibrücken ist durch die Entscheidung des Thüringer Oberlandesgerichts vom 17. März 2021 nicht gehindert, das Vorbringen der Betroffenen im Rahmen ihres Auskunftsverlangens einer gerichtlichen Prüfung zu unterziehen. Denn der Entscheidung des Thüringer Oberlandesgerichts ist entgegen der Auffassung des vorlegenden Oberlandesgerichts gerade nicht zu entnehmen, dass jedwedem Informationsverlangen eines Betroffenen ohne gerichtliche Prüfung seiner Berechtigung nachzukommen ist. Das Thüringer Oberlandesgericht knüpft vielmehr ausdrücklich an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an, wonach der Anspruch des Betroffenen auf Informationszugang sachlich unter anderem davon abhängig ist, dass den begehrten Informationen durch den Betroffenen verständiger Weise Relevanz für seine Verteidigung beigemessen werden kann und es Aufgabe der mit den Verfahren befassten Bußgeldgerichte ist, im Einzelfall zu beurteilen, ob das Gesuch diesen Anforderungen entspricht. Anschließend nimmt es selbst eine sachliche Prüfung der maßgeblich aus der Perspektive des Betroffenen zu beurteilenden Relevanz der begehrten Messdaten für die Bewertung der Verlässlichkeit der den Betroffenen belastenden Geschwindigkeitsmessung vor und gelangt zu dem Ergebnis, dass den Daten aus der am Tattag an der Messstelle durchgeführten Messreihe eine potentielle Beweiserheblichkeit nicht abgesprochen werden kann. Soweit das Thüringer Oberlandesgericht sodann abschließend im Einklang mit dem Bundesverfassungsgericht die alleinige Maßgeblichkeit der Einschätzung des Betroffenen für die Verteidigungsrelevanz einer begehrten Information betont, dienen diese Ausführungen ersichtlich dazu, klarzustellen, dass sich die Reichweite des Informationsanspruchs des Betroffenen einerseits und der dem Gericht obliegenden Amtsaufklärungspflicht andererseits nach verschiedenen Maßstäben beurteilt.

3. Eine der beabsichtigten Entscheidung entgegenstehende rechtliche Divergenz ergibt sich auch nicht aus der erst nach dem Vorlegungsbeschluss ergangenen Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 3. August 2021 (VRS 140, 319). Denn auch das Oberlandesgericht Stuttgart nimmt hinsichtlich der vom Betroffenen begehrten Informationen über die Daten der gesamten Messreihe eine eigene Bewertung von deren Verteidigungsrelevanz vor und bejaht eine potentielle Beweisbedeutung.

4. Soweit das Pfälzische Oberlandesgericht Zweibrücken einerseits und das Thüringer Oberlandesgericht sowie das Oberlandesgericht Stuttgart andererseits schließlich die potentielle Beweisbedeutung der im Rahmen der Geschwindigkeitsmessung insgesamt angefallenen Messdaten für die Beurteilung der Verlässlichkeit der den Betroffenen belastenden Einzelmessung unterschiedlich beurteilen, betrifft dies eine tatsächliche Frage, die weder einen allgemeinen Erfahrungssatz noch allgemein als gesichert anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisse zum Gegenstand hat (vgl. Quentin, aaO, § 121 GVG Rn. 16 mwN) und damit als Tatfrage einer Vorlegung nach § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG in Verbindung mit § 121 Abs. 2 GVG nicht zugänglich ist. Insoweit hat das Pfälzische Oberlandesgericht Zweibrücken eine Vorlage auch nicht

beschlossen

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 511

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß